Frank Zöllner: Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci, Leipzig: Plöttner Verlag 2010, 340 S., ISBN 978-3-938442-69-2, EUR 34,90
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Bekannte Zitate, wie "Bewegung ist die Ursache allen Lebens" und "Wenn die Figuren nicht lebendige und derartige Gebärden machen, dass sie [...] die Absichten ihrer Seele ausdrücken, so sind sie doppelt tot", weisen Bewegung als gemeinsames Paradigma der Naturforschung und Kunsttheorie Leonardo da Vincis aus. Hat sich um den Künstler längst eine populäre Leonardo-Industrie entwickelt, so kann die philologische und wissenschaftshistorische Bearbeitung seines immensen Nachlasses ihrerseits respektable Fortschritte vorweisen. Chronologie und Quellenkenntnis wurden in den letzten Jahrzehnten entscheidend verbessert. Auf dieser Basis widmet Frank Zöllner der Frühgeschichte des Ausdrucksbegriffs bei Alberti und Leonardo eine positivistisch betonte Studie. Zwei Argumentationslinien durchziehen die sieben Kapitel: Zum einen sollen Leonardos wissenschaftliche und kunsttheoretische Ambitionen entpsychologisiert und auf die Bedingungen seiner beruflichen Karriere zurückgeführt werden. Zum anderen postuliert Zöllner einen dauerhaften Konflikt zwischen künstlerischer Praxis und Forschungsinteresse. Weder das Leonardo-Buch Sigmund Freuds, noch aktuelle Auseinandersetzungen damit finden eine Erwähnung.
In der Einleitung differenziert Zöllner den modernen subjektiven Ausdrucksbegriff von Konzepten der frühen Neuzeit. Zugleich grenzt er sich methodisch von kritischen Positionen der neueren Kunstgeschichte ab. Innerhalb der Leonardoforschung spricht er nur der Detailforschung wissenschaftliche Relevanz zu (29), von den Ansätzen der "Körpergeschichte" sieht er Leonardo nur marginal betroffen. Doch lässt sich "Ausdruck" von der "Disziplinierung" des Körpers trennen? Auch Leonardos Versuch, "eine möglichst objektive, von der Geschichte seiner Zeit unabhängige Position einzunehmen" (35), vermag die Historizität seines privilegierten Zugangs zur Objektivierung des Menschen, der Anatomie, nicht aufzuheben.
Die Theorieproduktionen Albertis und Leonardos verbindet die Motivation, über die Legitimierung der Kunst den eigenen sozialen Aufstieg zu sichern. Anhand des von Lorenzo Valla offensiv verteidigten Begriffs "voluptas" betont Zöllner im ersten Kapitel (41-69), Alberti habe die Kunst von moralischen Funktionen befreien wollen. Die Adaption rhetorischer Modelle sollte die Bildungselite gerade für die emotionale Wirkungsweise der Kunst gewinnen. Den in diesem Kontext neugeprägten Begriffen gilt besonderes Augenmerk. Im zweiten Kapitel (71-95) werden Äußerungen zu Körperbewegungen und affektivem Ausdruck abgeglichen. Antike Autoren beurteilten die Möglichkeit zur Darstellung von Charakter und Seele überwiegend negativ. Ebenso fasst Zöllner Leonardos Versuche zur Vermessung von Bewegung als apriorisch zum Scheitern verurteilt auf. Vorgängig seien seine physiognomischen Vorstellungen, die damit korrelierten Grotesken Köpfe datierten vor den ersten kunsttheoretischen Konzepten. Während er seine Theorie der Ausdrucksbewegungen nie habe formulieren können, seien seine physiognomischen Vorstellungen stabiler und hätten diese überdauert (87). Freilich gibt Zöllner die von der Galenischen Medizin geprägten, aber immer wieder revidierten Versuche Leonardos zum Leib-Seele-Zusammenhang nur verallgemeinert wieder. Den bekannten Aussagen zur Wirkmacht der Kunst, die im Kontext der Paragone am Mailänder Hof entstanden und nicht ganz ernst gemeint seien, stellt er pessimistischere Stellen nach 1500 gegenüber (92ff.). Leonardo reflektiere dort die "Zeichenhaftigkeit" der Kunst. Gemälde lieferten demnach, wie die von Leonardo mit "Holzstatuen" verglichenen schlechten Redner, seelen- und körperlose Signifikanten.
