Andreas Wilkens (Hg.): Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung (= Willy-Brandt-Studien; Bd. 3), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010, 511 S., ISBN 978-3-8012-0392-4, EUR 38,00
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N. Piers Ludlow: The European Community and the Crisis of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge, London / New York: Routledge 2006
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Der vorliegende Band beruht auf einer Tagung, die 2006 gemeinschaftlich von der Universität Verlaine, der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Conseil Régional de Lorraine in Metz ausgerichtet wurde. Im Vorwort des Herausgebers Andreas Wilkens wird die Forschungslücke herausgestellt, welche der vorliegende Sammelband ein Stück weit zu schließen versucht: "Während sich die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen wie auch der späteren historischen Forschung in hohem Maße auf die Initiativen Brandts auf ost- und deutschlandpolitischem Gebiet konzentrierte, geriet das Interesse an der europapolitischen Entwicklung seiner Zeit ins Hintertreffen." (9) Auf zwei Ebenen will der Band sich dem Verhältnis Brandts zu Westeuropa annehmen: einerseits werden die europapolitischen Vorstellungen und Herangehensweisen Brandts untersucht, andererseits wird der Blick des europäischen Auslands auf die Brandtsche Europapolitik analysiert. Im Anhang sind zwei zentrale europapolitische Reden Brandts aus den Jahren 1969 und 1973 abgedruckt, um den "Originalton" Brandts zu dokumentieren (12). Hilfreich sind zudem eine recht ausführliche Bibliographie und eine Liste mit Kurzbiographien.
Die Feststellung, die Brandt-Rezeption habe sich eher auf seine ost- als auf seine europapolitischen Konzeptionen konzentriert ist zutreffend. Dennoch hat sich die Forschung in den letzten Jahren erfreulicherweise - und auch in dem Zeitraum zwischen der Konferenz und dem Erscheinen des Tagungsbandes - zunehmend der Europapolitik der Bundesrepublik in den 1960/70er Jahren zugewandt. [1] Auch Brandts Beziehungen zu verschiedenen europäischen Partnern gerät mehr und mehr in den Blick der Historiker. [2]
Zu Beginn kommen zwei Zeitzeugen zu Wort. Der Brandt-Vertraute Egon Bahr beschreibt in weitem Bogen, welche Rolle der sozialdemokratische Staatsmann im Laufe seines politischen Lebens der Bundesrepublik in Europa zumaß und welche Bedeutung wiederum Europa für die Sicherheit und die Emanzipation des nur teilweise souveränen Staates hatte. Brandts letzte Ehefrau Brigitte Seebacher stellt in ihrem Beitrag heraus: "Europa ist wichtig, Amerika ist wichtiger" (28) und beschreibt vor allem Brandts Verhältnis zu Frankreich als überaus kritisch. Die Amerikaner seien hingegen der Garant für die Freiheit - besonders in Berlin - und seien letztlich auch die Macht gewesen, auf die es bei der deutschen Einigung angekommen sei.
Die erste Sektion widmet sich den frühen Europakonzeptionen Brandts. Einhart Lorenz analysiert differenziert die europapolitischen Ideen aus Brandts Exilzeit, die seiner Ansicht nach jedoch "in den Jahren nach 1945 weder auf dem Kontinent noch in Norwegen zum Tragen kamen" (51). Mit Brandts Sicht auf Konrad Adenauers Politik der Westintegration in den frühen 1950er Jahren befasst sich der Beitrag von Wolfgang Schmidt. Brandt habe zwar Adenauers politischen Stil abgelehnt und kritisiert, dass dessen Politik zu wenig auf die Wiedervereinigung ausgerichtet war. Jedoch konstatiert Schmidt eine beachtliche "konzeptionelle Übereinstimmung" (61) Brandts mit Adenauer, die ihn oftmals Positionen jenseits der Bundes-SPD einnehmen ließ. Da Brandt noch am Anfang seiner (partei-)politischen Karriere in der Bundesrepublik stand, sei diese Haltung jedoch nicht immer ganz deutlich geworden.
Die zweite Sektion nennt sich "Brandt und die Europäer", wobei es zutreffender gewesen wäre, sie unter den Titel "Die Europäer und Brandt" zu stellen. Gleich zwei Beiträge befassen sich mit der französischen Perspektive auf Brandt während seiner Zeit als Außenminister und Bundeskanzler. Gérard Bossuat geht dem Verhältnis zwischen Brandt und Jean Monnet nach, während Rachèle Raus die Wahrnehmung Brandts in der französischen Presse untersucht. Dieses Übergewicht gegenüber den jeweils durch einen Beitrag vertretenen Untersuchungen zum belgischen (Vincent Dujardin), niederländischen (Jan van der Harst) und britischen (Melissa Pine) Brandt-Bild spiegelt die tatsächliche Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen für die europäische Integration wider. Alle Analysen zeichnen eine überwiegend positive Wahrnehmung von Brandt und dessen europapolitischer Konzeption bei den westeuropäischen Partnern nach. Hieran änderten auch eine zeitweilige Skepsis gegen seine Ostpolitik sowie die Tatsache, dass sich die anderen EG-Partner an einer zu engen deutsch-französischen Kooperation rieben, grundsätzlich nichts. In manchen Beiträgen wäre es erhellend gewesen, wenn nicht nur die Sicht des Partnerlandes auf Brandt, sondern auch umgekehrt Brandts Wahrnehmung des Partners stärker in den Blick genommen worden wäre.
