Rezension über:

Adam Michnik (Bearb.): Przeciw antysemityzmowi 1936-2009. [Gegen Antisemitismus 1936-2009], Kraków: universitas 2010, 3 Bde., 3119 S., ISBN 978-83-242-1363-4, PLN 90,00
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Rezension von:
Jürgen Hensel
Jüdisches Historisches Institut, Warschau
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Hensel: Rezension von: Adam Michnik (Bearb.): Przeciw antysemityzmowi 1936-2009. [Gegen Antisemitismus 1936-2009], Kraków: universitas 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8 [15.07.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/07/20321.html


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Adam Michnik (Bearb.): Przeciw antysemityzmowi 1936-2009

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Dieser Überblick beginnt aus zwei Gründen in der Gegenwart, weil die letzten zehn Jahre bestimmend für die gesamte Debatte waren und weil sich auf knappem Raum so am besten erklären lässt, weshalb sie nicht anders verlief.

A. The Debate from Abroad, 2000 - 2006/8 - 2011

Das Bemerkenswerteste an dieser Debatte in drei Aufzügen ist, dass sie von außerhalb angestoßen wurde und Normen setzte. Ausgangspunkt war jedes Mal ein Buch von Jan Tomasz Gross, das dritte schrieb er zusammen mit Irena Grudzińska-Gross. [1] Beide stammen aus Polen, das sie kurz nach 1968 verließen. Inzwischen haben sie Lehrstühle an der Universität Princeton inne.

J. T. Gross' Rolle in dieser Debatte lässt sich am ehesten mit Götz Alys Rolle in der deutschen Holocaustgeschichtsschreibung vergleichen. Wie dieser behandelte er immer wieder andere Aspekte ein und desselben Themas, die - und hier besteht ein Unterschied - in Polen bislang nicht nur übersehen oder gemieden wurden, sondern sogar tabu gewesen waren. Er erzwang damit, stets unter hohem persönlichem Einsatz, die Fortsetzung der Debatte letztlich zum Nutzen aller. [2] Sein überragender Erfolg beruht dabei auf zwei unabdingbaren Voraussetzungen:

1. Er verstieß bewusst gegen die damalige political correctness. Diese stammte hinsichtlich der Behandlung von Kriegs- und Besatzungszeit 1939-1945 noch aus der Volksrepublik und hatte sie bereits zehn Jahre unter stiller Zustimmung der schweigenden Mehrheit überdauert, die - gemessen an der Heftigkeit ihrer Abwehrreaktionen - sie gut und gerne auch noch länger gehütet hätte. Doch Gross sprach nicht mehr summarisch von den üblich rezitierten (angeblich) insgesamt sechs Millionen polnischen Staatsbürgern, d.h. drei Millionen ethnischen Polen plus drei Millionen polnischen Juden, die von den Hitlerfaschisten ermordet worden seien, sondern dezidiert von den jüdischen Opfern des Holocaust, den die Deutschen im besetzten Polen durchgeführt hatten, und fragte weiter, wie dies angesichts der polnischen Mehrheitsbevölkerung so erfolgreich hatte geschehen können. In den "Nachbarn" gab er dann erstmals im Jahr 2000 eine mögliche Antwort: In Jedwabne und umliegenden Ortschaften sei der Judenmord z.B. im Juli 1941 mit deutschem Einverständnis auch mit Hilfe von polnischen Nachbarn geschehen. Diese These traf den moralischen Solarplexus einer Gesellschaft, die weiterhin in der festen Überzeugung lebte, sie sei aus Krieg und Besatzungszeit als Opfergesellschaft par excellence und moralisch ungebrochen hervorgegangen; denn es habe keinen polnischen Quisling gegeben, sondern im Gegenteil und einmalig im gesamten deutsch besetzten Europa einen polnischen Untergrundstaat, der u.a. - obwohl das mit der Todesstrafe bedroht war - mitgeholfen habe, Juden zu retten und in dessen Namen szmalcownicy (Erpresser Untergetauchter) zum Tode verurteilt und hingerichtet worden seien. In diesem Wunschporträt, das nur entfernt der Wirklichkeit entsprach und an entscheidenden Stellen blinde Flecken aufwies, war die polnische Bevölkerung spätestens seit Kriegsende von allen damals maßgeblichen Autoritäten und Eliten - von der römisch-katholischen Kirche bis hin zum Zentralkomitee der regierenden kommunistischen Partei - bestätigt und in seinem Sinne erzogen worden.

