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Walter Rauscher: Die fragile Großmacht. Die Donaumonarchie und die europäische Staatenwelt 1866-1914, Teil 1 und 2, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2014
Mitchell G. Ash / Jan Surman (eds.): The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848-1918, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012
Robert Luft: Parlamentarische Führungsgruppen und politische Strukturen in der tschechischen Gesellschaft. Tschechische Abgeordnete und Parteien des österreichischen Reichsrats 1907-1914, München: Oldenbourg 2012
Michael Pammer: Entwicklung und Ungleichheit. Österreich im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002
Andreas Gottsmann: Rom und die nationalen Katholizismen in der Donaumonarchie. Römischer Universalismus, habsburgische Reichspolitik und nationale Identitäten 1878-1914, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2010
Ralf Zerback: Robert Blum. Eine Biografie, Leipzig: Mark Lehmstedt 2007
Dieter Langewiesche: Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2020
Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn, München: DVA 2023
Nationale Geschichtsschreibung als große Meistererzählung vom Typ "Der lange Weg nach Westen" ist obsolet geworden, denn das teleologisch, vom Ende her konstruierende Erkenntnisinteresse trübt den Blick für historische Komplexität und Interferenzen. Die Darstellung, auf welche hier angespielt wird [1], ist nur das Ende eines Konzepts der europäischen Geschichte, das im "Handbuch der europäischen Geschichte" ehedem seine paradigmatische Basis gefunden hatte, eben durch seine Qualität als Hand- und Lehrbuch. Der 1981 von Walter Bußmann herausgegebene fünfte Band beschreibt für die Epoche zwischen Französischer Revolution und Reichseinigung die "Geschichte der europäischen Staaten". [2] Nimmt man heute im Wissen um die derzeitigen Forschungsbemühungen zur europäischen Geschichte diesen Band zur Hand, reibt man sich verwundert die Augen, denn die Habsburgermonarchie kommt darin als politisches Gehäuse eines staatlich verfassten Reiches nicht vor. Für die deutsche Geschichte weist der Blick dieses Werks zielgerichtet vom alten Heiligen Römischen Reich über den Deutschen Bund in das Bismarckreich. Dabei ist es nicht so, dass generell nur Nationalitäten auf dem Wege in die Staatsnation ohne Augenmerk für die gleichzeitig existierenden supranationalen Imperien berücksichtigt würden: Das British Empire, das Zarenreich und selbst das Osmanische Reich tauchen in dem Konzept des Bandes auf, nicht aber - es sei expressis verbis wiederholt - die in der Mitte Europas platzierte Habsburgermonarchie! Man kann es wohl nur so erklären, dass europäische Geschichte von ihrem Ende her: von den im 19. Jahrhundert in Entwicklung befindlichen, in den 1970er Jahren noch existierenden Nationalstaaten ausgehend konzipiert worden war. Europäische Geschichte erschien als Summe der bis in die Gegenwart der Handbuchautoren reichenden Nationalgeschichten. Unter diesen Prämissen war darin kein Platz mehr für die untergegangene Habsburgermonarchie. Und diese Ausblendung hatte System in der nationalen und europäischen Geschichtsschreibung, wie Dieter Langewiesche immer wieder nachdrücklich angemahnt hat. [3] Nicht nur die großen historiographischen Leistungen Thomas Nipperdeys und Hans-Ulrich Wehlers folgen dieser Optik des fehlenden mitteleuropäischen Geschichtsraums: Sie reicht bis in die Neukonzeption der 10. Auflage des "Gebhardt", allerdings in einer paradoxen Zuspitzung. Angesichts des zu Recht relativierten Konzepts der Nationalgeschichte erscheint das "lange 19. Jahrhundert" gemäß dem Paradigma der Modernisierung - seiner staatlich-nationalen Merkmale gleichsam entkernt - als die Ära der Industrialisierung, des sich durchsetzenden Kapitalismus, der Bevölkerungsexplosion, der großen Wanderungen und des Nationalismus, kurzum als "ein bürgerliches Jahrhundert, das von Klassenkonflikten und Geschlechterungleichheit durchfurcht war". [4] Das sind alles national unspezifische, auch in den europäischen Nachbarstaaten Deutschlands vorfindliche Merkmale. Dementsprechend ignoriert der neue "Gebhardt" den Deutschen Bund als staatliche Organisation 'Deutschlands', wie die Bundesakte diesen völkerrechtlichen Verein bezeichnete; insbesondere blendet er den wesentlichen Anteil der Habsburgermonarchie darin aus. In statistischer Hinsicht wird Österreich geradezu heraus gerechnet, indem für 1819 und 1830 "die Bevölkerung des Deutschen Bundes ohne Österreich und Luxemburg" veranschlagt wird, um die Hochrechnung bis zur Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. [5] Der Name des - wenn vielleicht nicht bedeutendsten, so doch auffälligsten österreichisch-deutschen Staatsmanns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa, zugleich Repräsentant der Präsidialmacht des Deutschen Bundes - Metternich - kommt im Personenregister dieses "Gebhardt"-Bandes nicht vor, derjenige seines preußisch-deutschen Pendants in der zweiten Jahrhunderthälfte - Bismarck - hingegen achtmal.
Diese Hinweise wollen mit den wenigen exemplarisch genannten Werken nicht wohlfeil polemisieren, sondern nachdrücklich dafür werben, einen blinden Fleck im Zugang zur europäischen und deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts freizulegen, eine Blockade, welche die historische Realität durch Ausblendung verzeichnet. Woran fehlt es? Es mangelt an einer synchron verflochtenen Parallelgeschichte des Deutschen Bundes und der Habsburgermonarchie, ohne vom Ende her die Reichseinigung von 1871 als Leitgröße zur Beschreibung festzulegen. Die neuesten methodischen Zugänge der Historiographie eröffnen die Instrumentarien: die Fragen nach Transfer, Transnationalität, 'Histoire croisée', welche die subkutan im Modernisierungskonzept verborgene Westeuropafixierung relativieren und die Ausstrahlungen ebenso der ost- und südeuropäischen Geschichte auf den mitteleuropäischen Geschichtsraum wahrzunehmen einladen. Nicht zuletzt die Hinwendung zur modernen Imperienforschung eröffnet Wege, die Grundproblematik supranationaler Reiche in Auseinandersetzung mit den innewohnenden Nationalitätenbewegungen zu erfassen. [6] Auch der große Wurf, der jüngst Jürgen Osterhammel gelungen ist, den Horizont zur Universalgeschichte hin zu weiten, öffnet den Blick, denn er lässt die Geschichte der Staatsnationen im realgeschichtlichen europäischen Kontext von "Imperien und Nationalstaaten" sowie der "Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen" erscheinen. [7]
Im Hinblick auf eine neu zu vermessende Geschichtsschreibung Europas im 19. Jahrhundert ist es allerdings erforderlich, den mitteleuropäischen Raum und letztlich auch den Mittelmeerraum unter Einbeziehung des Osmanischen Reiches überhaupt erst konsequent mit ins Blickfeld zu nehmen. Eine Schlüsselbedeutung hat hierbei die Entwicklung der Habsburgermonarchie mit ihrer Sog- und Impulswirkung, die bisher für undenkbar erachtet wurde. Die hier ablaufenden parallelen Prozesse der Modernisierung, die Jürgen Kocka einleitend für das 'lange 19. Jahrhundert' intoniert, korrespondieren mit solchen in den deutschen und anderen europäischen Staaten, seien es Grundprobleme der Parteibildung, der medialen und industriellen Massengesellschaft oder der Klassenbildung - und dies im Gehäuse einer vormodern anmutenden zusammengesetzten Staatlichkeit, als die sich die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert zunächst darstellte.
