Sabine Grosser: Kunst und Erinnerungskultur Sri Lankas im Kontext kultureller Globalisierung. Eine multiperspektivische Betrachtung als Beitrag zum transkulturellen Diskurs (= Kunst und Kulturwissenschaft in der Gegenwart; Bd. 3), Oberhausen: Athena-Verlag 2010, 532 S., 19 Farb-, 75 s/w-Abb., ISBN 978-3-89896-414-2, EUR 45,00
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Sabine Grosser untersucht in ihrem Buch Sozialisierung, Kunstpraxis und gesellschaftliche Stellung von fünf KünstlerInnen aus Sri Lanka zwischen 1997 und 2005. Gleich zu Beginn stellt sie eine für die Kunstwissenschaften äußerst wichtige Frage: Wie lässt sich eine kulturfremde Kunstszene wissenschaftlich erforschen, ohne diese dem Wertesystem des euro-amerikanischen Dominanzdiskurses unterzuordnen (29)? Hiermit trifft Grosser genau ins Zentrum aktueller Diskussionen zur Erfassung von Kunst im globalen Kontext.
Die Autorin stellt sich sehr gewissenhaft der Herausforderung, weswegen ihre methodische Vorgehensweise in den ersten fünf Kapiteln einen breiten Raum einnimmt. Es ist in der Tat beachtlich, mit welcher Bandbreite an unterschiedlichen theoretischen Ansätzen etwa der Ikonografie, Systemtheorie, Kunstsoziologie, Ethnologie und Postcolonial Studies sie aufwartet, um den kunstwissenschaftlichen Rahmen abzustecken und ihre eigene Position zu finden: die Methodentriangulation und das deskriptive Verfahren. Wichtig ist ihr, den "Anteil und das Erkenntnisinteresse der Forschenden" (33) an der Wissensproduktion hervorzuheben. Folgerichtig positioniert sie sich als Wissenschaftlerin aus Europa, betont ihre "reflektierte Subjektivität" (94) sowie die daraus resultierende Absage an eine objektive Auseinandersetzung mit Kunst. Ausgangspunkt für ihre Interpretationen ist die "visuelle Eigenständigkeit" (256) der Arbeiten, die jenseits des eigenen Entstehungszusammenhangs Assoziationen wecken können. Gerade weil starke, visuelle Zeichen "auf verschiedene Interpretationskontexte bezogen" werden können, funktionieren sie, so Grosser, "universal" (259). Um sich nicht im willkürlichen Analogisieren zu verlieren, müssen die Assoziationsketten einem wissenschaftsanalytischen Rahmen zugeführt werden, den die Autorin durch ein breit gefächertes deskriptives und kunstsoziologisches Spektrum vorgibt. Multiperspektivität ist jedoch nicht allein durch additives Aneinanderreihen verschiedener kultureller Kontexte bestimmt, sondern auch von übergreifenden Konzepten, wie etwa Rasse, Klasse und Geschlecht. Der phänomenologische Blick der Forscherin verliert den Kontakt zu diskursanalytischen Erkenntnissen der Verflechtung dieser Kategorien und läuft damit viel eher Gefahr - trotz besseren Wissens - hegemoniale Bilder festzuschreiben. So kann auch Sabine Grosser sprachlich nicht wirklich dem kolonialen Schema von West und Ost bzw. dem imperialen Konzept vom Westen und dem Rest der Welt (Stuart Hall) entkommen. Als besonders problematisch erweist sich die Verortung von Kunst in einem "neutralen Umfeld" (339). Diese Begriffe funktionieren nur, wenn der hegemoniale Bilddiskurs der modernen Kommunikationstechnologien sowie auch der des White Cube unausgesprochen als Norm gesetzt werden. [1] Ebenso fragwürdig bleibt ihre Definition von Malereien als "universelle Aussagen" (206) aufgrund ihrer formalen Ähnlichkeiten mit naturwissenschaftlichen Bildwelten, die scheinbar immer und überall Gültigkeit haben. Kritische Analysen haben jedoch längst auf ideologisch gefärbte Darstellungen in den Naturwissenschaften hingewiesen. [2]
Das Herz der Arbeit bilden die mit den KünstlerInnen geführten und aus Gründen der Transparenz gewissenhaft kommentierten Leitfadeninterviews, die Grosser als "subjektiv verfügbare Wissensbestände" (75) von ExpertInnen versteht und die ihr als Regulativ für Interpretationen dienen. Durch das Aneinanderreihen von Beschreibungen und reinen Feststellungen lesen sich die Interviews stellenweise etwas langatmig. Die befragten Künstlerinnen Anoli Perera und Druvinka Madawela sowie ihre Kollegen Chandraguptha Thenuwara, Jagath Weerasinghe und Koralegedara Pushpakumara sind zentrale Persönlichkeiten der Kunstszene in Sri Lanka. Ihre gesellschaftspolitisch motivierte Kunst führt zu neuen formalen Lösungen im Bereich der Installationskunst, eines politisch engagierten Aktivismus und der Erinnerungskultur. Vorbilder finden sich sowohl in der indischen Sakralarchitektur, der Felsen- und Tempelmalerei wie auch in verschiedenen Epochen der europäischen Kunstgeschichte und ihrer Vermittlung im Kolonialismus bis in die (deutsche) Nachkriegszeit hin zu feministisch orientierten Kunstinterventionen. Facettenreiche Informationen über Kunstschulen, den Kunstmarkt, die Notwendigkeit des globalen Fundraising zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Bedeutung internationaler Vernetzungen runden das Bild über die Kunstszene in Sri Lanka ab.
