Sabine Haag (Hg.): Schaurig schön. Ungeheuerliches in der Kunst, Wien: Christian Brandstätter Verlag 2011, 133 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-85033-544-7, EUR 19,90
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Der angezeigte Band ist der Katalog der dritten "Intermezzo"-Ausstellung des Kunsthistorischen Museums in Wien (KHM), die von Mitte Februar bis Anfang Mai 2011 gezeigt worden ist. Seit dem Wechsel in der Generaldirektion im Jahre 2009 finden hier jährlich Sonderausstellungen statt, die einem spezifischen Thema gewidmet sind und ausschließlich aus den eigenen Beständen der 13 Sammlungen des KHM bestritten werden. Das Museum möchte, so eine Pressemitteilung zur ersten Intermezzo-Schau, auf diese Weise "den Blockbuster-Ausstellungen und dem internationalen Leihverkehr eine andere Form des Sehens und Betrachtens gegenüberstellen, die im intimen Rahmen und in konzentrierter Form Wege vorzeichnet, um Augen aufgehen zu lassen." [1] Während die Auftaktausstellung der Reihe den Frauenbildern rund um Rubens galt, verschrieb sich die zweite Themenausstellung den Porträts im KHM.
Intermezzo Nr. 3 nun befasst sich mit Dämonen, Monstern, Ungeheuern, Misch- und Fabelwesen, die oft auf Jahrtausende alte Phantasien zurückgehen, sich immer wieder verändern und der jeweiligen Zeit angepasst haben, aber als Projektionsfläche für Ängste oder Sehnsüchte bis heute virulent geblieben sind. "Thema ist der Wandel, den Bedeutung und Symbolik der Mythen im Laufe der Geschichte erfahren, ihre Veränderung beim (geographischen und zeitlichen) Übergang von einer Kultur in die nächste." (11) Damit bewegt sich das Ausstellungsprojekt leitmotivisch im Horizont von Aby Warburgs Forschungen zum Nachleben der Antike, die in den letzten Jahren vor dem Hintergrund bildwissenschaftlicher Ansätze zu neuer Aktualität gelangt sind. [2]
Die Generaldirektorin Sabine Haag hat mit einem zehnköpfigen Kuratorenteam eine kleine, feine Kabinettausstellung erarbeitet, die 89 unterschiedliche Exponate verschiedener Epochen und Regionen versammelt. Jenseits von Chronologie und Herkunft kommen die Misch- und Fabelwesen ikonografisch überein, indem sie "neben ihrem zumeist hohen ästhetischen Reiz vor allem bestimmte Aspekte des behandelten Mythos exemplarisch illustrieren." (11) Neben antiken Vasen und Bronzen finden sich auf diese Weise prunkvolle Rüstungen aus der Renaissance, altägyptische Sphingen neben barocken Gemälden, Tapisserien hängen neben manieristischen Automaten, mittelalterlichen Elfenbeinschnitzereien und Goldschmiedearbeiten. Wie schon die Ausstellung bietet auch der Begleitkatalog "ein sinnliches Fest des Schauens", das die propagierten "spannenden neuen Zusammenhänge" auch nach Ausstellungsende festhält (9). Der ikonografischen Klammer in der Ausstellung entspricht die systematische Gliederungsstruktur im begleitenden Katalog, der acht bekannte Fabelwesen nacheinander in ihrem jeweiligen Entstehungs- und Bedeutungskontext zunächst kurz vorstellt und hernach durch die individuelle Betrachtung der einzelnen zugeordneten Exponate näher spezifiziert und differenziert. Einer allgemeinen Einführung und geschichtlichen Verortung folgt damit eine gesonderte Behandlung en detail, was sowohl dem flüchtigen wie dem interessierten Leser entgegenkommt.
So wird mit der Sphinx gleich zu Anfang eines der berühmtesten Mischwesen präsentiert: Während das wohl bekannteste Exemplar aus dem griechischen Sagenkreis des Ödipus als männermordende Sphinx von Theben vorgestellt wird, ist zu erfahren und am Beispiel von zwei ptolemäischen Serapeumssphingen auch zu sehen, dass das Löwen-Mensch-Mischwesen im ursprünglichen, altägyptischen Entstehungszusammenhang den Kopf eines (männlichen) Pharaos zeigte. Sphingen hatten überwiegend Wächter- oder Hüterinnenfunktion und waren demzufolge vor allem in Heiligtümern, an Thronen oder auch Grabmälern zu finden. In hellenistischer Zeit fand das Motiv der weiblichen Sphinx große Verbreitung in der Schmuckherstellung und diente als Ohrgehänge, Kettenanhänger oder Amulett. Kein Wunder, dass die Sphingen nach dem Ägypten-Feldzug Napoleons eine neue Modewelle auslösten und zu einem beliebten Dekorationselement und Einrichtungsgegenstand avancierten.
Neben der Sphinx zählt der Greif zu den ältesten Mischwesen der Antike. Das mythische Fabeltier setzt sich aus Löwe und Raubvogel zusammen und entstand vermutlich im vierten vorchristlichen Jahrhundert im Vorderen Orient. Der krallenbewehrte Adler- und Löwengreif hat eine lange Wanderschaft hinter sich, wenn er über Syrien sowohl nach Ägypten und Griechenland vordringt, aber auch nach Babylonien und Indien. Überall bildet er neue lokale Misch- und Sonderformen aus, doch kommt ihm, ähnlich der Sphinx, zumeist eine apotropäische Schutz- und Wachfunktion zu. Eine niederdeutsche sogenannte Greifenklaue, ein Trinkhorn, das vergiftete Getränke angeblich anzeigte und neutralisierte, führt diese Aufgabe ganz alltagspraktisch vor Augen. Auch als Zug- und Begleittier von Göttern ist der Greif bekannt, wie eine attische Schale mit dem auf einem Adlergreifen reitenden Apoll zeigt.