Eine solche Neupositionierung ist leichter proklamiert als getan. Es ist wohl erst jetzt die Zeit reif, nachdem die hier vorzustellenden zwei - aus insgesamt fünf Teilen bestehenden - monumentalen Bände aus der großen Serie "Die Habsburgermonarchie 1848-1918" vorliegen, herausgegeben von der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die seit 1973 erscheinende, auf insgesamt elf Bände konzipierte Serie war mit dem sechsten Band über die Internationalen Beziehungen (2 Teilbände 1989/93) ins Stocken geraten. Seit 2000 erschien, angetrieben und koordiniert durch die staunenswerte Energie und Zielstrebigkeit des nunmehrigen Obmanns der Historischen Kommission, Helmut Rumpler, eine Trilogie, vereint in sieben Teilbänden, welche der Serie eine neue Frische und konzeptionelle Verdichtung verliehen und für die Mitteleuropaforschung einen Durchbruch zu einer neuen Qualität bedeuten. Die beim oberflächlichen Zugriff nicht leicht zu handhabenden Bände müssen der Komplexität ihres Gegenstandes Tribut zahlen, indem sie dessen zusammengesetzte Staatlichkeit abbilden. Wollte man dieses Konzept auf die deutsche Geschichte übertragen, müsste sie als synchrone Darstellung der zentralen nationalen Organe und der impliziten, föderativ zugehörigen deutschen Einzelstaaten geschrieben werden. Da in der historischen Forschung die neuen Bände der Serie bisher sträflich wenig Resonanz gefunden haben, steht zu befürchten, die zahlreichen neuen Impulse für die Erforschung des 19. Jahrhunderts blieben ungenutzt. Das wäre umso misslicher, als durch sie die Neuvermessung des 19. Jahrhunderts wesentlich eingeleitet werden könnte.
Das "österreichische Staats- und Reichsproblem" im 19. Jahrhundert (Josef Redlich) hat angesichts der zeitgenössisch erfahrbaren Probleme innerhalb der Europäischen Union unerwartet einen Horizont eröffnet, das Grundproblem des historischen Vielvölkerstaats besser zu verstehen und gerechter zu würdigen, nämlich demokratische Mitbestimmung zu erwirken bei gleichzeitigem Aufbau eines multinationalen Staatenbundes. Der VII. Band der konzeptionellen Trilogie hatte die Fundamente gelegt, indem er das Verfassungsproblem thematisierte: den Parlamentarismus auf Reichs- und Landesebene, und zwar nicht nur dessen normative Seite, sondern auch die in Wahlen und parlamentarischer Arbeit realisierte Verfassungswirklichkeit. Er folgte der Frage, inwiefern die Parlamente "die hohe Schule der Demokratie für eine Großregion, die in der historischen Grenzzone zwischen demokratischen politischen Kultur Westeuropas und dem Staatsfeudalismus Osteuropas lag", realisierten (VIII/1, XVII). [8]
Das betraf die Geschichte der Eliten. Der eigentliche Prozess der Demokratisierung als Fundamentalpolitisierung und politischer Partizipation ereignete sich jedoch jenseits der offiziell organisierten Politik: in Vereinen und lokalen Parteiorganisationen, in den regionalen Redaktionen mit deren Kommunikationsnetzen. Die beiden monumentalen Teilbände über Vereine und Presse erfassen auf insgesamt 2869 Seiten mit 115 Tabellen und Diagrammen erstmals die gesamte Monarchie in allen ihren Teilen bis in ihren letzten Winkel. Diese Herkulesarbeitet leisten insgesamt 43 erstrangige Spezialisten sämtlicher in der ehemaligen Habsburgermonarchie vertretener Nationalitäten, und dies in einem beeindruckend durchgängigen, methodisch hoch reflektierten Konzept. Die neuesten Ergebnisse der Forschungen zur Sozial-, Medien-, Nationalismus-, Parteien-, Mentalitäts-, Kultur- und Verfassungsgeschichte, dokumentiert in einer Bibliographie von nahezu zweihundert Seiten, sind in die Beiträge eingegangen. Die Leitfrage lautet, welche Existenz- und Entwicklungsmöglichkeiten der mitteleuropäische Vielvölkerstaat bot, dass eine "bürgerliche Öffentlichkeit" entstehen, ob diese eine kontrollierende Gegenöffentlichkeit zum Staat darstellen konnte (der Herausgeber beurteilt das eher skeptisch); es ist im Grunde die "Frage nach den Durchsetzungsmöglichkeiten von Aufklärung" (VIII/1, 1) und nach der "Förderung des Demokratisierungsprozesses in Mitteleuropa". Zugleich offenbart die nunmehr im Detail (in Region, Verein, Nationalität) verfolgbare Entwicklung, wie die 'Modernisierung', manifestiert durch wachsende Kommunikationsdichte, durch nationale Großgruppenbildung, durch zunehmende Alphabetisierung und Entstehung eines Massenmarktes und von Massenorganisationen, wesentlich dazu beitrug, dass sich die Nationalitäten verschärft voneinander abgrenzten. Ungeachtet gelungener "Ausgleiche" und Kompromisse auf den Feldern der Politik, Wirtschaft und Kultur verlor der Liberalismus seinen ursprünglichen humanistischen Impetus und es artikulierte sich in der 'öffentlichen Meinung' zunehmend "das Gift des populistischen 'Ethnonationalismus'" (VIII/1, 2 f.). Letztlich befand sich die überregionale und transnationale Ordnungsidee, welche die österreichisch-ungarische Staatsgewalt verkörperte, auf dem Prüfstand.
Einige Worte zum Aufbau des ersten Teilbandes zu Vereinen, Parteien und Verbänden sind angebracht. Ein erster Teil (Kap. I) umfasst die Grundlagen der Gesamtmonarchie unter Einschluss Ungarns. Die Herausgeber haben sich gerade in diesem Kapitel besonders bemüht, "die Zentrumlastigkeit des Textes etwas zu mildern", indem sie ihn durch kroatische, tschechische, ungarische und slowenische Mitarbeiter kritisch gegenlesen ließen (VIII/1, 15). Das sei hier einmal als exemplarisch für den Impetus des Gesamtwerks vermerkt. Der glänzend pointierte Überblick zu den elementarischen politischen Strömungen (Liberalismus, Konservatismus, politischer Katholizismus, Sozialismus, Nationalismus, 15-111) von Ernst Hanisch und Peter Urbanitsch sollte zur Pflichtlektüre für alle diejenigen gehören, die sich mit der vergleichenden Parteiengeschichte in Europa im 19. Jahrhundert beschäftigen, zumal mit der deutschen, wo die Wechselwirkungen am intensivsten sind. In einem bisher nicht gekannten Maße dauerten die kommunikativen Verbindungen und Vereinigungen im Vereinswesen weit über die Epochenschwelle von 1866 hinaus fort und relativieren zum Teil die Annahme von der schon lange angelaufenen Selbstausgrenzung Österreichs aus Deutschland. Die Revolution von 1848/49 hingegen legte ein Fundament, das kurzzeitig die Entwicklungschancen einer freien Gesellschaft im Vielvölkerstaat aufblitzen ließ. Jiřί Kořalkas exzellente Gesamtschau der Anfänge der politischen Bewegungen und Parteien 1848/49 ist die erste vergleichend angelegte Analyse und als solche nunmehr für Revolutionsforscher unentbehrlich (113-143). Auch wenn der Neoabsolutismus noch einmal die angebahnte Entwicklung von Parteien zerschnitt, dauerte doch selbst über die 1850er Jahre ein Vereinswesen nach dem älteren Muster der 'Assoziation' fort, was im Hinblick auf viele konkrete Befunde auch eine neue Erkenntnis darstellt.