2. Gross, der seine entscheidende Ausbildung an nordamerikanischen Universitäten erhalten hatte, war während der drei Phasen der Debatte längere Zeit in Polen anwesend und nahm als polnischer Muttersprachler und Kenner der polnischen Geschichte und Kultur wesentlichen Einfluss auf Dauer und Verlauf der Debatte.

Wer sich bei diesen großen öffentlichen Auseinandersetzungen aus dem Publikum zu Wort meldete, war zumeist fachlich überfordert und reagierte hilflos empört mit larmoyanten Aufrechnungen der polnischen Opfer. Einige Historiker dagegen tarnten ihre Ratlosigkeit gleich zu Beginn der Debatte mit einer scheinbar völlig absurden Diskriminierung, die bald als Totschlagargument Furore machte, zu dem auch heute noch von "wahren Polen" gern gegriffen wird. Sie hielten Gross vor, er sei ein erbärmlicher, ja letztlich gar kein Historiker, sondern Soziologe oder Politologe. Das Signal war überdeutlich: Sie wollten nicht mit ihm über Jedwabne sprechen.

Wenn Gross die Jedwabne-Debatte schließlich doch für sich entscheiden konnte [3] und ihm ein Durchbruch in dem Sinne gelang, dass seitdem gemeinhin nicht mehr angezweifelt wird, dass auch polnische Opfer zugleich Täter sein konnten, so versandete insbesondere die öffentliche Debatte über seine beiden nächsten Bücher ziemlich rasch. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass das Allgemeinwissen nicht ausreichte, um seinen Argumenten etwas entgegenzusetzen. Es kann aber auch an den Argumenten respektive Vorwürfen gelegen haben, die bereits in den "Nachbarn" angeklungen waren, jetzt aber in "Angst" und "Goldene Ernte" eindeutig in den Vordergrund rückten, nämlich dass Polen sich während des Holocaust an jüdischem Eigentum vergriffen und bereichert, ja deswegen sogar zurückgekehrte Juden ermordet hätten, die den Deutschen entkommen waren. Es galt also, eine neue Lektion zu lernen - "Der Holocaust war von vornherein ein Raub-Mord, an dem sich auch Polen beteiligt haben" -, die als Zumutung empfunden wurde. Hier erfolgte eine bezeichnende Fortsetzung der Debatte mit anderen Mitteln. Autor bzw. Autor und Mitverfasserin wurden sogar angezeigt, sie hätten das polnische Volk verleumdet, ein Naziverbrechen begangen zu haben. Die Staatsanwaltschaft wies die Anzeige im ersten Fall (Angst, 2008) nach einer Untersuchung zurück, im zweiten Fall (Goldene Ernte, 2011) wurde sie erst gar nicht angenommen. Bei den "Nachbarn" war es deshalb nicht zu einer Anzeige gekommen, weil sich das Buch scheinbar nicht gegen "die" polnische Nation gerichtet hatte: Die Juden, die von den christlichen Nachbarn in der Scheune in Jedwabne verbrannt worden waren, sollten vor dem Juli 1941 den polnischen Staat verraten und mit den Bolschewiki kollaboriert haben.

Die Reaktionen auf den dritten Schlag von Gross sind gemischt. In der Öffentlichkeit (Presse und TV) wird er, wie erwähnt, kaum oder gar nicht mehr diskutiert. Unter den Wissenschaftlern wird Gross jedoch teils weiterhin für unverzichtbar gehalten, da die Debatte noch zu keinem befriedigenden Abschluss gekommen sei, teils werden vorsichtig Bedenken vorgebracht, da sein Vorgehen im Grunde kontraproduktiv sei. Der Ex-Jesuit Prof. Stanisław Obirek erklärte vor drei Jahren wörtlich: "Die [römisch-katholische] Kirche braucht Gross", und erläuterte diese Ansicht sehr deutlich u.a. mit dem Hinweis, dass Äußerungen von Papst Benedikt XVI. und polnischen Bischöfen zeigten, "dass sie noch lernen müssen, was der Holocaust ist."[4] Das Argument der Unverzichtbarkeit ist weiter aktuell. Die Märznummer der Monatsschrift ZNAK erschien unter dem Titel "Wozu haben wir Gross nötig?"[5] Um uns aufzurütteln. - Weil er die Dinge beim Namen nennt. - Weil er so hervorragend schreibt, wie ich schreiben können möchte. So ließen sich die Antworten des guten Dutzend zitierter Historiker und Publizisten kurz zusammenfassen, die auf seiner Seite stehen. Die Gegner scheinen ihn ebenfalls zu brauchen - um sich als lupenreine Wissenschaftler oder als Patrioten zu profilieren. Bereits im Januar hatte der Warschauer Historiker Marcin Zaremba seine große sympathisierend-kritische Rezension der "Goldenen Ernte" ohne wenn und aber wie folgt geschlossen: "Wir brauchen Jan Tomasz Gross. Ohne ihn wäre unser Selbstwertgefühl besser, aber unser intellektuelles Leben ärmer. Nur er konnte uns in der für Polen besten Zeit der Begeisterung [...] und des Stolzes auf die letzten 20 Jahre zwingen innezuhalten, zurückzusehen und unsere Unschuldsbesessenheit (Joanna Tokarska-Bakir) abzuarbeiten. Sein Verdienst ist es auch, wenn nach Jahren der Verdrängung die Mitschuld am Holocaust immer stärker in unser Bewusstsein dringt."[6]