Die umfangreiche dritte Sektion befasst sich mit Brandts Europapolitik als Außenminister und Bundeskanzler. Besonders fundiert sind die Beiträge, die vor dem Hintergrund intensiverer Forschung entstanden sind, wie die Analyse von Claudia Hiepel zu Brandts Frankreich- und Europapolitik zur Zeit der Großen Koalition [3], Andreas Wilkens Untersuchung der Zäsur des Den Haager Gipfels 1969/70 [4] und Robin M. Allers Studie zu Brandts Verhältnis zu den skandinavischen Ländern und den mit ihnen geführten Beitrittsverhandlungen. Neue Erkenntnisse bringt auch der Beitrag von Corine Defrance, die sich dem bislang wenig beachteten Thema der Auswärtigen Kulturpolitik auf der Grundlage der Akten des Auswärtigen Amts zuwendet. Der Beitrag von Pascaline Winand zu Henry Kissingers "Jahr Europas" von 1973 ist hingegen eine überarbeitete Version eines bereits publizierten Aufsatzes [5], der zudem wenig über Brandts Einstellung zur missglückten Europainitiative des amerikanischen Sicherheitsberaters sagt. Die Untersuchungen zur Gemeinsamen Agrarpolitik (Guido Thiemeyer), zum "sozialen Europa" (Sylvaine Schirman), zur wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit (Ulrich Pfeil) und zur deutsch-französischen Zusammenarbeit im Vorfeld der KSZE (Elisabeth du Réau) befassen sich zwar mit bislang kaum behandelten Themen, jedoch wäre die Auswertung relevanter Archivquellen sicherlich gewinnbringend für die Analysen gewesen.
Die kurze vierte Sektion "Demokratie und neues Europa" wendet sich Brandts Wirken nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler zu. In einem gelungenen Beitrag analysiert Bernd Rother Brandts Einsatz für die Demokratisierung Spaniens, die für diesen die "Europäisierung Europas" bedeutete und "Ausgangspunkt der Globalisierung der Sozialdemokratie" (412) war. Wilfried Loth stellt die These auf, Willy Brandt und Egon Bahr hätten aktiv auf Michail Gorbatschows "neues Denken" eingewirkt, wobei sich Loth überwiegend auf Memoirenliteratur stützt.
Den Abschluss bilden die überzeugenden Schlussüberlegungen von Robert Frank, der systematisch die Ergebnisse der Tagung zusammenfasst. Er stellt heraus, dass für Brandt "Europäisierung und Demokratisierung synonym" waren (440). In Bezug auf die Integration habe Brandt "ein föderalistisches Ideal für Europa" verfolgt und seine Vorstellungen seien "in Richtung supranationaler Strukturen" gegangen (441). Wie bei seiner Ostpolitik habe er dabei einen pragmatischen, schrittweisen Kurs verfolgt. Franks Forderung nach einer Auseinandersetzung mit Brandts Altkanzlerzeit wurde inzwischen ein Stück weit erfüllt [6], auch wenn hier sicherlich in den nächsten Jahren mit Ablauf der Sperrfristen zentraler Archivalien weitere Erkenntnisse zu erwarten sind. Zu Recht kritisiert Frank jedoch: "Es wäre ohne Zweifel auch aufschlussreich, sich mit den Fehlern und Grenzen seiner [Brandts] Europapolitik zu befassen." (446) So habe er letztlich seine währungs- und sozialpolitischen Vorstellungen nicht umsetzen können. Trotz dieser Kritik stellt der Tagungsband einen wichtigen Beitrag zur lange vernachlässigten Forschung über Brandts Europapolitik dar und beleuchtet bislang kaum beachtete Einzelthemen. [7]
Anmerkungen:
[1] Vgl. z. B. Henning Türk: Die Europapolitik der Großen Koalition 1966-1969, München 2006; Daniel Möckli: European Foreign Policy during the Cold War. Heath, Brandt, Pompidou and the Dream of Political Unity, London / New York 2009; Wilfried Loth: Abschied vom Nationalstaat? Willy Brandt und die europäische Einigung, in: Bernd Rother (Hg.): Willy Brandt. Neue Fragen, neue Erkenntnisse, Bonn 2011, 114-134.
[2] Vgl. z. B. Horst Möller / Maurice Vaïsse (Hgg.): Willy Brandt und Frankreich, München 2006; Robin M. Allers: Besondere Beziehungen. Deutschland, Norwegen und Europa in der Ära Brandt (1969-1974), Bonn 2009.
[3] Vgl. die demnächst erscheinende Monographie von Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München (voraussichtlich 2012).
[4] Vgl. z. B. Andreas Wilkens : Relance et réalités. Willy Brandt, la politique européenne et les institutions communautaires, in: Marie-Thérèse Bitsch (éd.) : Le couple France-Allemagne et les institutions européennes. Une postérité pour le plan Schuman? Brüssel 2001, 377-418; Andreas Wilkens: Willy Brandt und die europäische Einigung, in: Mareike König / Matthias Schulz (Hgg.): Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Integration, 1949-2000. Politische Akteure, gesellschaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen, Stuttgart 2004, 167-184.
[5] Pascaline Winand: Loaded Words and Disputed Meanings. The Year of Europe Speech and its Genesis from an American Perspective, in: Jan van der Harst (ed.): Beyond the Customs Union. The European Community's Quest for Deepening, Widening and Completion, Brussels 2007, 297-316.
[6] Vgl. z. B. die letzte Sektion in dem Tagungsband Bernd Rother (Hg.): Willy Brandt. Neue Fragen, neue Erkenntnisse, Bonn 2011, 229-293.
[7] Inzwischen liegt auch eine französische Ausgabe des Bandes vor: Andreas Wilkens (éd.): Willy Brandt et l'unité de l'Europe. De l'objectif de la paix aux solidarités nécessaires, Bruxelles: Peter Lang 2011.
Judith Michel