Der zweite Großteil umfasst Cisleithanien, d.h. Österreich ohne Ungarn oder genauer: die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. Es sind die Donau- und Alpenländer, die Adrialänder, die Böhmischen Länder, die Karpaten und - bis 1859/61- Lombardo-Venetien (Kap. II-VI). Zwei ganz Cisleithanien umfassende Kapitel widmen sich der Frauenbewegung (Bildung, Arbeit, Recht, Sittlichkeit, Wahlrecht) sowie den Vereinen und Interessenverbänden auf überregionaler Ebene (Kap. VII, VIII).
Der dritte Großteil gehört dem Königreich Ungarn, der seinerseits als Vielvölkerstaat abzuhandeln ist, im ersten Abschnitt für die ungarische Gesamtmonarchie, wo es die Grundlagen der Entwicklung der Parteien, Vereine und Interessenvertretungen darzulegen gilt (Kap. IX), sodann deren Ausprägungen bei den einzelnen Nationalitäten (Deutschen, Rumänen, Kroaten, Serben, Slowaken, Ruthenen, Kap. X). Ein übergreifender Abschnitt ist schließlich komplementär zu Cisleithanien den Frauenbewegungen in Ungarn gewidmet (Kap. XI).
Das Werk fördert erstmals eine empirisch fassbare Vielfalt von über 2800 Vereinen oder vereinsähnlichen Organisationen zutage, für die jeder Forschende mit regionalem oder nationalem Interesse dankbar sein wird. Sie dokumentiert die innerhalb eines halben Jahrhunderts erfolgende progressive Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte in der Gesamtmonarchie. Es ist unmöglich, die vielen Anregungen und Erkenntnismöglichkeiten auch nur andeutungsweise zu bilanzieren, welche dieser Band gibt. Prozesse werden sichtbar wie die Verlagerung der politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten vom Zentrum Wien in der Jahrhundertmitte zum zentraleuropäischen Vieleck (Budapest, Prag zunächst, dann noch Klausenburg, Krakau, Lemberg, Agram und Triest) oder die Auflösung der elitären liberalen Staatsbürgergesellschaft in die Nationalgesellschaften mit nationalen Mehrfachidentitäten. Es wird die Spaltung der Monarchie (oder soll man besser sagen: die Bewusstwerdung) in Ethnien, geographische Räume, kulturelle Antagonismen, Differenzen in Religionen und Sprachen sichtbar, ebenso das Auseinanderdriften des nationalen und liberalen Lagers, die Verwandlung des Nationalismus vom Reichspatriotismus zum Ethnonationalismus ("Die deutschen Österreicher wurden zu österreichischen Deutschen", VIII/1, 101). Nebeneinander existierten Mehrfachidentitäten der Nationalitäten bis kurz vor Auflösung der Monarchie, andererseits die Radikalisierung bis hin zur Ausbildung "protofaschistischer Strukturen und Verhaltensmuster". Es kommt - blickt man parallel in verschiedene Regionen - zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: zum Kampf um die alte ständische 'moralische Ökonomie', zu Maschinensturm, antisemitischen Exzessen und andererseits zur gewerkschaftlich gestützten Forderung nach dem Recht auf Arbeit.
Der zweite Teilband zur politischen Öffentlichkeit über die Presse enthält ebenso wie derjenige über das Vereinswesen einen Vorausteil, welcher die Gesamtmonarchie erfasst. Hier werden die Entwicklung des formellen "Pressrechts" (das heißt des Medienrechts im Sinne der Erzeugnisse, welche aus der Druckerpresse kommen), die Organisation und Vorgehensweisen der Pressbehörden dargelegt. Die modernen Methoden der Pressemanipulation nach der Ära der Zensur werden transparent (Strafrecht, Inseratengebühr, Zeitungsstempel). Der gesamte Band offenbart aber den Trend zunehmender Liberalisierung bis zum Ende der Monarchie. Diese auf allen Ebenen und verstärkt durch die Entstehung eines Massenmarktes nachvollziehbare Praxis relativiert die These von der allgegenwärtigen Dominanz des Staates und der Ohnmacht der unterdrückten politischen Öffentlichkeit.
Mit Blick auf die Praxis wird zunächst monarchieweit die Entwicklung des Tageszeitungsmarktes - Gründungen, Wachstumsraten, Zeitungsdichte, Einstellungen - dargestellt. Das Werk geht jedoch methodologisch weit über die traditionelle Pressegeschichte hinaus, indem es die Massenmedien als Indikator des Modernisierungsprozesses behandelt. Das ist Neuland! Dabei wird die Frage, wie sich aus den Medien auf wachsende politische Partizipation schließen lasse, zu Recht als innovativ und als überhaupt erst klärungsbedürftig dargestellt. Insgesamt wird eine einzigartige pressestatistische Datenbasis erstellt. Nach Durchsicht von 23 periodischen Zeitungsverzeichnissen mit über 100 Jahrgängen und 135 Bibliographien und pressegeschichtlichen Darstellungen ermittelt der Band insgesamt 703 Zeitungstitel (404 für Cisleithanien, 297 für die Länder der ungarischen Krone) in zwölf Sprachen an 74 Erscheinungsorten (VIII/2, 1548 f.). Er bietet eine möglichst komplette Liste der an den Stichtagen der Volkszählungen in der Gesamtmonarchie existierenden Presse (1855, 1869, 1880, 1890, 1900, 1910) und verzeichnet darin Sprache, Auflagenhöhe und politische Orientierung (die Liste: VIII/2, 1668-1714).
Durch die methodische Koppelung der Pressedaten mit den Parametern der Modernisierung liefert dieser allgemeine Teil in seinen Tabellen eine Fundgrube empirischer Daten zur Gesamtauflage der Tagespresse, zur Leserdichte im europäischen Vergleich und in den cisleithanischen Ländern, zu Wachstumsraten, Anteil der Hauptstadtpresse, Alphabetisierungsgrad, Besuch mittlerer und höherer Schulen, zum Industrialisierungsgrad, Bruttosozialprodukt pro Kopf (1911/13) und zum Urbanisierungsgrad. Die Korrelationen zwischen den Presseerzeugnissen und den Modernisierungsparametern wird durch so genannte Regressionsanalysen geleistet (erläutert VIII/2, 1578 f.).
Für die Gesamtmonarchie wird die "reichsweite" Presse vorgestellt, etwa das Neue Wiener Tagblatt, der Pester Lloyd, die Bohemia, die Arbeiter-Zeitung, die Neue Freie Presse, das Vaterland sowie die katholische Reichspost. Hier werden die zentralen Konflikte und Themen durchgespielt, an denen sich die 'Öffentlichkeit' im Medium der Presse abarbeitete. Das waren u.a. der Ausgleich, der Kulturkampf, die Orientalische Frage und überhaupt das Schicksal des Osmanischen Reiches, die Wahlrechtsfrage und sozialpolitische Themen wie der Arbeiterschutz. Zum Verhältnis der Presse zur Regierung gehört auch die Darlegung, wie über Literarische Bureaus amtlicherseits die Medien manipuliert werden sollten, eine seit der Metternichära geläufige und auch in Bismarcks Pressepolitik übliche Praxis.
