Rezension über:

Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle, Reinbek: Rowohlt Verlag 2012, 143 S., ISBN 978-3-498-06416-7, EUR 16,95
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Rezension von:
Karoline Zielosko
Kempen
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Karoline Zielosko: Rezension von: Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle, Reinbek: Rowohlt Verlag 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/21186.html


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Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile

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Die Exzeptionalität der Beziehung zwischen dem preußischen König Friedrich II. und dem französischen Dichter und Philosophen Voltaire war schon den Zeitgenossen bewusst und wurde wohl nicht zuletzt deshalb von beiden gesucht. Der Dichterfürst und der Philosoph auf dem Thron erkennen und begegnen einander im Geiste der Aufklärung, Geist und Macht gehen eine Verbindung ein, die beiden zum Ruhme gereicht und vom Anbruch eines neuen Zeitalters kündet. Wenn dies das Bild war, das die beiden Protagonisten gern vor den Augen der gelehrten Öffentlichkeit zeichneten, so war die dahinter stehende Realität doch eine andere. Das Ideal scheiterte an der Unvereinbarkeit zweier ausgeprägter Charaktere, die im Bestreben, voneinander zu profitieren, nicht unbedingt das Beste aus dem jeweils anderen hervorholten.

Mit seiner Novelle 'Sire, ich eile ...' Voltaire bei Friedrich II. legt Hans Joachim Schädlich einen Text vor, in dem er Geschichte (im Sinne von vergangenem Geschehen) in eine Prosaerzählung überführt. Dabei geht es, anders als der Titel nahe legt, nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie um die Beziehung zwischen Friedrich und Voltaire, sondern auch um die Verbindung zwischen Voltaire und seiner langjährigen Geliebten Émilie du Châtelet. Handelt es sich hier um einen literarischen Kniff, soll also die eine Beziehung als eine Art Folie oder Kontrast für die andere fungieren, vermag dieses Verfahren nicht vollends zu überzeugen: zu unterschiedlich einerseits die Bedingungen und Konstellationen, zu wenig literarisiert und poetisiert andererseits, um Menschliches dahinter greifbar oder allgemeingültig zu machen.

Mit wenigen Zügen, sehr weitgehend und doch sicher in der Reduktion, umreißt der Autor zu Beginn der Novelle François Marie Arouet, der sich Voltaire nannte, als einen Mann, dessen Esprit, literarische Begabung und philosophische Finesse ihre Befriedigung nicht in sich selbst finden, der vielmehr mit Verve auch seinen Finanzgeschäften nachgeht, auch gern solchen, so wird sich zeigen, die recht windig daherkommen. Denn: "Es mußte Geld verdient werden." (1) Bereits zu Beginn der Novelle begegnet Voltaire Madame du Châtelet, die mit dem Marquis du Châtelet-Lomont, Comte de Lomont und Seigneur de Cirey verheiratet ist. Er wird nicht ihr erster und auch nicht ihr letzter Liebhaber sein. Aber: "Es war Liebe. François und Émilie." (2) Friedrich selbst findet erst auf Seite 25 kurze Erwähnung, in seiner Eigenschaft als Korrespondenzpartner der vielseitig interessierten und vielfach begabten Marquise. Ihre Beziehung zu Voltaire, die ihre Heimstatt und Bühne vor allem im Schloss von Cirey findet, bietet beiden Erfüllung auch in intellektueller Hinsicht: Es sind Jahre einer intensiven geistigen Produktivität. Es sind aber auch Jahre, in denen Voltaire immer wieder mit den Obrigkeiten aneinander gerät. Überzeugt von der eigenen Vorzüglichkeit als Dichter- und Philosophenfürst ist ihm seine sozial nachgeordnete Stellung unerträglich, ebenso die sozialen, rechtlichen und politischen Zwänge im Frankreich des Ancien Régime. Die Verfolgung durch staatliche Autoritäten aufgrund von Schriften wie den "Lettres philosophiques" bringt immer wieder Unstetigkeit in sein Leben.

