Daniela Roberts: "Imago Mundi". Eine ikonographische und mentalitätsgeschichtliche Studie ausgehend von Hans Holbein d. J. "The Ambassadors" (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 177), Hildesheim: Olms 2009, 523 S., ISBN 978-3-487-13493-2, EUR 78,00
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Imago Mundi ist eine publizierte Doktorarbeit, und als solche dokumentiert sie die kritische Archiv-, Lese-, Denk- und Seharbeit ihrer Autorin zu Holbeins "The Ambassadors" (1533). Der Titel lässt aber auch andere Ansprüche vermuten. "Das Bild der Bilder" nannte Peter-Klaus Schuster Dürers "Melencolia I" im kritischen Dialog mit dessen Forschungsgeschichte und besonders Panofsky, Saxl und Klibansky (1964). Doch nicht nur Titel und gewaltige Seitenzahl verbinden Roberts' Buch mit der Warburgschule, sondern auch ihre kritische Methode, die Ikonografie. Dies geschieht weniger im Warburgschen Sinne einer spekulativ offengehaltenen Erforschung von Holbeins enigmatischem Bild als kulturelle Gedächtnisarbeit als, aber auch nicht ganz, im systematischen Sinne Panofskys. Roberts unternimmt die ikonografische Untersuchung des Bildes, deutet aber Panofskys Folgeschritt der ikonologischen Interpretation in Mentalitätsgeschichte um. Aus Panofskys korrektivem Prinzip der Einsicht in "die allgemeine Geistesgeschichte (Inbegriff des weltanschaulich Möglichen)" [deutsche Fassung] und "into the manner in which, under varying conditions, essential tendencies of the human mind were expressed by specific themes and concepts" [spätere englische Fassung] wird die Versicherung, dass "sich grundlegende Bedürfnisse der menschlichen Natur nicht wandeln" (11) und dies auf die Richtigkeit einer historischen Schlüsselinterpretation vertrauen lasse. [1] Aus Panofskys spezifischer Bedeutung wird eine Verortung des Kunstwerks und seiner clavis interpretandi im kollektiven Bewußtseinsstand. Zur Praxis der Mentalitätsgeschichte gibt Stefan Haas zu bedenken, dass sie zwischen wissenschaftlichem Objekt und Subjekt schillert, also einerseits "Beschreibung vermeintlicher historischer Sachverhalte" beabsichtigt, andererseits als "Begriffswerkzeug" dient. [2] Das vielleicht hervorstechendste Beispiel von zugleich brillanter und umstrittener mentalitätsgeschichtlicher Kunstgeschichtspraxis ist Svetlana Alpers' Buch "The Art of Describing" (1983). Roberts macht von Philipp Ariès' "Geschichte des Todes Gebrauch", aber scheinbar nicht von seiner Geschichtstheorie auch der Mentalitätsgeschichte; das gleiche gilt von ihrer Bezugnahme auf Panofsky, die seine theoretischen Arbeiten nicht berücksichtigt. [3]
Roberts' gründliche Studien - zu den dargestellten Gesandten, zur politischen Lage in England und Frankreich in den Jahren um Anne Boleyns Krönung, zur Gattungsgeschichte des ganzfigurigen Porträts mit integriertem Stillleben, zur Etagere mit ihren die Freien Künste darstellenden Gegenständen, zur Anamorphose des Totenschädels, zur "Bodenzone" - fördern neue Fakten und Details zu Tage, besonders zur Musik, und beleuchten Widersprüche in Quellenlage und Forschung. Ihr Ziel ist die Erarbeitung der Bedeutung von Holbeins "The Ambassadors" in der Annahme, dass dieses Gemälde letztlich eine einheitliche Gesamtbedeutung besitzt. Der dritte Teil des Buches widmet sich ganz dieser Aufgabe. Dort wird aus verschiedenen Richtungen der Topos "Concordia discors" an das Bild herangeführt, d.h. aus den Bereichen Rhetorik, politische Theorie und Allegorie und dem Bildtypus "Politisches Repräsentationsbild", in dem Diplomatie, Ritterordentum und dynastisches Interesse zusammenwirken. Den historischen Vermittler sieht Roberts in den Schriften des mit beiden Gesandten bekannten Guillaume Postel zur Concordia und politischen Ethik, die allerdings von 1543 und später datieren (308-313). Roberts führt dies Amalgam als ein neues Porträtkonzept vor und wirft zudem die nachgeschichtliche Frage auf, ob "The Ambassadors" ein Freundschaftsbild sei, eine Porträtgattung, der Klaus Lankheit (1952) bekanntlich seinen Namen gab und zu dessen Anfängen er Holbeins Doppelporträt zählte.