Nach der Ebene der Gesamtmonarchie folgt der Gang in die Länder. Hier weichen die Herausgeber aber aus gutem Grund von der beim Vereinswesen greifenden Gliederung nach Ländern ab, weil die Presse überwiegend sprachlich-national organisiert war. Das mag am serbischen Fall verdeutlicht werden: Geographisch siedelten die Serben in Ungarn, Kroatien-Slawonien, auf der Militärgrenze, in Dalmatien und in Bosnien-Herzegowina, dann auch in Wien und Triest. Hier wie auch in den anderen Nationalitätenkapiteln warnen die Autoren davor, die Presse voreilig auf eine nationale Ausrichtung festzulegen, gaben sich doch nur Teile der serbischen Zeitungen national, andere waren regierungsfreundlich oder pro-ungarisch, und schließlich ließ sich wegen der engen sprachlichen Verbindung zwischen Kroaten und Serben oft nur die kyrillische Schrift als Indikator benutzen. Man kann nicht genügend hervorheben, welche Verdienste sich dieses Handbuch erwirbt, weil es die traditionelle auf Wien konzentrierte Spur verlässt und die politische Presse der nichtdeutschen Nationalitäten eigens würdigt. Die Integration wissenschaftlicher Forschung zu so viel verschiedenen Nationalitäten in einem einzigen Werk scheint mir in der europäischen Wissenschaftslandschaft eine Pionierleistung zu sein. Es ermöglicht erstmals auch, systematisch das Bild von anderen Nationalitäten zu analysieren. Die Serben etwa blickten auf die Tschechen als Vorbilder im Kampf um nationale Autonomie. Das Bild der Anderen wird plastisch auf die Formel gebracht: "Vorbild, Solidarität und Streit" (Ranka Gašić VIII/2, 2201).
Die nationale Vielfalt des Pressewesens ist staunenswert: Deutsche, Ungarn, Tschechen, Polen, Ruthenen ('Ukrainer'), Rumänen (in Siebenbürgen), Kroaten, Serben, Slowaken, Slowenen, Italiener und nicht zuletzt die Juden ("Die hebräische und jiddische Presse in Galizien", Rachel Manekin) haben ihre eigensprachlichen Redakteure und Organe. Die Einzelkapitel sind synchron aufgebaut und können in der schier unerschöpflichen Vielfalt der Presseerzeugnisse die prägende, homogenisierende - den transnationalen Vergleich geradezu aufdrängende - Wirkung der fünf großen politischen Strömungen erhärten; dabei spiegeln sie die genannten großen Fragen der Gesamtmonarchie wider, generell intensiviert in der späteren Ära der Massenpresse. Dem Historiker der Revolution von 1848/49 bietet sich hierbei wie bei dem Vereinswesen eine Gesamtbilanz der publizistischen Mobilisierung. In den einzelnen Kapiteln finden sich gleichfalls eindrucksvolle Auflistungen: zur Rangliste der zehn auflagenstärksten Zeitungen in Nord- und Westböhmen (VIII/2, 1639 f.), zur tschechischen Regionalpresse in Böhmen 1892 (VIII/2, 2004-2007) und nach Sprachen differenziert eine Gesamtübersicht der Zeitungen in den böhmischen Ländern (VIII/2, 2032 f.). Großer Raum wird auch der Entwicklung der ungarischen Presse geschenkt. Viele Kapitel durchzieht die Problematik einer Trennung zwischen Liberalen und Demokraten, artikuliert anhand eines wachsenden Antisemitismus (z.B. VIII/2, 1663).
Den Schlussstein in der eingangs erwähnten Trilogie auf dem Weg von der Ebene des 'Parlaments' über diejenige der 'Öffentlichkeit' hin zu dem gesellschaftlichen Fundament stellt der jüngst erschienene IX. Band über "Soziale Strukturen", worin sich die Herausgeber durch den eigens beigegebenen Kartenband in Substanz und Dimensionen erneut überbieten. Die Historische Kommission bezeichnet dieses Vorhaben als "ihr bisher schwierigstes Projekt" (IX/1/1, XIII), fragt doch der Herausgeber zu Recht, "ob es eine gesamtstaatlich-habsburgische Gesellschaft gegeben hat" (ebd.). Auch bereitet die Behandlung nach nationalen und territorialen Subgesellschaften erhebliche Probleme; es sind nicht allein Extremfälle wie Siebenbürgen, das Banat, Dalmatien oder Bosnien-Herzegowina, die erweisen, dass ländliche, urbane oder kulturell-konfessionelle Lebenswelten die Strukturierung stärker lenken als Nation und Territorium. Ungarn wird hierin allerdings eine Sonderstellung zugebilligt.
Die im IX. Band vereinte Sozialgeschichte der Habsburgermonarchie setzt in mindestens vierfacher Hinsicht neue Maßstäbe und erschließt darüber hinaus in vieler Hinsicht Neuland.
1.) Konzeptionell musste ein eigenes Instrumentarium geschaffen werden, das sich offener handhaben lässt als eine auf einer gesamtstaatlichen Konzeption beruhenden konsistenten habsburgischen Gesellschaftsgeschichte. Zu Recht betont der Herausgeber Helmut Rumpler, es ließen sich - wie bereits geschehen - nationale Gesellschaftsgeschichten Triests, Tschechiens, Kroatiens, Ungarns und der Slowenen schreiben; das produziere für Österreich jedoch eine 'Anomalie', war doch Wien "als Zentralort für die Großregion Ostösterreich, Westungarn und Mähren ein Migrations-, Wirtschafts- und Kulturzentrum" (IX/1/1, 8). Im Gegenteil gelte es, sich von der suggestiven Wirkung der "vom Aspekt der nationalen Frage durchtränkten Literatur" zu befreien und die Wahrnehmungs- und Analyseebene der historisch zeitgenössischen amtlichen Statistik zurückzugewinnen, um "das gesamtstaatliche Netzwerk der gesellschaftlichen Verbindungen, Interdependenzen und Konkurrenzen als Aktionsfeld der Entwicklung zu werten." (IX/1/1, 4).
Das ist von Grund auf innovativ. Hier wird die Gesamtstaatlichkeit nicht a priori konstruiert, sondern es wurde "das staatliche Territorium für die Menschen, die durch die von den neuen Technologien geschaffenen [...] Netzwerke und die von diesen geprägten neuen Alltagskulturen Zugang zum Markt fanden, immer stärker zu einem (bestehenden oder künftig herzustellenden) Referenzrahmen." (Hans Peter Hye IX/1/1, 64). Hilfreich zur Analyse ist hierbei das Konzept der 'Wissensgesellschaft'. Die erkenntnisleitende Erschließungsperspektive ist die Frage nach der "sozialen und personalen Integration in heterogenen Gesellschaften", ergänzt um die Dimension der Desintegration. So wird aus der Frage nach einer habsburgischen Gesellschaft eine nach der Analyse der "Lebensform einer mitteleuropäischen Gemeinschaftszivilisation"; diese sei heterogen gewesen, offen, keine "solidarische Gesellschaft", sondern eher eine "Konfliktgemeinschaft" (Helmut Rumpler IX/1/1, 13), eingespannt zwischen den Polen sozialer transnationaler Emanzipation und nationalstaatlicher Glücksverheißungen.
2.) Die österreichische Sozialgeschichtsschreibung fand im Gegensatz zur Dominanz der politischen Geschichte wenig Aufmerksamkeit, und das ungeachtet einer eindrucksvollen Reihe prominenter Präzeptoren wie Carl Grünberg, Ludo Moritz Hartmann, Alphons Dopsch und Otto Brunner. Überdies blieb die Wahrnehmung vorwiegend auf den Raum des engeren Österreich, teilweise durch zeitgeschichtliche Präferenz auf die Republik Österreich seit 1918 begrenzt. Das vorliegende Werk erschließt erstmals die "sozialen Strukturen" des Gesamtraums der Monarchie.
3.) Der Herausgeber betont zu Recht, einer Sozialgeschichte ohne quantitative Daten aus der Statistik fehle der Unterbau. Diesen hat der IX. Band erstmals für die Gesamtmonarchie in einem separaten Kartenband bereitgestellt. Da in der Folge der seit 1855 einsetzenden Volkszählungen die Zählkategorien und territorialen Bezugsgrößen immer wieder gravierend verändert wurden, ließen sich in der Regel keine Zeitreihen herstellen. Was möglich war, ist eindrucksvoll genug: eine Gesamtbestandsaufnahme auf dem Stand der letzten Erhebung von 1910. Die vorzügliche quellenkundliche Einführung in die habsburgische Sozialstatistik Michael Pammers ist für den angemessenen Umgang mit dem Tafelwerk höchst hilfreich (IX/1/2, 1555-1583).