B. Adam Michniks Anthologie "Gegen den Antisemitismus 1936-2009"

Unter denen, die Grossens Methode (die Wahrheit selbst dann auszusprechen, wenn sie schmerzt) als kontraproduktiv empfinden, sticht ohne Zweifel Adam Michnik hervor, diesmal als Herausgeber der dreibändigen Anthologie "Gegen den Antisemitismus 1936-2009", die mit 3119 Seiten das erste derart umfangreiche polnische Projekt ist. Die ausgewählten, aber nicht kommentierten Texte lassen sich in vier Gruppen einteilen:

1) publizistische Reaktionen auf antisemitische Äußerungen wie Ausschreitungen faschistoider Gruppierungen in den letzten Jahren der II. Republik (Pogrome, Numerus Clausus Kampagnen);

2) Beschreibungen von Verhaltensweisen ethnischer Polen als Augenzeugen des Holocaust, Artikel der Untergrundpresse 1941-1944, die von einer allgemeinen Solidarität mit den ermordeten Juden sprechen, in Wirklichkeit aber derartige Einstellungen in der polnischen Bevölkerung erst begründen sollten; Zeitzeugenberichte von Holocaustüberlebenden;

3) Analysen antisemitischer Einstellungen in der polnischen Bevölkerung, wie die Reaktion polnischer Intellektueller auf die antisemitische Welle 1945-1947 (z.B. Pogrom in Kielce), aber auch Äußerungen, die für die offizielle antijüdische und antiisraelische Propaganda 1956-1957 und 1967-1968 kennzeichnend sind oder das Verhalten nach 1989 betreffen, sowie

4) historische Analysen antijüdischer Stereotype, die auf die Gleichgültigkeit angesichts des Holocaust und das Ausmaß pathologischen Verhaltens (wie Erpressungen u.Ä.) sowie Analysen weiterer Quellen und Einstellungen eingehen.

Ergänzt wird die Publizistik durch einige streng wissenschaftliche Beiträge und zwei Gedichtsammlungen. Band I (bis 1945) schließt mit Gedichten aus der Kriegs- und Besatzungszeit, während in Band II (bis 1989) publizistische Texte zu 1968 von satirischen Versen ergänzt werden. Die Berechtigung wissenschaftlicher Texte begründet Michnik damit, dass viele Polen zwar selbst keine antijüdischen Vorurteile, aber dennoch eine Schwäche für verschiedene antisemitische Legenden hätten. Sie zu entschärfen, gäbe es nur eine Möglichkeit: die Wahrheit sagen, Tatsachen aufzeigen, konkret werden und Zahlen nennen (S. XI-XII). Das täten Wissenschaftler und deshalb seien ihre Arbeiten in seiner Anthologie zu finden.

Diese Anthologie ist ein höchst privates Projekt ihres Herausgebers, so privat, dass es schwer fällt, Kriterien zu benennen, auf die man eine Einschätzung stützen könnte. Wie er selbst schreibt und bei der Vorstellung in verschiedenen polnischen Städten mehrfach sagte, sei sein Leitgedanke gewesen zu beweisen, dass "die Polen" kein Volk von Antisemiten seien, "den Antisemitismus [also nicht] mit der Muttermilch eingesogen" hätten. Bei der ersten Buchvorstellung im Warschauer Jüdischen Historischen Institut wurde bemängelt, dass in der Einleitung keine Hinweise zur Interpretation gegeben würden, um mit der Textmasse umgehen zu können. Es fehle ein wissenschaftlicher Kommentar. Die Textauswahl sei tendenziös und nicht repräsentativ, da nicht die wirklichen Kräfte gezeigt würden, die den Antisemitismus bekämpft hätten. Die Rolle der Kommunistischen Partei Polens (existierte bis 1938) sei marginalisiert, die antirassistische Politik ihrer Nachfolgerinnen, der Polnischen Arbeiterpartei (gegründet 1942) und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (ab 1948) übergangen worden, dafür seien katholische Zeitungen wie "Tygodnik Powszechny" und die Monatsschrift "Więź" überrepräsentiert.

