Rezension über:

Beat Kümin / James C. Scott (eds.): Political Space in Pre-industrial Europe, Aldershot: Ashgate 2009, XIII + 282 S., ISBN 978-0-7546-6072-9, GBP 55,00
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Rezension von:
Malte Griesse
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Malte Griesse: Rezension von: Beat Kümin / James C. Scott (eds.): Political Space in Pre-industrial Europe, Aldershot: Ashgate 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/16597.html


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Beat Kümin / James C. Scott (eds.): Political Space in Pre-industrial Europe

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Der vorliegende Band ist, nicht unüblich für Sammelbände, relativ heterogen. Die Beiträge reichen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, von Mikrostudien bis zu größer angelegten Synthesen auf der Grundlage der Forschungsliteratur. Konzeptuelle Klammer ist der spacial turn. Dem hat sich das internationale Forschungsnetzwerk "Public Sites - öffentliche Räume - lieux d'échange, 1300-1800" verschrieben, aus dem der Band hervorgegangen ist. Während das Netzwerk auch Wissenschaftler in Frankreich einschließt, liegen die Hauptschwerpunkte des Bandes erklärtermaßen auf England und dem Reich.

In seiner Einleitung umreißt Kümin die Ziele des Netzwerks ebenso wie den Aufbau des Bandes. Letztlich will das Buch - das erste in einer geplanten Trilogie (Politik, Soziales/Religiöses und Ökonomie) - eine Kulturgeschichte des Politischen mit Raumfragen verknüpfen. Dabei soll die Sensibilität für räumliche Dynamiken geschärft und Raum nicht mehr als bloß zu füllender "Container", sondern als sozial und relational konstruierte Größe verstanden werden. Zwei Fragen organisieren die Anordnung der Aufsätze in den zwei Hauptteilen: 1) die Frage, nach den Orten, an denen politischer Austausch stattfand (Political Sites), und 2) die nach dem Einfluss von Raumdimensionen auf das politische Leben in unterschiedlichen Kontexten (Spacial Politics). .

Da die Räume ohnehin in ihrer Dynamik erfasst werden sollen, gibt es Überschneidungen zwischen den beiden Hauptteilen. Die meisten Beiträge aus den political sites würden gleichfalls in die Rubrik der spacial politics passen. Das gilt für den Artikel von Henry J. Cohn zu den wechselnden Orten, an denen die Reichstage (vor der Festlegung auf Regensburg) stattfanden, und den Interaktionsmöglichkeiten, die sie für die verschiedenen sozialen Schichten der Stadtbevölkerungen boten. Ebenso gilt es für den Beitrag von Ronald Asch zu den Raumpolitiken an den europäischen Höfen, der unterscheidet zwischen einer spanisch-burgundisch-habsburgischen Traditionslinie, die den Zugang der Höflinge zu den Räumen des Monarchen stark reglementierte, und einer "liberaleren" französisch-englisch-italienischen, wo der offenere Palastraum durch die größere Ausdifferenzierung der Etikette kompensiert werde.

Die Beiträge von James R. Brown und Peter Clark nehmen ebenso wie der im zweiten Teil platzierte Artikel von David Zaret englische Trinkhäuser in den Blick. Zaret zeigt, wie die für die Zeit des englischen Bürgerkriegs so charakteristischen öffentlichen Petitionen häufig in Trinkhäusern entstanden, wobei man sich aber in der Folge bemühte, die teilweise diskreditierenden Herkunftsorte zu verbergen und mithilfe des Drucks einen virtuell-universalen Raum zu schaffen, der den abgebildeten Positionierungen in den politischen Auseinandersetzungen Glaubwürdigkeit verlieh. Clarks Thesen zur zentralen Bedeutung der Clubs und Assoziationen im georgianischen England, die sich ebenfalls vorzugsweise in Trinkhäusern versammelten, knüpfen chronologisch an Zarets Studie an, wobei die Trinkhäuser spätestens im Umfeld der Glorious Revolution zu respektablen Orten avanciert seien. Ähnlich wie Asch für die Höfe, spannt Clark einen breiten synchronen europäischen Vergleichsrahmen auf (der allerdings bisweilen etwas willkürlich wirkt) und ergänzt ihn noch um einen diachronen auf England bezogenen, um so die Clubs von den Bruder- und Genossenschaften auf dem Kontinent und im vorrevolutionären England abzugrenzen. Brown findet hingegen in den Trinkhäusern einen der wichtigsten Orte horizontaler Überwachung, an der sich viele Menschen beteiligten - gerade dort, wo es um die Beobachtung und Denunzierung von Vertretern marginaler Gruppen wie Vagabunden und Prostituierte ging. Brown kontrastiert seinen Befund mit den Vorstellungen zeitgenössischer Obrigkeiten und heutiger Historiker, die in den Trinkhäusern (vor Clarks Zeit) in erster Linie einen Hort für Protest sehen. Doch wenn man berücksichtigt, dass die Träger der frühneuzeitlichen Rebellionen meist respektable Vertreter der lokalen Gemeinschaften waren, dann fällt der Widerspruch gar nicht mehr so eklatant aus. Vielmehr ließ sich durch derartige Exklusionsmechanismen und Feindbilder lokaler Zusammenhalt stärken, der häufig gerade eine Voraussetzung für Revolten war.