4.) Auch in der Erfassung der sozialen Realität im Fokus der 'sozialen Frage' überschreitet der Band die gewohnten Dimensionen. Bisher dominierten Themen der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Ideengeschichte christlicher Sozialreform, der Sozialpolitik und Vorgeschichte der Sozialpartnerschaft. Tabula rasa - zumal im Horizont der Gesamtmonarchie - war "die wirkliche, unorganisiert gebliebene Massenbewegung des in die Existenzgefährdung geratenen Mittelstandes der Facharbeiter, Bauern, Gewerbetreibenden, Angestellten, Lehrer, Beamten und Freiberuflichen" (IX/1/1, 9). Damit ist die 'soziale Frage' nicht mehr nur eine Angelegenheit des traditionellen "Vierten Standes". Das eröffnet neue Analysemöglichkeiten für die gegen Ende der Monarchie kulminierende gesellschaftliche Krise, in der das Amalgam aus Nationalismus und Antisemitismus des unteren Mittelstandes maßgeblich den Sprengstoff der sozialen Konflikte beisteuerte.
Der eröffnende Teil des IX. Bandes (Kap. I) steckt die strukturellen Rahmenbedingungen der 'Industriellen Revolution' ab und wählt dazu den fruchtbaren neuen Deutungsentwurf des Weges in die 'Wissensgesellschaft'. Das bleibt keine bloße Nomenklatur, sondern wird konkret in den Parametern der Modernisierung entfaltet, in denen sich nicht nur 'Industrie', sondern auch das Wirtschafts- und Kulturgut 'Wissen' in vielfältigen Wechselwirkungen als der eigentliche Treibsatz artikulierte, und zwar in den Bereichen Technologie, Bildung (Schulen und Universitäten) und Printmedien (Abschnitte A-C).
Einer These Tim Blannings folgend, wird der Ausbau des Eisenbahnwesens sowie der Binnen- und Hochseeschifffahrt als das Fundamentalereignis der sozialen Entwicklung Kontinentaleuropas begriffen: durch die Integration der Märkte wurden die Hungersnöte aus den Konjunkturen 'alten Typs' beseitigt. Was der Einbruch der Eisenbahn konkret bedeutete (Zuwanderung, Ansiedlung großer Industrieunternehmen, Heranwachsen neuer Eliten durch evangelische und jüdische Zuwanderer, Entstehung des Alpentourismus), veranschaulicht der Bearbeiter Hans Peter Hye an drei Fallstudien aus der Peripherie: dem sächsisch-böhmischen Grenzraum in Nordböhmen (Aussig) und zwei hochalpinen Talschaften südlich des Alpenhauptkamms in den Hohen Tauern (Windisch-Matrei, Obervellach). Sie zeigen das Verschwinden der altständischen Ordnung. Auffällig ist die Wirkung der Eisenbahn als 'Germanisator', weil die erfassten Märkte das Deutsche als dominierende Marktsprache übernahmen - ohne Rücksicht auf die gebrauchten Umgangssprachen und Idiome (IX/1/1, 47). Telegrafie, Elektrotechnik, Hygienetechnik (Fäkalien-, Abwasser-, Abfallentsorgung) führten letztlich zur 'Domestizierung' der unterbürgerlichen städtischen Bewohnerschaft. Steigerung von Lebensqualität und -erwartung gingen auf die neue 'Schulmedizin' zurück. Das Kommunikationsgut 'Kapital' erhielt durch die Bewegung der Konsum-, Spar-, Vorschuss- und Genossenschaftsvereine (Typ Raiffeisen) die "Kapillargefäße eines sich rasch verdichtenden und sehr hierarchischen Netzes von Geldströmen" (IX/1/1, 61).
Sozialer Aufstieg, ja, politische Demokratisierung durch Bildung und Wissen werden zum großen Thema der 'Bildungsrevolution', von Brigitte Mazohl prägnant dargestellt in einem Abriss der Entwicklung von ihren vormärzlichen Voraussetzungen über den bahnbrechenden Impuls von 1848/49 bis zum Ende der Monarchie. Wem, von der deutsche Wissenschafts- und Bildungsgeschichte herkommend, an einer Vergleichsperspektive gelegen ist, wird hier willkommene Anregungen finden, erweitert um die spezielle Nationalitätenproblematik. Das Bild vom rigiden, bevormundenden Neoabsolutismus muss hinsichtlich der Thunschen Bildungsreformen, welche in dieser Ära die Universitäten von berufsbildenden 'Schulen' in Stätten wissenschaftlicher Lehre und Forschung verwandelten, erheblich korrigiert werden. Alle Dimensionen des Bildungsbereichs (Elementar-, Gymnasial-, berufsbildende und Hochschulen) werden berücksichtigt, regelmäßig auch für die ungarische Reichshälfte - und erfreulicherweise auch hinsichtlich der genderspezifischen Defizite. Einmal mehr zeigt der Abschnitt über den "Kampf um die nationale Schule", wie die scheinbar fortschrittliche Modernisierung durch Sprachgesetze das zuvor vorwiegend konfliktfreie Nebeneinander verschiedener Sprachen zerstörte und die Muttersprache zur Waffe im Kampf um nationale Emanzipation werden ließ (IX/1/1, 89-91). Besonders drastisch bekundete dies die konsequente Magyarisierungspolitik Ungarns, das den einsprachigen Staat anstrebte.
Der Abschnitt über die Anfänge des modernen Kommunikations- und Medienwesens ergänzt die Informationen des VIII. Bandes zur 'Öffentlichkeit' um die Operationsfelder des staatlichen Medienapparates in dessen weitestem Sinne. Das betrifft Eisenbahn und Telegrafenlinien, Postkurse und -tarife, Staatsdruckerei, das in allen lokalen Gemeinden gelieferte Reichsgesetzblatt, aber auch die Restriktionen gegenüber der Presse, die Kontrollfunktionen der Obersten Polizeibehörde bei der Herausgabe periodischer Druckschriften, die Wachsamkeit gegenüber Bildmedien, der Parteipresse, der Amateurfotografie, den Wanderkinos, der Ansichtskartenproduktion und nicht zuletzt der Erzeugnisse des 'Schmutz und Schunds'. Der Arm des Staates reichte weit, und trotzdem erweiterte und liberalisierte sich der Publikationsspielraum.
Zu den Rahmenbedingungen zählte auch die Bevölkerungsentwicklung, die nach dem Modell des "demographischen Übergangs" generalisierend und zugleich regional differenzierend auf knappstem Raum bilanziert wird, wonach der Gegensatz zwischen einem 'westeuropäischen' Familienstandsmuster mit hoher Ledigenquote und spätem Heiratsalter zu einem 'osteuropäischen' mit universeller Eheschließung und frühem Heiratsalter weiterhin gültig blieb.
Die Urbanisierung als weitere Rahmenbedingung wird anhand einer plausiblen Städtetypologie dargestellt, welche erlaubt, unabhängig von verwaltungsmäßigen oder nationalen Grenzen reichsweit vergleichend zu systematisieren.