Michnik ließ keine Kritik gelten. Er habe kein Buch darüber geschrieben, wie die Polen sich gegen den Antisemitismus gewehrt oder versagt hätten. Eine Anthologie wie die vorliegende habe noch niemand vor ihm zustande gebracht. [7]

Für die Darstellung der gegenwärtigen Debatte ist wichtig, dass Michnik in den Essays von Gross gezielte Provokationen sieht. Er nannte dessen "Goldene Ernte" die "dunkle Seite der Macht" im Kampf gegen den polnischen Antisemitismus. Das sei die Art, "mit dem Schlagring in die Fresse zu schlagen", zu schockieren und die Scham der Polen für die szmalcownicy, für den Pogrom in Kielce und für Jedwabne zu evozieren. Dies rufe zwar ein gewaltiges Medienecho und eine Diskussion in der Bevölkerung hervor, aber er, Michnik, wähle lieber seine "helle Seite der Macht", d.h. er nenne positive Vorbilder der polnischen Kultur und Geistesgeschichte, auf welche die Polen stolz sein könnten.

Michnik sieht sein Ziel darin, eine Lücke im sozialen Wissen der Eliten zu schließen und mit bestehenden Stereotypen zu brechen, die auf Unwissenheit beruhen. Er will ein Spektrum verschiedener Einstellungen zeigen. Seiner Einschätzung nach hat es in dieser Hinsicht in den letzten 20 Jahren einen wesentlichen Durchbruch gegeben. Die Polen hätten begonnen, sich mit den "Dämonen ihrer eigenen Geschichte" zu befassen. Damit setzt der Herausgeber einer exzeptionellen Anthologie auf einen langfristigen Lernprozess. Angesichts des bereits erwähnten mageren Wissenstandes wäre dessen Zunahme zweifellos wünschenswert.

C. Polnische Debatten 1947 - 1994/2006

Bei allen zugestandenen Wissenslücken lag es jedoch nicht nur an diesen, wenn bis zur Jedwabne-Diskussion (2000) keine zufriedenstellende Debatte über den Antisemitismus in Polen bzw. das polnisch-jüdische Verhältnis während des Holocaust oder später zustande kam. Wie soll es nach der jetzt bereits abebbenden Diskussion über die "Goldene Ernte" weitergehen? Soll man auf das vierte Buch respektive die nächste Beschimpfung von Gross warten? Besteht die Chance auf eine Debatte, die nicht von ihm ausgelöst wird?

Ich möchte im Folgenden vier unterschiedliche Debattenansätze aus den letzten 60 Jahren vorstellen, die, obwohl wenig weiterentwickelt, in der kollektiven Erinnerung präsent sind. Zum Schluss wird gefragt, warum diese Debatten nicht fortgesetzt und vertieft wurden und ob inzwischen Voraussetzungen für eine eigenständige polnische Debatte bestehen.

C.1. Tadeusz Borowski und Zofia Kossak. Zwei Lagererinnerungen 1947

Das erste Vorgefecht, das noch nichts direkt mit dem Antisemitismus in Polen zu tun hatte, begann im Januar 1947 mit der wohl bekanntesten Rezension in der polnischen Literaturgeschichte nach 1945. Ihr Verfasser, der damals noch keineswegs berühmte und auch noch keineswegs "bolschewistische" Schriftsteller Tadeusz Borowski, gab seiner Rezension, in der er der bereits vor dem Krieg berühmten national-katholischen Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka vorwarf, ihre Haft im Frauenlager Auschwitz-Birkenau verkitscht und verfälscht zu haben, den schlichten Titel "Alice im Wunderland". [8] Er kannte sich aus, hatte selbst Auschwitz und den Todesmarsch nach Dachau überlebt. Seine Verlobte war im Frauenlager Auschwitz-Birkenau gewesen, nur in wesentlich schlechterer Verfassung als Kossak, die in der Lage war, noch vor Kriegsende die Niederschrift ihrer Lagererinnerungen zu beenden. Borowski nahm ihr übel, sehr übel, dass sie nicht den Mut hatte, sich selbst in die Erzählung einzuführen [Kossak schrieb tatsächlich unpersönlich] und mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Sie müsse doch bedenken, dass sich Leser bei der Schilderung all der Grausamkeiten die Frage stellten: Und wie kam es, dass Sie überlebt haben?