Ein anderer Wundervogel ist der sagenumwobene Phönix, der sich gemäß Hesiod und Herodot in Intervallen zwischen 500 bzw. 1461 Jahren selbst verbrennt und aus der eigenen Asche zu neuem Leben aufsteigt. Durch den Kreislauf von Tod und Wiederauferstehung wurde Phönix bereits bei den Ägyptern mit dem Sonnengott Re assoziiert. Im Christentum ist er ein Gleichnis für Geburt, Tod und Auferstehung Jesu. Auch sein Aussehen scheint Phönix mit jeder Wiedergeburt zu verändern: Während er auf römischen Münzen mit langen Stelzenbeinen noch eher wie ein Storch oder Reiher daherkommt, tritt er uns in Gestalt einer Salzburger Elfenbeinschnitzerei am Anfang des 17. Jahrhunderts mit gespreizten Flügeln und aufgerissenem Schnabel lauernd-aggressiv wie ein übermütiges Adlerjunges entgegen. In weiteren, höchst lesenswerten Kapiteln erfährt der staunende Leser und Betrachter vom legendären Einhorn, das sich von einem Fruchtbarkeitssymbol in ein Symbol der Reinheit und Jungfräulichkeit wandelte und das u.a. durch eine sogenannte Ross-Stirn veranschaulicht wird, die das Pferd von Alessandro Farnese, Herzog von Parma und Piacenza, am Ende des 16. Jahrhunderts durch ein an die Prunk-Garnitur angebrachtes Eisenhorn ganz real in ein Fabelwesen überführen sollte. Die schlangenköpfige Unglücksbotin Medusa wird in Rubens' berühmten Gemälde vom abgeschlagenen Haupt der Gorgo buchstäblich schrecklich lebendig. Sie bilde "die unerschöpfliche Fruchtbarkeit der Frau ab", wenn sie "selbst noch im Tod Kreaturen [gebiert]", wie die Psychoanalytikerin Sigrun Roßmanith in ihrem höchst lesenswerten Aufsatz schreibt (26). Der Kentaur hingegen stehe als Mischwesen aus dem Oberkörper eines Menschen und dem Rumpf eines Pferdes für die "Doppelnatur des Menschen" und den Kampf zwischen seinen geistig-sittlichen Anteilen mit seiner animalisch-triebhaften Seite (27). Aus Mensch und Pferd bzw. Maultier oder Ziege bestehen in der griechischen Kunst auch die Silene oder Satyrn. Diese bocksbeinigen wilden Naturmenschen stehen im Gefolge des Dionysos, des Gottes des Weines und der Ekstase, und verkörpern Wollust und sexuelle Potenz. Es erstaunt nicht, dass sich vor christlichem Hintergrund aus dem orgiastischen Satyrn der Teufel entwickelte. Zu den besonderen Kuriositäten der Ausstellung zählt auch ein sogenannter "Teufel im Glas" aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: In einem wenige Zentimeter großen Glaskubus scheint eine schwarze kleine Figur zu tanzen, die bald als ein im Glas gefangener Teufel identifiziert wurde, der zuvor einem Besessenen ausgetrieben worden war. Ein weiteres Abbild des Satans ist der Drache. Das Mischwesen, das fallweise auch mit mehreren Köpfen dargestellt wird, repräsentiert in vielen Religionen Urmächte, die dem Guten feindlich gegenüberstehen und daher besiegt werden müssen. Dass das Ende der Mischwesen keineswegs mit dem Christentum kam, sondern dass sie "auch in der Bibel und besonders in der Offenbarung des Johannes [erscheinen]", hat die Archäologin Erika Simon in ihrem aufschlussreichen Katalogbeitrag hervorgehoben (20). Dankenswerterweise greift das letzte Kapitel des Bandes auch eine Vielzahl an Quellentexten auf, die wie Ovids Metamorphosen, Plinius' Naturgeschichte oder der Physiologus die göttlichen Karrieren der vorgestellten Fabelwesen erst ermöglicht haben. Dazu kommt zweifellos die eigenartig ambivalente Spannung, die von den mythischen Doppelwesen ausgeht und die den Betrachter im Zwischenraum von Neugier und Scheu, Faszination und Erschrecken bindet: schaurig schön eben.
Der Band ist alles andere als ungeheuerlich, er ist im höchsten Maße inspirierend. Aby Warburg hätte im Sinne seiner "Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene" (Grundbegriffe I, 1929) seine helle Freude daran gehabt und sich durch die Auswahl aus dem reichen Bilderfundus des KHM - quasi als Ergänzung seines unvollendeten Mnemosyne-Atlas' - bestätigt gesehen. Wohl selten hat sich der Besucher in Anbetracht der mit einem Dutzend Sammlungen zwischen Aegyptiaca und Gemäldegalerie eh schon üppigen Materialfülle des KHM insgeheim gewünscht, dass sich die Bestände noch weiter bis in die Gegenwart ausdehnen würden: Allzu gern hätte man die Fortsetzungsgeschichten der Fabelwesen bis zu den modernen Mythen unserer Tage verfolgt, um Harry Potter, Pokémon oder auch dem Herrn der Ringe zu begegnen.
Anmerkungen:
[1] http://www.khm.at/ausstellungen/rueckblick/2009/sinnlich-weiblich-flaemischfrauenbilder-rund-um-rubens/ (30.12.2011).
[2] So jüngst in der Ausstellung "Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel" in der Hamburger Kunsthalle (27. März bis 26. Juni 2011).
Ulli Seegers