Ein Kabinetts- und zugleich Herzstück in der Gesamtkonzeption der hier vorgestellten Bände bieten Brigitte Mazohls pointierende Reflexionen über die "Jahrhundertfrage nach der politischen Partizipation der Staatsbürger auf der Basis von 'Volkssouveränität'" (IX/1/1, 250) unter der Überschrift "Die politischen und rechtlichen Voraussetzungen der sozialen Entwicklung". Anscheinend haben die Folgen der rasant um sich greifenden technischen und wirtschaftlichen Modernisierung, einhergehend mit der Bildungsrevolution, die immanenten Konflikte noch potenziert. Die fundamentale Fragen lauten: Konnte möglicherweise ein Zentralparlament für dieses heterogene (föderale) Herrschaftsgebilde wegen der Unvereinbarkeit von Nationalität und Repräsentativität priori nicht funktionieren? Verhinderten nicht die Verschiedenartigkeit und das dramatische, im Kartenband augenfällig dokumentierte Entwicklungsgefälle zwischen den Landesteilen eine Gesamtstaatsvertretung oder aber umgekehrt: war diese imstande, die Gegensätze langfristig abzubauen? Wer die 'verspätete' Staatswerdung Österreichs im Rahmen des Habsburgischen Reiches samt der schier unauflöslichen Widersprüche zwischen Nationalität, Emanzipation und gesamtstaatlicher Verfasstheit von Grund auf begreifen will, sollte diesen zwischengeschobenen Abschnitt vor jeglicher Einzellektüre gleichsam als verfassungspolitisches Habsburg-Propädeutikum studieren (IX/1/1, 233-250).
Der umfangreich gegliederte Abschnitt über die "Lebens- und Arbeitswelten" (Kap. II) schreitet das gesamte Feld der sozioökonomisch konstruierten Lebensräume, gewissermaßen die "Produktionszonen"(Antal Vörös) ab. Die unerhörte Fülle der Informationen und zu historischen Vergleichen einladenden Anregungen kann im Rahmen einer Besprechung nur summarisch berührt werden.
Die 'Agrarrevolution' mit nachfolgenden Bodenreformen trieb die Ausbildung einer an Marktbedürfnissen orientierten Landwirtschaft mit allen sozialen Folgen der Betroffenen von den Wanderarbeitern über die Kleinproduzenten bis zu den ehemals feudalen Großgrundbesitzern voran.
Die Ablösung von der Agrargesellschaft und der Übergang in die gewerblich-industrielle Arbeitswelt wird für Cisleithanien und Ungarn parallel beschrieben, ausgehend von der Ausdifferenzierung, Verdrängung bzw. Verstetigung der schon 1848 vorhandenen "vier grundlegenden arbeitsorganisatorischen Arrangements" (Gerhard Meißl); das waren zünftisches Handwerk, zentralisierte Manufaktur, protoindustrielles Gewerbe und die maschinenbetriebene Fabrik.
Der Strukturwandel im Agrarsektor, der Bedeutungsschwund des Zunftsystems und der Ausbau der Verwaltung in Staat und Industrie schufen die Voraussetzungen für das vehemente Wachstum des Dienstleistungssektors, der nach seinen Großgruppen vorgestellt wird: den Angestellten, Beamten und - unter der Perspektive der Hauswirtschaft, Büro- und Dienstmädchenarbeit - den Frauen.
Der Abschnitt über "urbane Lebenswelten" trägt wichtige Erkenntnisse zur modernen Metropolenforschung bei, wobei unter den Begriff der 'Großstadt', rein quantitativ definiert, mit Ungarn neun zu verzeichnen sind (Wien, Prag, Graz, Triest, Brünn, Krakau, Lemberg; Budapest, Segedin). Gehe man nicht lediglich quantitativ vor, werde die Einordnung als 'Großstadt' problematisch und es blieben wegen ihres "dynamischen urbanen Clusters" (IX/1/1, 503) und ihrer überregionalen Bedeutung lediglich Wien, Prag und Triest als Metropolen zu verzeichnen. In diesem Zusammenhang hätte der epochale Vorgang der Verlagerung vom Zentrum Wien in die neuen Polyzentren als Kristallisationspunkte der späteren Nationalstaatsbildungen stärker herausgestellt werden können.
Besondere Beachtung verdient die Lebenswelt der im Rahmen der Urbanisierungsgeschichte eher wenig gewürdigten Zone zwischen Dorf und Großstadt: der Klein- und Mittelstädte, weil sie nicht so intensiv von der Dynamik der Industrialisierung erfasst wurden und deshalb eher den Anschein der Rückständigkeit erweckten. Die sorgfältige Analyse zeigt, wie sich in diesem Bereich eine "Mikro-Urbanität" entwickelte, gefördert durch ein aufstrebendes Vereinswesen und durch besitz- und bildungsbürgerliche Aufsteiger, welche die kleinstädtischen Horizonte durchbrachen. Die moderne "Städtetechnik" (Jürgen Reulecke) brachte Elektrizität, Kanalisation, zentrale Wasserversorgung oder Gasbeleuchtung in diese Zentralorte der Provinz. Musik, Theater, bisweilen sogar die Oper konnten als "urbane Leitkulturen im kleinstädtischen Raum" beherbergt sein. Der Leser ist dankbar für die gesteigerte Plastizität des Bildes von der Urbanisierung.
Eine eigene "Produktionszone" stellte die Familie dar, die hier in ihren verschiedenen ländlichen und städtischen Kontexten vorgestellt wird, und zwar in konkurrierenden, regional zugeordneten Familienmodellen. Erst ein Blick in die Regionen vermittelt dieses Spektrum unterschiedlicher Familientypen, determiniert durch spezifische Abhängigkeiten; das waren das Gewohnheitsrecht, Formen kollektiver Bewirtschaftung, die Orientierung an der 'Hufe' und nicht an der Familieneinheit, die Dominanz der Viehzucht oder des Ackerbaus, die Heiratspraktiken, die Besitzstruktur der Höfe, das Erbrecht, die prekären Herkunftsmilieus oder die (bürgerlichen) Eheideale. Dem Verfasser Hannes Grandits gelingen bemerkenswerte regionale Zuordnungen verschiedener Familientypen (Kroatien-Slawonien, Dalmatien, Bosnien-Herzegowina / slowenisch-sprachige Länder / Alpen-Voralpen-Länder / Böhmen, Mähren, Schlesien).
Es zeichnet die hier vorgestellten Bände aus, dass die genderspezifische Problematik präsent gehalten und, wo von der Sache geboten, auch eigens thematisiert wird. Das sollte innerhalb der modernen Historiographie eigentlich Standard sein; selbstverständlich ist es freilich immer noch nicht. Um so erfreulicher ist es, dass ein eigener Beitrag Waltraut Heindls für die behandelte Epoche -kenntnisreich an den Grundprobleme der Genderdebatte orientiert - die Frage der "Geschlechterbilder und Geschlechterrollen" untersucht (IX/1/1, 701-741). Sorgfältig differenziert sie zwischen überkommenen Stereotypen, neuen bürgerlichen Geschlechter- und Familienkonstruktionen und der sozialen Realität, die wegen der zunehmenden, auch außerhäuslichen weiblichen Erwerbstätigkeit die Kluft zur ideologisierten Geschlechtertheorie immer tiefer werden ließ. Sie steuert wichtige Informationen zur rechtlichen Realität für die Lage der Frauen bei (Zivil-, Familien-, Strafrecht), wobei die These auch von der analogen deutschen Entwicklung her zu bestätigen ist, dass wachsende männliche Partizipation im Vereins- und Wahlrecht einhergingen mit zunehmender Ausgrenzung der Frauen. Deutlich wird auch die Avantgardefunktion der Wiener Frauenbewegung, die sich am Ende der weiblichen Emanzipationsphasen von der Sorge um die Rolle der Frauen in der Familie (um 1850) über den Diskurs um Frauenarbeit und Frauenbildung (1860er) bis hin zur Diskussion um die politischen Rechte der Frauen entfaltete. Auffälligerweise entzündeten sich in der späten Monarchie Rivalitäten zwischen Frauen verschiedener Nationalitäten, worin sich beim Versuch, einen internationalen Dachverband der Frauenvereine zu bilden, der Vorrang nationaler Solidarität gegenüber der Geschlechtersolidarität durchsetzte (IX/1/1, 729).