Kossak legt in ihrem Buch - nota bene das erste Auschwitz-Buch (Borowski) überhaupt - am Beispiel der weiblichen polnischen Häftlinge gewissermaßen den Grundstein für ein überhöhtes Polentum, das die Leidensgenossinnen anderer Völker in jeder Hinsicht disqualifizierte. Bei Borowski ist in dieser Rezension bereits in Grundzügen der Vorarbeiter Tadek aus seinem damals noch nicht veröffentlichten Buch "Bei uns in Auschwitz" zu erkennen, jene berühmte Gestalt (mit autobiografischen Zügen), die gut eine Generation vor allen Holocaustforschern die Erfahrung machte, dass ein Opfer auch zugleich Täter sein kann. Borowskis Werke sind bis heute Schullektüre. Aber seine große Erkenntnis wurde nicht weitervermittelt. In der Entrüstung der - nicht nur katholischen - Kritik, die nach dieser Rezension losbrach, gab es wenig Gelegenheit zur Rezeption. Kossak berücksichtigte in der zweiten Auflage ihres Buchs Borowskis Kritik.

C.2 Die "Enzyklopädisten" 1966-1968 [9]

Der Artikel "nationalsozialistische Konzentrationslager" in der Großen Allgemeinen Enzyklopädie des Staatlichen Wissenschaftsverlages [10] erregte Anstoß, weil zwischen Konzentrationslagern (KL) und Vernichtungslagern bzw. -zentren unterschieden wurde und sich aus einer Tabelle die jeweiligen Opferzahlen entnehmen ließen. Aus ihnen ging eindeutig hervor, dass in den Vernichtungszentren zu 99 % Juden und zu 1% "Zigeuner und andere" die Opfer waren. Die Gesamtzahl wurde damals mit insgesamt 5,7 Mio. zu hoch veranschlagt (nach heutigem Forschungsstand waren es 2,7 Mio.). Man darf vermuten, dass mit dieser Aufteilung, die heute eine Selbstverständlichkeit ist, und womöglich auch mit den hohen Zahlen versucht wurde, darauf aufmerksam zu machen, dass in sonstigen Publikationen der Mord an den Juden gewöhnlich verschwiegen wurde. Im Juli 1967 erhielt der Verlag vom staatlichen Kombattantenverband ZBoWiD einen Offenen Brief zum beanstandeten Artikel. Als daraufhin Anfang August ein kritischer Artikel in einer Literaturzeitung erschien [11], reagierte das ZK der PVAP mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der den zuständigen Chefredakteur der Abteilung Enzyklopädien und Wörterbücher abmahnte und weitere Personen bestrafte. Diese Maßnahme hatte dann sehr spezifische Folgen. Bis Ende Mai 1968 erhielt die lesende Bevölkerung Gelegenheit, sich in ca. 230 Presseartikeln mit den Gründen für die Kritik am Verlag bekannt zu machen. Der Verlag bediente sich dabei einer in der UdSSR bei der Großen Sowjet-Enzyklopädie erprobten Zensurmaßnahme und schickte den Abonnenten seiner Enzyklopädie im Dezember 1968 kostenlos zusammen mit der Lieferung von Band XI eine vierseitige Errata-Einlage mit einem völlig neu bearbeiteten Schlagwort "nationalsozialistische Lager" zu. [12] Dort wurde nicht mehr zwischen KL und Vernichtungszentren unterschieden, dafür gab es aber zusätzlich 60 Zeilen über Polen und Polinnen als Opfer der Vernichtung in KL, worüber im kritisierten Schlagwort bis auf die Erwähnung von einigen Dutzend Polinnen, die man zu sogenannten medizinischen Versuchen missbraucht hatte, nichts zu lesen gewesen war.

C.3 Jan Błoński: Die armen Polen blicken aufs Getto 1987 [13]

Dieser Artikel war der wichtigste in der Geschichte des "Tygodnik Powszechny", der eine große Rolle in der Geschichte des polnisch-jüdischen Dialog spielen sollte. Błoński analysiert darin zwei Gedichte von Czesław Miłosz [14] über die Vernichtung des Warschauer Ghettos; das allgemein bekannte "Campo di Fiori" und ein anderes weniger eindeutiges ebenfalls aus dem Jahr 1943, "schrecklich, weil voller Angst". Das zweite Gedicht regte Błoński zu dem Artikel an, der einen Empörungssturm hervorrief, da er tief verwurzelte polnische Denkstrukturen antastete. [15]