Roberts scheint alles zu bedenken, um die geschichtliche Bedeutung des Gemäldes zu bestimmen. Doch ihre Begriffswahl "Mentalitätsgeschichte" hat Konsequenzen. Zu diesen gehört der stillschweigende Ausschluss aller psychoanalytischen Studien des Gemäldes, d.h. Jacques Lacans vielfach aufgenommene Interpretation (1964/1973) der Anamorphose als Negation der vermeintlichen Bildeinheit sowie der Einheit des inner- und außerbildlichen Subjekts. Doch gehört zu den Folgen auch die Nebenrolle, die Holbein in diesem Buch in der Genese seines Gemäldes spielt. Roberts spricht Holbein die Bildkonzeption ab (81) und nennt ihn, Erasmus "folgend", einen "insignis artifex", einen "hochbegabten Handwerker", um dann zu versichern, dies "verringert keineswegs seinen Ruhm an dieser großartigen Schöpfung" (82). Leider gibt es hier keine weitere Beschreibung der intellektuellen und handwerklich schöpferischen Identität Holbeins. Wenig besagen Roberts' bevorzugte Verben für Holbeins Kunst: anfertigen, aufgreifen, zurückgreifen, umsetzen. Hier zumindest greift der Begriff Mentalitätsgeschichte kurz, denn es bleibt unklar, wie Holbein an der kollektiven Bewusstseinslage teilhatte und wie darin künstlerische Innovation zustande kommen konnte.
Roberts' "Imago Mundi" ist eine umfassend belesene Studie, die zwar für "The Ambassadors" Polysemie behauptet (386), sich dennoch nicht scheut, eine einheitliche Bilddeutung vorzubringen, sowie gerade in diesem Bild "die Entdämonisierung des Todes" (385) zu erkennen. So steht der Differenzierung - Analogie erlaubte, "sich mit Hilfe von Sinnbildern der wahren Struktur der Dinge in ihrer Ambivalenz zu nähern" (273) - wiederholt die heilsgeschichtliche Engführung entgegen: "Der religiöse Kontext (durch das Kruzifix bestärkt) und die Position des Totenkopfes zu Füßen der Gesandten lässt die Idee, den Tod überwunden zu haben, wirksam werden" (229), und wird zur Gewissheit verstärkt (381). Warum dann - und wie - Bild der Welt? Eine gewisse Gefahr besteht in der Annahme der Transparenz des Gemäldes zur historischen Realität. Als Beispiel sei die Beschreibung des Lautenkoffers unter der Etagere genannt. Wo andere phänomenologisch ein schwarzes Etwas, den sargartigen Doppelgänger der Gesandten und der Anamorphose sehen, schreibt Roberts: "Dieser Lautenkoffer ist aus einzelnen Holzspänen zusammengefügt und mit schwarzem Stoff oder schwarzer Farbe überzogen" (262). Es ist, als hätte sie ihn dem Bild entnommen, untersucht, zurückgelegt und sich dann seiner symbolischen Rolle zugewandt. Warnt Holbeins Anamorphose - und besonders ihr unbegreiflicher Schatten auf dem Kosmatenboden - uns nicht davor, seine veristische Darstellung von Realien mit deren materieller Präsenz und Zuverlässigkeit zu verwechseln? Holbeins "The Ambassadors" ist eher eine pictura imaginis mundi. Und daher stellt sich die Aufgabe, in der Roberts zufolge treibenden Kraft des Bildes, Concordia discors, dialektisch die Discordia concors zu erkennen und sich der Nachträglichkeit des Bildes zu widmen. Roberts' interessantes Verständnis des Gemäldes als beginnende Nachgeschichte der Krönung Anne Boleyns am 1. Juni 1533 und der Abspaltung der englischen Kirche von Rom, sowie ihr abschließender Wunsch, weitere Forschungswege geebnet zu haben (387), deuten in diese Richtung. Holbein gibt und gab uns oben links ein vom grünen Vorhang vertikalaxial gespaltenes kleines, silbergraues Kruzifix ohne Totenschädel und vor ihm und schlichtweg vor allem, mit ihm unvereinbar und doch untrennbar davon, einen anamorph verzerrten riesigen Totenschädel zu sehen. Roberts sieht in der Überschneidung von deren Koordinaten eine heilsgeschichtliche Auflösung des Bildrätsels (282). Nach wie vor denkbar, und womöglich unterstützt durch Roberts' Studien, ist die Anerkennung des unauflösbaren Widerspruchs dieser motivischen Verschiebung oder Spaltung.
Anmerkungen:
[1] Erwin Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932), in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft 95 (1985); Michael Hatt / Charlotte Klonk: Art History: An introduction to its methods, Manchester, 2006), 109.
[2] (http://www.geschichtstheorie.de), 3. Juni 2011.
[3] Bereits in le Temps de L'histoire (1949, 1954, Neuauflage Paris 1986) warnte Ariès: "L'histoire particulière est bien distincte de l'histoire totale et collective que nous avons 'reconnue' plus haut" (243) und plädierte daher für eine "histoire particulière" (248). Relevant in Roberts' Zusammenhang wäre auch Panofskys "Zum Problem der historischen Zeit" (Aufsätze, 77-83, 1927); Ulrich Raulffs Publikationen sowohl zu Warburg (2003) als auch zur Mentalitätsgeschichte (1986) hätten Roberts bei der Vermittlung ihrer zwei kritischen Zugänge helfen können.
Christiane Hertel