Wenn Geschlecht und Nation "die charakteristischen Identitätskonzepte der Moderne" (Heindl) waren, so hatte Religion als Mittel der Integration diese Funktion in der 'Vormoderne'. Der Beitrag Rupert Kliebers hat wie derjenige zur Genderforschung übergreifende Aussagekraft für alle fünf Teilbände. In einer klugen religionswissenschaftlichen Reflexion jenseits der traditionellen konfessionellen Lager verfolgt er die Frage, inwieweit 'Religion' die Funktion "des Zusammenhalts für das inhomogene Ganze" (IX/1/1, 777) entwickelt habe. Seine Betrachtungsweise ist umfassend, denn er berücksichtigt - mit dem sozialgeschichtlichen Blick 'von unten' - die Muslime des Balkans, die Juden dreier Observanz (streng orthodox-chassidisch, europäisch-aschkenasisch und sephardisch), und zwar die Gläubigen wie deren Oberhäupter: die Kleriker, Pastoren, Rabbiner, Popen und Imame, und er berücksichtigt gleichfalls die durchgehende, in der Regel kulturell nachgeordnete Sonderstellung der Frauen. Man erfährt in diesem knappen Beitrag viel über die 'konfessionellen' Milieus der Habsburgermonarchie, wenn man auch die versöhnliche Schlusswertung von der pazifizierenden Wirkung der Religionen angesichts der Auswüchse christlichen Antijudaismus und Antisemitismus, wie sie auch im VIII. Band über die 'Öffentlichkeit' aufgedeckt werden, anzweifeln möchte.
Die andere Hälfte des ersten Teilbands der 'sozialen Strukturen' (IX/1/2) eröffnet noch ein weiteres monumentales Forschungsfeld - eine Gesamtbestandsaufnahme der Monarchie im Spektrum sämtlicher sozialer Gruppen, die sich alle dem Diktat des Übergangs "von der Stände zur Klassengesellschaft" zu unterwerfen hatten. Das ist das eigentliche Herzstück jeglicher Sozialgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die fast alle Gruppen mit den Optionen der Desintegration, des Verfalls, der Konsolidierung oder Stabilisierung oder schließlich auch des sozialen Aufstiegs konfrontierte. Die einzelnen Beiträge so substanziell zu würdigen, wie sie es verdienten, lässt der Raum dieser Besprechung nicht zu. Es muss genügen, dem kommenden Leser oder der Leserin zu versichern, dass sie mit diesem Band den aktuellsten, kompetentesten, auf der Höhe methodologischer Reflexion stehenden Ertrag der versammelten Sozialforschung der österreichischen und internationalen Geschichtswissenschaft vorfinden. Insgesamt siebenunddreißig Experten haben an den beiden Teilen des IX. Bands mit der Stärke von insgesamt 1846 Seiten sowie 124 Tabellen und Abbildungen mitgewirkt.
Das betrifft den 'Bauernstand', die heterogene Gruppe der Arbeiter auf dem Wege zur Lohn- bzw. Fabrikarbeiterschaft mit Klassenbewusstsein, das berührt die mindestens ebenso heterogenen, unter dem Begriff des Besitz- und Bildungsbürgertums fallenden Mittelklassen. Ein Schwergewicht in diesem Band erhält zu Recht die Darstellung des gleichfalls höchst differenzierten Adels sowie der Magnaten und Gentry in Ungarn (IX/1/2, 951-1089). Adliger Lebensstil, Gutsherrschaft, Unternehmertum, Einfluss bei Hofe, im Diplomatischen, im Militär- und Kirchendienst sowie als Politiker zeigt ihn "zwischen Selbstbehauptung und Bedeutungsverlust" (Hannes Stekl) - alle diese Themenfelder und Rollen bereichern die inzwischen nach Arbeiter- und Bürgertumsgeschichte auch gebührend in Gang gekommene Erforschung des europäischen Adels in der neuesten Geschichte nach 1789. Nach Ausweis dieses Bandes war er noch erheblich präsenter, als die These vom "Durchbruch des Bürgertums" (Eberhard Weis) als Signatur des 19. Jahrhunderts erwarten ließ. Besonders hervorzuheben ist hier die im deutschsprachigen Raum nur wenig bekannte, hochkomplexe Entwicklung und Befindlichkeit des ungarischen Adels (Ulrike Harmat). So heterogen sich der Adel als Stand insgesamt darbot: er war die übernationale, den zentrifugalen Tendenzen widerstehende, gesellschaftlich integrative Kraft der Monarchie, sofern er an einem traditionalistischen Programm festhielt, der Dynastie treu blieb und die ihn schmerzenden Restriktionen von 1848 verwunden hatte. In Gestalt eines eigenen Abschnitts über "Hofgesellschaft und Hofstaat" (Karin Schneider) wird dieser Aspekt noch gesondert in den Fokus gerückt.
Es zeichnet die sozialgeschichtliche Herangehensweise dieses Bandes aus, dass sie auch "soziale Gruppen jenseits der Klassen" berücksichtigt: die Intelligenz in Ungarn, das Beamtentum der Staats- und Fürstendiener, deren tatsächliche Zahl sich nur schwer ermitteln lässt und deren Rolle sich im Verfassungsstaat zu wandeln hatte. Zu der Kategorie der klassenfernen Gruppen wird auch der Diplomatische Dienst und das für die Integration des Gesamtstaats kaum zu überschätzende Militär gerechnet, das hier nach dem Standard moderner, sozial definierter Militärgeschichte von der Rekrutierung bis zur Pensionierung oder zum Selbstmord (!) dargestellt wird. Es politisierte sich analog zur Parlamentarisierung und "Verparteilichung" der Politik seit den 1870er Jahren.
Der Schlussteil des IX. Bandes endet mit vier verschiedenen Antworten auf den sozialen Wandel, soweit er als fundamentale gesellschaftliche Krise der Moderne erfahren wurde.
1.) Die 'Lebensreform'-Bewegung versuchte durch echte oder vermeintliche moderne Alternativen Lösungen jenseits der als technizistisch und menschenfeindlich wahrgenommenen Industriegesellschaft: durch eine 'natürliche' Körperkultur, Diätetik, Vegetarismus und überhaupt durch Ernährungsreform, Temperenzlertum oder Theosophie.
2.) Die erheblich schwerer wiegende destruktive Antwort lag im anwachsenden Antisemitismus, zu dessen Entstehung Marsha L. Rozenblit einen eigenen, gehaltvollen Beitrag beisteuert, der über das Zentrum Wien hinaus auch die alpenländischen Provinzen, die böhmischen Länder, Galizien, die Bukowina und Ungarn ins Blickfeld nimmt (IX/1/2, 1369-1481). Christliche Animositäten, wirtschaftliche Vor(ur)teile, nationalisierte Interessen und die Ängste der sozial Depravierten verbanden sich in unheilvoller Weise, wobei die Monarchie in ihrer staatlichen Gewalt auf der Ebene der Zentrale und der Regierungen in den Ländern "den Antisemitismus in Schach gehalten" hat.
3.) Antikapitalistischer Sozialkonservativismus, Sozialutopien, marxistisch-sozialistische Konzepte, Theorien eines akademischen 'Staatssozialismus', 'Sozialbürokraten', Ideen einer 'sozialen Marktwirtschaft' gehörten zum Arsenal sozialkritischer Diskurse und Theoriebildung als Antwort auf die 'soziale Frage'. Das war die Ebenes des 'Überbaus'.
4.) Den realisierten 'Unterbau' stellte die staatliche, städtische und gemeindliche Armenpolitik dar, befördert durch gesetzliche Regelungen, wobei sich die Frage stellt, wie weit sich die öffentlichen Instanzen den sozialen Kosten der Industrialisierung entziehen konnten - zu einem Gutteil, wie Susan Zimmermann im Vergleich der Armen- und Sozialpolitik Österreichs zu Ungarn zeigen kann.