Inzwischen besitzt der Essay Kultstatus und ist in jeder Anthologie über den polnischen Antisemitismus zu finden. Błoński hatte erstmals die befremdliche Tatsache angesprochen, dass die polnische Bevölkerung offenbar überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, dass in Polen fast eintausend Jahre lang Juden gelebt hatten und die Deutschen im Holocaust praktisch alle polnischen Juden vor den Augen der Polen in der gemeinsamen polnisch-jüdischen Heimat ermordet hatten. Die Reaktion auf seinen Artikel zeigte, dass sich seit Kriegs- und Besatzungszeiten und damit seit der II. Republik, deren horrenden Antisemitismus Błoński auch erwähnte, nichts geändert hatte. Die Redaktion gab damals an, über 200 Zuschriften erhalten zu haben, von denen sie aber eine Reihe wegen ihrer offen antisemitischen Tendenz für unveröffentlichbar hielt.

C.4 Michał Cichy: Polen - Juden: Dunkle Seiten des Aufstands 1994 [16]

Ich entschuldige mich bei den Aufständischen 2006

Nicht weniger "emotional" verlief zunächst auch die Debatte, die Michał Cichy 1994 auslöste. Anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstands von 1944 veröffentlichte die Gazeta Wyborcza einen Artikel Cichys, in dem dieser in 25 Thesen schildert, wie auf der sogenannten arischen Seite Warschaus, wo die Bewohner seit Jahren keinen Juden mehr gesehen hatten, infolge von Kämpfen und Zerstörungen plötzlich einige Juden auftauchten und wie sich die polnische Zivilbevölkerung und die Aufständischen ihnen gegenüber verhielten. Der Artikel thematisiert, dass die Juden manchmal als "unerwünschte Elemente" abgelehnt wurden und vor allem, dass ca. 60 Jüdinnen und Juden von Aufständischen ermordet und auch beraubt worden sein sollen. Cichy selbst bemerkte, dass einige Dutzend ermordeter Juden eine statistische Marginalie angesichts von etwa 200.000 Aufstandsopfern seien, doch richte sich die Geschichte nicht nur nach den Gesetzen der Statistik.

Die Reaktionen, Rezensionen, Gutachten und andere Meinungsäußerungen von Presse, Veteranen und Historikern waren zumeist vernichtend. Cichy wurde vorgeworfen, den Warschauer Aufstand und seine Opfer verhöhnt zu haben. Es gab in der Tat Erklärungsbedarf. Professor Tomasz Strzembosz, der sechs Jahre später in der Jedwabne-Debatte zum Antipoden von Gross wurde, fragte stellvertretend für viele, warum der Artikel, ohne weitere Gutachten abzuwarten, so spontan habe erscheinen müssen. Eine solche behutsamere Vorgehensweise hätte man anlässlich des 50. Jahrestag des "größten Aufstands im besetzten Europa gegen den Totalitarismus, bei dem über 200.000 Menschen ihr Leben opferten," doch erwarten dürfen. Er verdächtigte die Zeitung und ihren Herausgeber Adam Michnik, "diesen Jahrestag als erste auf ihre Weise begehen zu wollen".

Michał Cichy schwieg zu diesem Thema - bis zum 23. Dezember 2006, als er sich mit einem 850-Worte Artikel in der Gazeta Wyborcza bei den Warschauer Aufständischen entschuldigte. Drei Jahre später kam er noch einmal auf das Thema zurück:

Es gibt eine Wahrheit der Tatsachen und die ist, dass alle Juden, die von Männern mit AK- und NSZ-Armbinden erschossen wurden, wie ich schrieb, tatsächlich erschossen worden sind. Es gibt auch eine geistige und symbolische Wahrheit und die lautet wie folgt: Man hätte diesen Text 1994 nicht in der Gazeta Wyborcza veröffentlichen dürfen, nicht zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes. [17]

D. Fazit

Sucht man in den vier Beispielen nach Gemeinsamkeiten, so trifft man mindestens dreimal auf das vorbildhafte polnische Volk, das in Wort (2x) und Tat (1x) hervorgehoben wird, dem aber auch seit eh und je Unrecht geschieht. So war es während der Besatzungszeit, in der Volksrepublik und so ist es auch jetzt in der parlamentarischen Demokratie. Man könnte es einen Phantomschmerz (Bömelburg) nennen, der aus dem Verlust der Staatlichkeit im 19. Jahrhundert herrührt und sich im 20. Jahrhundert und insbesondere nach 1989 in einer geradezu unbegreiflich verflachten Vergötzung der II. Republik äußert. Bis heute wird dem Ziel einer undefinierten Unabhängigkeit praktisch alles untergeordnet, wobei der beanspruchte Opferstatus für das eigene Volk zu einem national vereinheitlichten Denken führt und auch häufig eine binäre Kodierung der Weltsicht einbezieht, Allgemeinplätze, die Samuel Salzborn zufolge antisemitisches Gedankengut stark befördern.