Während Ian Whyte mit der enclosure-Bewegung in Cumbria im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine für England späte Parzellierung und Privatisierung der vormaligen Allmende unter die Lupe nimmt und zeigt, welche komplexen Interessenlagen selbst die mittleren und Unterschichten von Widerstand absehen ließen, interessiert sich Alexander Schlaak für einen Aufstand der Bader und Barbiere in der Reichsstadt Esslingen (1729-31). Besonders konfliktträchtige Momente in den Auseinandersetzungen zwischen der Berufsgruppe der Barbiere mit einigen Vertretern der Ärzteschaft waren räumliche Überschreitungen, die nach einigen missglückten Versuchen, die Ulmer Gilden und den Ulmer Rat in die Angelegenheit hineinzuziehen, in einer definitiven Transzendierung des städtischen Raumes gipfelten, als die Angelegenheit vor ein kaiserliches Gericht ging. Dagegen argumentiert Christine Carpenter vom Zentrum her, wenn sie nach der regionalen Implementierung königlicher Herrschaft im spätmittelalterlichen England fragt und dabei unterschiedliche Machtkonstellationen unter den regionalen Adligen aufzeigt, bei denen Abwesenheit und Präsenz bzw. die Integration in lokale Netzwerke entscheidend waren. Lokale Autonomien, die wie eine Schwäche der zentralen Herrschaft anmuten, erweisen sich bei näherem Hinsehen als durchaus funktional, denn gerade in Krisensituationen wurde immer wieder deutlich, wie man auf die Königsmacht angewiesen war.

Steve Hindle und Beat Kümin nehmen die englische Kirchengemeinde in der longue durée unter Raumgesichtspunkten in den Blick, wobei sie - nicht ganz erstaunlich - die Reformation als den entscheidenden Wendepunkt ausmachen. Vieles, was traditionell unter Säkularisierung lief, wird nun verräumlicht und die Autoren haben mehrere Illustrationen beigefügt, die das Kirchengebäude nicht nur als den zentralen Bezugspunkt der Gemeindemitglieder zeigen, sondern auch die metaphysischen Verbindungen, die mit dem Wegfall von Limbus und Purgatorium eine fundamentale Veränderung der mental maps brachten. Ausgehend von der Unklarheit der Grenzen der Alten Eidgenossenschaft beschäftigt sich Andreas Würgler mit den frühneuzeitlichen kartographischen Darstellungen der Schweiz, die er unter anderem mit Angaben in internationalen Friedensverträgen vergleicht. Das Ergebnis ist eindeutig: Auf den Karten - nicht nur auf schweizerischen, sondern auch auf französischen, italienischen, deutschen, niederländischen und englischen - wird die Eidgenossenschaft größer dargestellt, als sie war, was nicht nur auf den komplexen Status dieser "république composée", sondern auch auf die geringere Bedeutung der Grenzen im frühneuzeitlichen Europa zurückzuführen sei. Die deutlichsten Unterschiede sind nicht "nationaler", sondern konfessioneller Natur. Dabei waren die protestantischen Darstellungen den Verträgen näher und bezeichnenderweise haben sich die Staatsgrenzen der heutigen Schweiz den kartographischen Projektionen weitgehend angepasst.

Eine solche self-fulfilling prophecy war den Projektionen der Hochstapler, mit denen sich Tobias B. Hug befasst, nicht beschieden. Anders als der falsche Demetrius in der Moskauer Zeit der Wirren, der sich immerhin ein knappes Jahr (1605-06) als Zar auf dem Thron halten konnte, und anders auch als die "großen" Vorbilder des 15. Jahrhunderts, Perkin Warbeck und Lambert Simnel, blieben die falschen Edwards im England des 16. und 17. Jahrhunderts kleine Fische. Trotzdem fanden sie Anhänger gerade in Zeiten sozialer und ökonomischer Krisen, die in der zeitgenössischen Repräsentation oft mit einem Machtvakuum verbunden wurden. So schufen die Prätendenten neue politische Räume. Auch wenn die parallel untersuchten falschen Beamten, wenn sie mithilfe von gefälschten Dokumenten Geld von ihren Opfern erpressten, in erster Linie auf ihre persönliche Bereicherung aus waren, so interessiert sich Hug gerade für den "Dialog", den solche Betrugsfälle auslösten, die durch die mangelnde Definition des Beamtenstatus begünstigt wurden und so die Notwendigkeit aufzeigten, deutlichere symbolische Distinktionsmerkmale für die Repräsentanten der politischen Macht zu schaffen.

In den beiden ausblickenden Artikeln wollen die Autoren, ähnlich wie James C. Scott in seinem kurzen Vorwort, anhand einzelner Aspekte Verbindungslinien zwischen den Beiträgen herstellen und sie mit eigenen Beispielen anreichern, so Bernard Capp, wenn er unter anderem die Frage nach dem Machtvakuum herausgreift und sie in eine breitere europäische Perspektive stellt, wobei er die Beiträge zu England sehr viel stärker zu Geltung kommen lässt als die zum Reich. Etwas überraschend ist, dass Mike Crang in seinen Überlegungen zur Repräsentation und Erschaffung des (sozialen) Raums in und durch kartographische Darstellungen so gut wie gar nicht auf die Beiträge des Bands eingeht (von einem kurzen Verweis auf Cohns Artikel abgesehen), auch nicht auf Würglers Beitrag. Trotzdem sind seine den Band abschließenden Ausführungen ein inspirierender Ausblick, der auch künftige Forschungsperspektiven aufzeigt, insofern er in einem breiten illustrativ angelegten Vergleichsrahmen, der auch die arabische Welt einschließt, den langfristigen Wandel von den symbolisch-konkreten und damit immer für unterschiedliche Deutungen offenen Markern des Raums hin zu einer abstrakteren Visualisierung der Moderne aufzeigt, die sich besonders augenfällig in der (späten) Einführung der Hausnummern im napoleonischen Paris niederschlägt, mit denen die Welt widerstreitender akustischer und visueller Zeichen endgültig verabschiedet wird.

Insgesamt ist der Band, ungeachtet seiner Heterogenität sehr lesenswert.

Malte Griesse