Von Friedrich selbst berichtet der Autor nichts Neues, wirft auch kein neues Licht auf ihn, versteht es aber, ihn sehr prägnant und dabei nahezu plastisch zu schildern. Es ist das volkstümliche Bild Friedrichs, das hier präsentiert wird: als Kronprinz in Rheinsberg, wider Willen und Neigung verheiratet mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, umgeben von anregenden Gesprächspartnern, musikalisch interessiert, ein begeisterter Rezipient Christian Wolffs, mit leichter Feder einen Gegenentwurf zu Machiavelli schreibend, der deutschen Sprache abhold, ignorant gegenüber ihren literarischen Blüten und Vorblüten.

Und Friedrich ist begierig darauf, in Kontakt zum großen Voltaire zu treten. Hier webt Hans Joachim Schädlich ihren frühen Briefwechsel in Form von Zitaten und pointierten Zusammenfassungen in die verknappte und sehr dichte Schilderung beider Lebensumstände und Wirken. Darin liegt eine hohe Kunst, und sie macht den Wert dieser Erzählung aus. Denn es gelingt dem Autor durch Exzerpte aus den Quellen, Nähe und Anschaulichkeit zu erzeugen, ohne dass allzu häufig frei erfundene Dialoge oder Szenen nach dem Muster eines "So hätte es sein können" eine Annäherung an die historischen Persönlichkeiten erzwingen wollen. Darin geht er nicht den Weg so manchen TV-Formats, in dem Situationen nachgestellt, mit teilweise freien Anlehnungen an Quellenzitate überblendet, pointiert, überspitzt, gern auch mit dramatischer Musik untermalt werden, oder wo Cliffhanger den Zuschauer zwischen einzelnen Episoden bei der Stange halten sollen. Hans Joachim Schädlich kommt ohne diese Art der Dramatisierung aus, weil er jener Dramatik vertraut, die dem historischen Stoff an sich schon eigen ist, und weil er es versteht, ihr Ausdruck zu verleihen. Anders als ein historischer Roman auch ist diese Erzählung nicht angereichert mit Betrachtungen des Innenlebens der Protagonisten, die doch letztlich Spekulation im Rahmen der durch die Quellen vorgegebenen Kenntnisse sind. Es gibt auch keine intensiven Beschreibungen der Szenerien, die jene fremde Lebenswelt des 18. Jahrhunderts, ihre Mentalitäten und Befindlichkeiten, detailreich schildern. Es ist die Technik des bloßen Aufzeigens, mit der der Autor in enger Anlehnung an die Quellen die Protagonisten, ihr Umfeld und ihr Aufeinandertreffen vorstellt.

Gleichwohl gibt es auch hier Brüche, die sich im Wesentlichen dem Umstand verdanken, dass Hans Joachim Schädlich sich sowohl literarischer als auch historiographischer Verfahren bedient. Er bildet hierin eine Form aus, die durch die Kombination beider Genres etwas Eigenes hervorbringt, bei näherer Betrachtung aber merkwürdig zwischen ihnen steht und an mancher Stelle die Konsequenz und Eindringlichkeit der jeweiligen Gattung vermissen lässt. Ein Blick auf die Erzählperspektive mag dies verdeutlichen. Bisweilen enthält der Text Kommentare zum Geschehen sowie Wertungen der Protagonisten. Wenn etwa Voltaire nach dem Einmarsch preußischer Truppen in Schlesien im Jahre 1740 über den preußischen König notiert, dass "unter der dünnen Außenhaut des Ästheten" "die Seele eines Schlachters" (55) liege, findet sich dieses Verdikt in der Frage "Hätte Voltaire die Korrespondenz mit der Schlachterseele abbrechen sollen? " (56) sehr bald wieder. Doch ist nicht ganz klar, wer es ist, der das Urteil des Franzosen hier aufnimmt: Ist es der Autor, wie dies der Fall wäre in einem historiographischen Werk? Oder hat diese "Novelle" tatsächlich einen Erzähler? Dann wäre es ein Erzähler, der als Person in den erzählten Begebenheiten nicht auftaucht; er wäre allwissend, verträte ab und an einen Standpunkt, ohne darin greifbar und konsistent zu sein. So wird Friedrich Wilhelm I. einmal als "widerwärtige[r] Vater" (29) bezeichnet; ironisch werden Friedrichs "Hervorbringungen" kommentiert, "die er für poetisch hielt" (36). Und als Voltaire sich nach dem Tode der Marquise du Châtelet im Kindbett zu einem längeren Aufenthalt in die Nähe des preußischen Königs begibt (1750), heißt es: "Friedrich hatte den Krieg gegen Émilie du Châtelet, den Kampf um Voltaire gewonnen. (...) Voltaire - besitzen! Schlesien - besitzen!" (85) Voltaire selbst wird in seinem Eigennutz und seiner Geschäftemacherei nicht unbedingt sympathischer gezeichnet. Auf diese Weise wird an einigen Stellen eine gewisse Herablassung gegenüber den Protagonisten der Novelle deutlich, aber nicht die Perspektive, von der aus das geschieht.