Derartige Einstellungen werden daher weiterhin eine Debatte über den Antisemitismus in Polen, über das polnisch-jüdische Verhältnis und über Mitschuld der polnischen Bevölkerung am Holocaust zumindest erschweren. Wenn sich in Polen nicht die kritische Masse findet, die diese Debatte durch- und fortsetzt, wird wohl ein viertes Buch von Gross nötig sein.

Doch der Optimist sagt: aller guten Dinge sind drei. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass der Vergleich zwischen Aly und Gross, der sich eingangs nur auf die ständige Repetition eines Themas unter verschiedenen Aspekten beschränkte, auch auf inhaltliche Innovationen ausgeweitet werden kann. Vielleicht kommt auch einmal die Zeit für methodologische Fragestellungen. In den "Nachbarn" war sich Gross der Spezifik dieser Problematik zwar bewusst, aber er entschied kurzerhand, dass Quellen zum Holocaust einen besonderen Wert haben und man stets schweigend berücksichtigen müsse, dass die meisten verloren gegangen oder nie geschrieben worden seien. Das war ein Notbehelf. In der "Goldenen Ernte" benutzt und empfiehlt er die dichte Beschreibung. Das ist schon solider. Hier muss es weitergehen.


Anmerkungen:

[1] (1) Jan T. Gross, Sąsiedzi - historia zagłady żydowskiego miasteczka [Nachbarn. Die Geschichte der Vernichtung einer jüdischen Kleinstadt], Sejny: Fundacja Pogranicze 2000, 163 S.; dt.: Jan T. Gross: Nachbarn - Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001, 196.

(2) Jan T. Gross: Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation. Princeton and Oxford: Princeton University Press 2006, S. 303; poln.: Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historii moralnej zapaści [Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg. Die Geschichte eines moralischen Zusammenbruchs]. Kraków 2008, 343.

(3) Jan T. Gross / Irena Grudzińska-Gross, Golden Harvest. Oxford University Press 2011, S. 144; poln. Jan T. Gross , współpraca Irena Grudzińska-Gross, Złote żniwa: rzecz o tym, co się działo na obrzeżach zagłady Żydów [Goldene Ernte. Was am Rande der Judenvernichtung geschah], Kraków: Znak, 2011, 202.

[2] In dieser bewussten Wiederholung sehe ich die entscheidende Ähnlichkeit, die meines Erachtens auch einen sinnvollen Vergleich mit Daniel J. Goldhagen ausschließt, obwohl die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit und Historikerzunft auf "Hitlers willige Vollstrecker" kaum weniger spektakulär ausfielen als in Polen die Reaktionen auf Gross' "Nachbarn". Doch Goldhagens Buch blieb ein Einzelerfolg.

[3] Wokół Jedwabnego [Über Jedwabne]. Bd 1: Studia [Beiträge], hg. von Paweł Machcewicz und Krzysztof Persak. Warszawa: IPN 2002, 525 S. / Wokół Jedwabnego. Bd. 2: Dokumenty [Dokumente], hg. von Paweł Machcewicz und Krzysztof Persak. Warszawa: IPN 2002, 1034 S. / [Auszüge in:] Edmund Dmitrów, Pawel Machcewicz, Tomasz Szarota, Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung im Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker. Aus dem Polnischen von Beate Kosmala. Mit Vorworten von Leon Kieres, Wolfgang Benz / Beate Kosmala und Angelica Schwall-Düren [= Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft - Bundesverband e.V.. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Nationales Gedenken in Warschau und dem Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Osnabrück 2004. / Sehepunkte-Rezension von Stephanie Konitz. http://www.sehepunkte.de/2003/06/1934.html ./ Jan T. Gross: Wokół Sąsiadów. Polemiki i wyjaśnienia [Strittige Diskussionen und Erläuterungen]. Sejny: Pogranicze 2003, 121 S. / Die "Jedwabne-Debatte" in Polen - Dokumentation [53 ausgewählte und ins Deutsche übersetzte Beiträge aus polnischen Tageszeitungen, Zeitschriften und dem Internet] hg. von Ruth Henning. Potsdam: Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg e.V., 2001 = TransOdra 23. Barbara Engelking / Helga Hirsch (Hgg.) Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. Frankfurt am Main 2008, 329.