Eine einzigartige, zugleich beispielgebende und neue Maßstäbe setzende Meisterleistung und Krönung liefert der IX. Band mit seinem als zweiten Teilband beigegebenen selbständigen Kartenteil, der ursprünglich den Autorinnen und Autoren als Argumentationshilfe dienen sollte. Unermüdlich vorangetrieben durch den Obmann der Historischen Kommission, erwuchs daraus ein kollektives Werk der Kommission und einer Arbeitsgruppe des Instituts für Geographie der Universität Klagenfurt (Vorstand Martin Seger) und mit Unterstützung des Historischen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (Ferenc Glatz).
Der Band dokumentiert zwölf Sachbereiche: administrative Gliederung, ethnische Strukturen, konfessionelle Grundlagen, demographische Faktoren, Bevölkerungsbewegung, Erwerbstätigkeit, soziale Gliederung und Stellung im Beruf, landwirtschaftliche Sozialstruktur und Bodennutzung, Siedlungen, Haushalte und Wohnungen, Bildungswesen, Militär und Eisenbahnen. Vorangestellt ist eine topographische Karte der Habsburgermonarchie für das Jahr 1910. Das ist der Zeitpunkt der letzten statistischen Gesamtaufnahme. Damit liegt die Habsburgermonarchie im horizontalen Zeitschnitt gleichsam unter dem Röntgenschirm der Forschung.
Statistische Daten zu veranschaulichen ist mehr als eine Verständnishilfe: Die Karten ermöglichen eine vernetzte Betrachtungsweise und erlauben "komparative Aussagen über Interdependenzen, Konvergenzen und Differenzentwicklungen in einem politische kompliziert strukturierten Großraum" (Helmut Rumpler IX/2, 25) - mit anderen Worten: Das veranschaulichende Kartenmaterial begegnet der schier unüberschaubaren Heterogenität mit einem analytisch integrativen Explorationsraster. Die Einleitungen Helmut Rumplers und Martin Segers offenbaren die erheblichen methodologischen Probleme bei der Angleichung des Datenmaterials und nicht zuletzt auch der historisch korrekten Toponomastik. Man muss die Karten einmal angeschaut haben, um zu ermessen, wie auf einmal Zusammenhänge und Proportionen sowie Gefälle zwischen den unterschiedlichen Regionen der Monarchie 'ins Auge springen', welche dem Blick auf bloße Datenreihen verschlossen bleiben. Die Fülle der Informationen und ihr Detailreichtum bei gleichzeitiger akribischer Präzision machen sprachlos. Es sei als Beispiel der statistisch oft nur schwer dokumentierbare Genderaspekt herausgegriffen. Im Kartenteil findet man dokumentiert: den Frauenanteil an den Erwerbstätigen, die Erwerbsquote der nicht in der Landwirtschaft tätigen Frauen, die Kindersterblichkeit, Verwitwete und Unverheiratete, den Alphabetisierungsgrad nach Geschlecht.
Es ist der Historischen Kommission, den Herausgebern und dem großen Chor an Mitstreiterinnen und Mitstreitern zu wünschen, dass sie das Gesamtwerk mit den noch ausstehenden Bänden X ('Kultur und Zivilisation') sowie XI ('Der Erste Weltkrieg') auf gleich hohem Niveau und ebenso konsistent durchkomponiert beschließen können. Es führt schon in das Reich der Träume, wenn der Rezensent sich als Fürsprecher einer Geschichte des 'langen 19. Jahrhunderts' ein Pendant für die Epoche seit den Theresianisch-Josephinischen Reformen bis in den seither sträflich vernachlässigten Vormärz wünscht. Auch hier werden bereits neue Fundamente gelegt, welche nötigen werden, die Geschichte des österreichischen Vormärz zumindest in seinen ökonomischen, sozialen und demographischen Dimensionen neu zu schreiben. [9] Und wohl noch mehr begibt er sich in das Reich der Utopie, wenn er sich für eben diese Epoche zur deutschen Geschichte ein Werk wünscht, das die Geschichte der deutschen Einzelstaaten synchron mit der Darstellung des staatsnationalen Oberbaus im Transfer mit den angrenzenden Nachbarn verschränkt. Beispiele, dass so etwas denkbar ist, gibt es ansatzweise bereits. [10] Die Serie der "Habsburgermonarchie" könnte dafür ein Vorbild sein. Man muss 'Deutschland' deshalb nicht als Vielvölkerstaat betrachten und behandeln - es reicht, die konfliktreiche Spannung zwischen zentrifugalen und integrativen Tendenzen, zwischen föderativen Elementen und Nationalstaat in einer historischen Gesamtschau zu meistern.
Wie auch immer: Niemand wird künftig kompetent über die innere Entwicklung und Befindlichkeit der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 sprechen und urteilen können, der sich nicht mit den fundamentalen Erkenntnissen der hier vorgestellten fünf Teilbände zu 'Öffentlichkeit' und 'Gesellschaft' vertraut gemacht hat. Sie sind insgesamt und ohne Einschränkung ein herausragender Markstein moderner österreichischer Geschichtsforschung, die angesichts der Summe ausgebreiteten neuen Wissens, der inspirierender Aufarbeitung und des Nationen übergreifenden Horizonts höchsten Respekt abnötigt. Sie setzen neue Maßstäbe für die Erforschung des langen 19. Jahrhunderts und - die komplexen österreichischen bzw. deutschen Staatlichkeiten umgreifend - das Mitteleuropa-Paradigma.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom "Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung. München 2000, noch stärker teleologisch fixiert: Ders.: Geschichte des Westens [in 2 Bd.en], bisher ersch. Bd. 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München 2009.
[2] Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. v. Theodor Schieder, Bd. 5: Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Walter Bußmann, Stuttgart 1981.
[3] Vgl. Dieter Langewiesche: Deutschland und Österreich: Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa. München, 2000, 172-189. Dieser Band insgesamt sowie Ders: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, enthalten wesentliche Anregungen, die historiographische Optik auf die deutsche Geschichte unter Einbeziehung der Habsburgermonarchie zu verschieben.
[4] Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte. 10. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 13: Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, XV.
[5] Ebd., 78.
[6] Vgl. dazu den anregenden Impuls durch Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005.
[7] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
[8] Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. VII. Hrsg. v. Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch. Wien 2000. 1. Teilband: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften. 2. Teilband: Die regionalen Repräsentativkörperschaften.
[9] Vgl. das in Bearbeitung befindliche Projekt: Der "Franziszeische Kataster" (1817-1861). Als Quelle zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte in der Startphase der "Industriellen Revolution"; http://www.franziszeischerkataster.at; es ist eine umfassende kartographische und statistische Dokumentation des naturrräumlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustandes der Habsburgermonarchie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; überdies befindet sich in der ehemaligen Fideikommissbibliothek eine im Auftrag von Kaiser Franz angefertigte, nur handschriftlich überlieferte, noch unbekannte, aus Gründen der Geheimhaltung gegen den Willen Metternichs ehemals nicht veröffentlichte topographisch-statistische Gesamtbestandsaufnahme der Monarchie, deren digitale Veröffentlichung im Internet geplant ist; freundliche Auskunft des Direktors des Bildarchivs der ÖNB Dr. Hans Petschar; http://www.onb.ac.at/sammlungen/bildarchiv/bildarchiv_projekte.htm. Sie ist derzeit im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek in der Ausstellung "Altösterreich. Menschen, Länder und Völker der Habsburgermonarchie" (6. Mai - 30. Oktober 2011, http://www.onb.ac.at/ausstellungen/altoesterreich/index.htm) ausgelegt.
[10] Vgl. das zugrunde liegende Muster der Darstellung von James J. Sheehan: German History 1770-1866, Erstauflage Oxford / New York 1989; Abigail Green: Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteeth Century Germany, Cambridge 2001. Der Rezensent hat sich in vergleichbarer Weise versucht in: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995.
Wolfram Siemann