Voltaires Anwesenheit in Potsdam und Berlin (1750-1753) löst nicht das ein, was der galant-hofierende Tonfall, der den Briefwechsel zwischen ihm und Friedrich stets ausgezeichnet hat, erhoffen ließ. Finanzielle Dinge spielen immer wieder eine Rolle, Voltaire bittet um Geld, Friedrich gewährt. Voltaire wird mit äußeren Ehren überhäuft, niemals aber gewährt der preußische König ihm in irgendeiner Weise Einblick in seine politischen Geschäfte. Das Aufeinandertreffen von Macht und Geist beansprucht Friedrich selbst zu personifizieren: An seiner berühmten Tafelrunde ist niemand sicher vor seinen Sottisen. Voltaire geht seinen spekulativen Geschäften nach, gerät in juristische Probleme, was Aufsehen erregt und den König erzürnt. Viel Aufmerksamkeit widmet Hans Joachim Schädlich der Darstellung dieser vertrackten Geschäfte. Viel Aufmerksamkeit kommt gleichzeitig Friedrichs Sorge um seinen Kammerdiener Michael Gabriel Fredersdorf zu; ausgiebig zitiert der Autor aus dem Briefwechsel, in dem der König in seinem individuellen Deutsch seiner Sympathie für den ihm nahestehenden Fredersdorf Ausdruck verleiht. Das ist in der Struktur sehr geschickt gemacht, denn dank dieser unkommentierten Gegenüberstellung gelingt es dem Autor in der Tat, diese zwei Beziehungen (Friedrich - Voltaire und Friedrich - Fredersdorf) in ihrer jeweiligen Eigenart vorzuführen und sie damit von der anderen abzusetzen. Am Ende überwirft Voltaire sich mit dem König öffentlich und in einer Weise, die seinen weiteren Aufenthalt in Brandenburg-Preußen unmöglich macht. Es folgt die wenig rühmliche Trennung und Voltaires unwürdige Festsetzung in Frankfurt a.M., bis ihm nach Rückgabe königlicher Schriften und des Kammerherrnschlüssels die Erlaubnis zur Weiterreise gegeben wird.

Texte, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, erschaffen durch Worte eine Welt, die dem historischen Vorbild möglichst nahe kommen soll, es aber nie vollkommen erreichen kann. Hans Joachim Schädlichs Novelle erhebt keinen Anspruch auf historiographische Vollständigkeit, wohl aber auf eine Darstellung der Quintessenz, und dies gelingt ihm eindrucksvoll, sehr dicht und ohne jegliche Redundanzen. Seine teils elliptische Sprache spiegelt dies wider und steht hierin in Einklang mit dem Inhalt. Was darüber hinaus an literarischen Techniken zum Einsatz kommt, scheint an einigen Stellen nicht konsequent zu Ende geführt. Andererseits aber gewährt der Autor dem Leser Freiräume, um eigene Interpretationen anzustellen, weiterzudenken oder es sein zu lassen. Hierin liegt der große Reiz dieser Novelle; unter den Publikationen zum Friedrich-Jahr kommt ihr sicherlich ein besonderer Platz zu.

Karoline Zielosko