Ingo Eser: »Volk, Staat, Gott!«. Die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen 1918-1939 (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; Bd. 15), Wiesbaden: Harrassowitz 2010, 771 S., ISBN 978-3-447-06233-6, EUR 59,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Zbigniew Mazur (Hg.): Das deutsche Kulturerbe in den polnischen West- und Nordgebieten, Wiesbaden: Harrassowitz 2003
Guido Hitze: Carl Ulitzka (1873-1953) oder Oberschlesien zwischen den Kriegen. Carl Ulitzka albo Górny Śląsk pomiędzy dwoma Wojnami Światowymi, Düsseldorf: Droste 2002
Gerhard Seewann: Geschichte der Deutschen in Ungarn. Bd. 1: Vom Frühmittelalter bis 1860, Marburg: Herder-Institut 2011
Obwohl das Schulwesen eines der zentralen Probleme aller nationalen Minderheiten darstellt, ist das deutsche Minderheitenschulwesen in der Zweiten Republik, sieht man von einem von Paul Dobbermann 1925 herausgegebenen Band [1] und der Gegenschrift Jan Suchowiaks [2] ab, bislang von deutscher Seite nicht dargestellt, geschweige denn untersucht worden. Auch die polnische Forschung genügt in keinem Fall heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen. Ingo Eser füllt mit seiner in Marburg bei Hans Lemberg eingereichten Dissertation eine wesentliche Forschungslücke.
Nach Forschungsbericht und Darstellung von Fragestellung und Methode holt der Verfasser zunächst weit aus und zeigt "Die Wurzeln der Minderheitenproblematik (vor 1918/22)" differenziert nach den historischen Teilgebieten der Zweiten Polnischen Republik und das Dreiecksverhältnis zwischen dem Deutschen Reich, der Republik Polen und der deutschen Minderheit sowie deren Strukturen und Organisationen auf. Er liefert damit, großenteils aus Archivquellen, die erste und einzige wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung der Geschichte dieser Minderheit, die schon für sich eine beachtenswerte wissenschaftliche Leistung darstellt.
Auf dieser Grundlage baut Eser seine auf deutschen und polnischen Archivakten, die fast unübersehbare zeitgenössische deutsche und polnische Publizistik, die Erinnerungsliteratur, Heimatbücher und die deutsche und die polnische Forschungsliteratur nach 1945 basierende Studie des deutschen Minderheitenschulwesens auf. Dieses begreift er nicht als isoliertes Phänomen, sondern ordnet es in die allgemeine Schulentwicklung in Polen ein.
Regional differenziert erarbeitet er das Verhältnis der deutschen Schulorganisationen zum polnischen Staat in seiner historisch-politischen Entwicklung und untersucht den Zugang zu den Minderheitenschulen einschließlich des oberschlesischen Schulstreits. Ebenso systematisch analysiert er "Gründung und Betrieb deutscher Minderheitenschulen" von der Konzession über die staatliche Anerkennung der Abschlüsse (das "Öffentlichkeitsrecht") bis zum Schulbau durch die deutschen Schulvereine, danach "Lehrerschaft, Unterricht und Schulaufsicht" einschließlich der Arbeitsbedingungen, des deutschen und polnischen Sprachunterrichts, des "Spannungsfelds von staatsbürgerlicher und völkischer Erziehung" und der "Lage der jüdischen Lehrer und Mitschüler" als "Indiz für den Stimmungswandel" an den deutschen Schulen.
Zuletzt befasst sich Eser mit den "außenpolitischen Verflechtungen", insbesondere dem "Gegenseitigkeitsgedanken", seiner "Verschärfung" nach der deutsch-polnischen Minderheitenerklärung vom 5. November 1937 sowie der Verschlechterung der Lage der Minderheitenschulen im Zuge des deutsch-polnischen Konflikts seit März 1939 bis zur "deutschen Schule im Belagerungszustand" im Sommer des Jahres. Eser beendet seine Untersuchung mit einem kurzen Ausblick auf die - jetzt verstaatlichten - deutschen Schulen zu Beginn der deutschen Besatzung nach dem September 1939 und der "Enttäuschung" (657) der "volksdeutschen" Lehrer, da ihre Verwendung nach der Okkupation nicht ihren Erwartungen entsprach. Abschließend ordnet er seine Ergebnisse in den europäischen Kontext ein, indem er die Lage der deutschen Minderheitenschulen in Polen kurz mit der in anderen europäischen Staaten in dieser Zeit zwischen Dänemark im Norden und Jugoslawien im Südosten vergleicht. Man kann - gegen die zeitgenössischen Unterdrückungsgeschichten und die sie fortsetzenden älteren Darstellungen mit wissenschaftlichem Anspruch wie denen Theodor Bierschenks oder Richard Breyers - seinem Ergebnis nur zustimmen, "dass Polen im Hinblick auf seine Minderheitenpolitik eine mittlere Stellung einnahm" (666).
Die dem Resümee vorangestellte Schlussfrage "(Des-)Integration durch die Minderheitenschule?" beantwortet Eser so differenziert, wie er seine gesamte Darstellung angelegt hat, die polnische Minderheiten- und Schulpolitik sei "zu vielschichtig [gewesen], um sie allein mit Schlagwörtern wie 'Assimilation' und 'Repression' charakterisieren zu können" (667). Dieses Ergebnis untermauert der Verfasser, indem er die oft widersprüchlichen Entwicklungen unter den Beeinflussungen durch die polnische Innen- und die deutsche Außen- und Revisionspolitik im Interaktionsdreieck zwischen den deutschen Minderheiten, dem polnischen Staat und den unterschiedlichen Gruppen der polnischen Gesellschaft differenziert darstellt. Er akzeptiert nicht die von beiden Seiten implizierte Ausgangssituation, die nationale Abgrenzung zwischen polnischer Staatsnation und deutscher Minderheit sei objektiv gewesen, sondern betont den subjektiven Faktor und problematisiert das "volksnationale" Denken (621) gerade unter dem Aspekt der vom Völkerbund und vom polnischen Staat geforderten staatsbürgerlichen Loyalität.
Eser hat die erste wissenschaftlich fundierte, in jeder Hinsicht grundlegende Untersuchung der Entwicklung des deutschen Minderheitenschulwesens und seines politischen und gesellschaftlichen Kontextes in der Zweiten Polnischen Republik auch im Wechselspiel zwischen Zentralverwaltung und den Regionen vorgelegt und dazu die unterschiedlichen Perspektiven und die unterschiedlichen Diskurstraditionen in seine Analyse einbezogen. Er rekonstruiert die Strukturen und die Handlungsspielräume der Akteure in ihren jeweiligen Bedingungszusammenhängen. Mit seiner durch ein Personen- und ein geografisches Register vorbildlich erschlossenen Arbeit stellt er die Geschichte der deutschen Minderheit in Polen und der Minderheitenpolitik in der Zweiten Republik auf neue Grundlagen. Zugleich setzt er mit seinem methodologischen und systematischen Vorgehen neue Standards für die historische Minderheitenforschung.
Anmerkungen:
[1] Paul Dobbermann: Die deutsche Schule im ehemals preußischen Teilgebiet Polens, Posen 1925.
[2] Jan Suchowiak: Niemieckie szkolnictwo w Poznańskiem i na Pomorzu [Das deutsche Schulwesen im Posener Land und in Pommerellen], Poznań 1927.
Wolfgang Kessler