Spannende Einblicke zeigen künstlerische Selbstermächtigungsstrategien. Chandraguptha Thenuwara "erlebt die europäische Malerei nicht als fremd oder als Symbol für die Kolonialherren" (309), sondern als Teil seiner Kultur, wie auch Europa immer wieder asiatischen Einflüssen unterlag. Die landeseigene Tradition vom Künstler als Kopist rechtfertigt seine Perspektive, dass "einiges in asiatischen Kunstwerken seinen Ursprung im Westen haben" (311) darf, ohne deswegen fremdbestimmt zu sein. So offensichtlich geschickt Thenuwara hier tradierte Diskurse übersetzt, übersieht Grosser doch die Beschreibung einer eigenen Moderne in Sri Lanka, die durch Aneignung, Aufbrechen und Verschiebung hegemonialer Diskurse hervorbricht.
Interessante Erkenntnisse verdanken sich einzelnen gendersensiblen Darstellungen. So erfahren wir, dass sowohl Künstler als auch Künstlerinnen sehr stark die Geschlechterrollen einschließlich der eigenen Sexualität reflektieren. Darüber hinaus kritisiert Grosser geschlechtsspezifische Ikonografien insbesondere der Erinnerungskultur im Vergleich mit dem tatsächlichen Agieren der Frauen vor Ort (320ff.).
Insgesamt erklärt die Autorin wiederholt sehr akribisch ihre Vorgehensweise und kommentiert ausführlich die Quellen. Auch fehlen Hinweise auf Forschungsbedarf und weiterführende Studien nicht. Durchgängig ist ein behutsamer Umgang mit den Aussagen der KünstlerInnen und ihren Arbeiten festzustellen. Hier und da hätte man sich dann doch einen energischen Standpunkt gewünscht, weil Beschreibungen zu sehr an der Oberfläche bleiben, statt den Dingen auf den Grund zu gehen. Mängel bei Begriffsdefinitionen und deren diskursiven Einbindung konterkarieren im Grunde die eingangs sehr komplex angelegte Methodendiskussion. Im Gegensatz zu ihrer Selbsteinschätzung wird die Methode des Deskriptiven eigentlich nicht befriedigend bestätigt (431), sondern viel eher in ihre Grenzen verwiesen. Kontextualisierung und Polyperspektivität bieten zweifelsohne eine notwendige Voraussetzung für eine Annäherung an fremdkulturelle Kunstwerke, sprengen aber nicht jene Machtstrukturen, die Texte, Bilder, Sprache, Institutionen und schließlich auch das schreibende Subjekt gleichermaßen durchdringen. Im Ganzen gibt die Arbeit jedoch sehr spannende Einblicke in eine mir bisher noch unbekannte Kunstszene und bietet reichhaltige Anknüpfungsmöglichkeiten für weiterführende Forschungen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hito Steyerl: White Cube and Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs, in: Mythen, Masken und Subjekte, hgg. von Maureen Maisha u.a., Münster 2005, 135-143.
[2] Donna Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991 (dt. Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main / New York 1995); Sandra Harding: Is Science Multicultural? Postcolonialism, Feminisms and Epistemologies, Bloomington 1998.
Birgit Haehnel