Die Kapitel drei und fünf (97-123, 155-169) ordnen Leonardos Bewegungsstudien in mehrere Phasen, beginnend mit den Versuchen zur Verwissenschaftlichung der Kunst durch die Vermessung des Körpers und die Geometrisierung der Bewegung. Auf die Verselbständigung dieses Projekts folgen nach 1500 neue Nutzanwendungen und intensive Studien der Muskulatur. Im Einschub "Angemessenheit statt Maß" macht Zöllner Leonardo als ersten Autor geltend, der den Begriff "decoro" auf die Bildgestaltung anwandte. In der Öffentlichkeit nicht mehr real praktizierbare Trauerriten seien zuvor in die Kunst verdrängt worden (128). Diskutiert wird hier auch der Topos des "ogni pittore dipinge sé". Zöllner deutet ihn primär als Kritik starrer Typisierungen und des von Leonardo embryologisch erklärten Wiederholungszwangs, dem er dennoch unterlag.
Mithilfe der Quellen zur Vorgeschichte demontiert Zöllner im sechsten Kapitel überzeugend die verbreitete Vorstellung, Leonardo sei mit der Darstellung der "Anghiari-Schlacht" aufgrund seiner republikanischen Sympathien beauftragt worden. Eine lokalgeschichtlich vertiefte ikonografische Analyse identifiziert die Figuren und verdeutlicht die Transponierung des Geschehens auf die Ebene der Mythologie. Aus Entwürfen hergeleitet, aber reduziert abgehandelt werden die mimischen Affekte und die Bewegungsmotive.
Eingehend untersucht Zöllner im letzten Kapitel (225-283) das Problem der Seelenmalerei im Quattrocento an exemplarischen Texten und Kunstwerken, die zu Leonardos Porträt der "Mona Lisa" hinführen. Erstaunlicherweise verbindet er die dort durch den "sfumato" erzeugten Licht- und Schattenwirkungen mit Leonardos optischen und maltechnischen Experimenten, aber nur allgemein mit dem hervorgehobenen (256f.) Ausdrucks-Begriff "aria". Als flüchtiges Phänomen impliziert "aria" einen aktiven Anteil der Rezipienten [1], in der Aufklärung wurde "aria" zugunsten der lebendigen Mimik kritisch gegen die Physiognomik gesetzt. Daher evoziert der Begriff eindeutig Leonardos Projekt einer Mikro- und Makrokosmos durchdringenden Pathognomik. [2] In der emotionalen Wirkung der "Mona Lisa" interagieren die vernachlässigten pathognomischen Momente mit den Effekten des "sfumato". Wenn Zöllner schließlich in Licht und Schatten "autonome Ausdrucksträger" erkennt (272-278), die zugleich die Überwindung der "Zeichenhaftigkeit" (278) und die Darstellung von Seele und Tugend (275) leisten, bleiben latente Widersprüche. Gerade die Schatten-Manifestation des zuvor meist ikonografisch extrapolierten Seelischen wäre zu konkretisieren gewesen.
Obschon die Thematik nicht immer stringent verfolgt und nur begrenzt fruchtbar gemacht wird: Dieses Buch trägt fundiert zur Begriffsgeschichte bei, bietet Einsichten in die Arbeitsweise Leonardos und leistet wichtige Detailforschung. In wesentlichen Teilen stützt es sich auf frühere Aufsätze Zöllners, so zur Anthropometrie (1989), zur Automimesis (1989), zur "Anghiari-Schlacht" (1991) und zur "Mona Lisa" (1993). Da der 1995 als Habilitationsschrift eingereichte Textcorpus unverändert blieb, erschließt und kommentiert ein Vorwort von 2009 eine Fülle neuerer Literatur. Zöllners Arbeiten werden darin rezipiert, und ein Archivfund fügt seiner Identifikation der "Mona Lisa" ein Indiz hinzu, das die weitere Debatte anregt. Während die spärliche Anzahl der Abbildungen den theoretischen Anspruch des Werks widerzuspiegeln scheint, bleibt der Verzicht auf ein Register unverständlich.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Georges Didi-Huberman: Air et pierre, in: Recherches en psychanalyse 3/1 (2005), 127-130.
[2] Vgl. Domenico Laurenza: Corpus mobile. Ansätze einer Pathognomik bei Leonardo, in: Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci. Natur im Übergang, München 2002, 257-301.
Ulrich Pfarr