[4] Stanisław Obirek, Kościół potrzebuje Grossa; in: Mariusz Gądek (Hg.), Wokół strachu. Dyskusja o książce Jana T. Grossa, Kraków 2008, 87-92, hier: 87, 89 [die deutschspachige Fassung befindet sich in Engelking, Hirsch, Unbequeme Wahrheiten, s. Anm. 3, letzte Position].

[5] Znak miesiecznik nr 670, marzec (3) 2011: Po co nam Gross? Es handelt sich um eine Zeitschrift des gleichnamigen Verlages [dt. Zeichen], der Grossens Bücher "Angst" und "Goldene Ernte" herausgab.

[6] Marcin Zaremba, Biedni Polacy na żniwach [Die armen Polen bei der Ernte], in: Gazeta Wyborcza vom 14.1.2011, letzte Aktualisierung am 17.1.2011.

[7] Wenn es allein um den Umfang geht, dürfte das stimmen. Allerdings hat François Guesnet vor knapp zwei Jahren ebenfalls eine Anthologie zu diesem Thema vorgelegt. Sie umfasst mit 200 Jahren einen wesentlich längeren Zeitraum und enthält antisemitische Texte sowie solche gegen den Antisemitismus, die allerdings alle nur von ethnischen Polen stammen. Siehe: Der Fremde als Nachbar. Polnische Positionen zur jüdischen Präsenz. Texte seit 1800. Hrsg.: François Guesnet, Frankfurt am Main 2009, 635.

[8] Tadeusz Borowski, Alicja w krainie czarów, in: Pokolenie, Nr. 1 (1947) vom 12.1.1947. Zofia Kossak, Z otchłani. Wspomnienia z lagru [Aus dem Abgrund. Erinnerungen aus dem Lager], Księgarnia W. Nagłowskiego Częstochowa - Poznań, 1946, 259 S. Nach Borowski handelte es sich um das erste "Auschwitzbuch" überhaupt. URL: http://docs5.chomikuj.pl/252956498,0,1,T.-Borowski,-Alicja-w-krainie-czar%C3%B3w-%28o-Zofii-Kossak-Szczuckiej,-Z-otch%C5%82ani.-Wspomnienia-z-lagru%29,-Pokolenie-nr-1,-1947.docx

[9] Verwendete Literatur: Tadeusz P. Rutkowski, Adam Bromberg i "encyklopedyści". Karta z dziejów inteligencji w PRL. Warszawa: Wydawnictwo Uniwersytetu Warszawskiego 2010, 308 S. / URL: http://wydawnictwo.pwn.pl/afera-encyklopedystow.html

[10] Wielka Encyklopedia PWN, Band VIII/1966, 87-89.

[11] W. Machejek, Smutno mi, Boże [Mir ist so traurig, Herr Gott]; in: Życie Literackie vom 6. August 1966.

[12] Państwowe Wydawnictwo Naukowe, WEP PWN, wkładka do tomu XI-1968, Od Wydawnictwa [Lieferung mit Bd. XI-1968. Vom Verlag]. Sicherheitshalber erschien die neue Fassung noch einmal im Ergänzungsband (XIII/1970).

[13] Biedni Polacy patrzą na getto; in: Tygodnik Powszechny Nr. 2 (1959) vom 11.1.1987 [Erstdruck. Im Übrigen erschien er fast auf den Tag genau 40 Jahre nach Borowskis o.g. Rezension, die am 12.1.1947 erschien.]; dt. VIA REGIA - Blätter für internationale kulturelle Kommunikation Heft 21/22 1995, hg. vom Europäischen Kultur- und Informationszentrum in Thüringen, URL: http://www.via-regia.org/bibliothek/pdf/Heft2122/blonski_armen_polen.pdf

[14] Beide entstanden in der Zeit zwischen Frühjahr 1943 (Ghettoaufstand) und Ende 1944.

[15] http://tygodnik.onet.pl/30,0,21303,1,artykul.html

[16] Polacy - Żydzi: Czarne karty powstania; in: Gazeta Wyborcza vom 29.1.1994 / Przepraszam Powstańców; in: Gazeta Wyborcza vom 23.12.2006. Wojna pokoleń przy użyciu "cyngli", http://www.dziennik.pl 21.05.2011

[17] AK, dt. Heimatarmee, sie unterstand der polnischen Exilregierung in London; NSZ, dt. Nationale Streitkräfte, faschistoide bewaffnete Untergrundorganisation seit 1942.

Jürgen Hensel