Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012, 181 S., ISBN 978-3-05-005683-8, EUR 29,80
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Der polemische Duktus der "Streitschrift" lässt neben dem Ziel, Anspruch und Leistung der von Johannes Fried propagierten Memorik an einem spektakulären Fall zu demonstrieren, noch ein weiteres Motiv erkennen: Fried arbeitet sich erneut an einer in vielfacher Weise durch zeittypische Interessen belasteten Forschungsgeschichte ab, die man eigentlich längst für aufgearbeitet, ideologiekritisch durchleuchtet und letztlich für die weitere Forschungsdiskussion entschärft oder auch partiell gerettet hätte ansehen können [1]. Für Fried, und das ist eine Zielrichtung seiner scharfen Kritik, steht zumindest noch die aktuelle Forschungsdiskussion im deutschsprachigen Raum im Bann der Fragestellungen und Wertungen einer Erinnerungskultur, die ihre wesentlichen Prägungen in den Debatten der Reformationszeit und des Kulturkampfes erfahren habe. Jeweils zeitbezogene Interessen hätten über Jahrhunderte eine "historische Legende" gestrickt, durch die "Canossa" zum Symbol des letztlich erfolgreichen Kampfes "eines machtvollen, gegen ein tyrannisches Königtum auftretenden Papsttums" (149) geworden sei, mit der Demütigung Heinrichs IV. und der von keinem seiner Nachfolger wieder auszugleichenden, fundamentalen Schwächung des deutschen Königtums als unmittelbarer Folge.
Der Papst also als Urheber allen Übels in der deutschen Geschichte, verantwortlich für die strukturelle Schwäche der spätmittelalterlichen deutschen Monarchie und noch die "Kleinstaaterei" der Neuzeit? Nach Fried verdankt sich diese Sicht schon der zeitgenössischen Polemik, deren durch Parteinahme und Feindseligkeit "deformierte Erinnerungen" ihre Spuren "im kollektiven Forschungsgedächtnis" (83) hinterlassen hätten. Entscheidend dafür sei die Aufnahmebereitschaft gewesen, auf die Lamperts Darstellung und "Brunos gegen Heinrich IV. geiferndes Buch vom Sachsenkrieg" (88) unter den Vorzeichen der konfessionellen Auseinandersetzung der Neuzeit gestoßen seien: "Aus diesen 'Quellen' speiste sich fortan ein Traditionsbecken, das - je nach konfessioneller Orientierung - bald einen seligen Freiheitskämpfer, bald einen machtgierigen Antichristen auf der Kathedra Petri, bald einen bösen Tyrannen, bald einen gedemütigten König auf dem Kaiserthron auftauchen sah" (88f.). Langfristig habe die "forschende Sachlichkeit" der Magdeburger Zenturien und des Kardinals Baronius, die dem Bußgang von Canossa keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben (87), keine Chance gehabt gegenüber einem "konfessionalisierten, kampfbetonten Geschichtsbild, das nur allzu bald von schwarz-weiß-rot, von nationalpatriotischen Farben übermalt wurde. Auf diesem Canossa wehte gleichsam die Kriegsflagge des Deutschen Reiches" (149).
Zur Polemik der Zeitgenossen und den konfessionellen Auseinandersetzungen der Frühneuzeit sei also als dritter Faktor, der die "Deformationen im kulturellen Gedächtnis" (83) moduliert habe, die nationale bzw. nationalistische Emphase des 19. und 20. Jahrhundert getreten. Von Wilhelm Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit bis zu einem in der DDR publizierten Lehrbuch lässt Fried eine eindrucksvolle Reihe von Überblicksdarstellungen und Deutungen Revue passieren, die fraglos eine Kontinuität des nationalen Deutungsmusters von Bismarck bis in die Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs erkennen lassen (vgl. 11f.). Schon Hermann Heimpels Formulierung, "das alte sakrale Königtum" habe in Canossa "die Todeswunde empfangen" [2] (11), verbindet allerdings mit durchaus noch national gefärbtem Bedauern eine Deutungslinie, die auch unabhängig von solchen Kontexten wirksam geworden ist und ihre exemplarische Ausformulierung durch einen erstmals 1933 erschienenen, im Jahr 1963 erneut abgedruckten Beitrag von Anton Mayer-Pfannholz gefunden hat [3]. Demnach bedeutete "Canossa" nicht nur die Wende im mittelalterlichen Papst-Kaiser-Verhältnis; durch die Bußleistung Heinrichs IV. habe das deutsche Königtum vielmehr seine besondere sakrale Legitimation und Unantastbarkeit verloren, sei es seiner übernatürlichen Ressourcen beraubt und weitgehend auf innerweltlich-rationale und machtpolitische Legitimationsgründe und Herrschaftsmittel zurückgeworfen worden.
Einem solchen nahezu mechanistischen Verständnis sakraler Herrschaftslegitimation, die durch den Bußgang Heinrichs IV. gleichsam "abgeschaltet" worden wäre, ist auch unabhängig von Frieds Kritik an der allgemein akzeptierten Rekonstruktion des Canossa-Ereignisses widersprochen worden [4]. Ob man aber der aktuellen Forschung mit Fried vorwirft, im Bann konfessionell oder national geprägter Papstkritik die machtpolitischen Folgen von "Canossa" zu überzeichnen, oder die Fixierung auf die Konsequenzen des Bußgangs für die sakrale Herrschaftslegitimation kritisiert: In beiden Fällen geht es darum, solche weitreichenden Deutungskonzepte an den konkreten politischen Zusammenhängen, an Absichten, Motiven und Handlungsspielräumen der Akteure zu überprüfen und dabei vor allem die unvoreingenommene, kritische Sichtung der Überlieferung - sei sie nun methodisch in einer klassischen Quellen- oder in der von Fried entworfenen Erinnerungskritik fundiert - zum Ausgangspunkt zu nehmen. Auf "Canossa" bezogen lässt sich das so formulieren: Kann sich die Aufladung mit nahezu mythischen Bildern und Wirkungen gemäß Frieds Forschungs- und Erinnerungskritik ausschließlich auf Verformungen der Forschungsgeschichte und schon der verschriftlichten Erinnerung der Zeitgenossen und der unmittelbaren Nachwelt berufen? Oder lassen sich zumindest im Horizont der Vorstellungen, Intentionen und Interessen der Akteure sowie vor allem in den Wirkungen des Ereignisses Anhaltspunkte dafür finden, dass Exkommunikation und Buße des Königs vor Gregor VII. als Ursache langfristiger Wandlungsprozesse von Politik, Kultur und Mentalität der hochmittelalterlichen Welt beschrieben werden können?
Diese Frage ist schon vor gut drei Jahrzehnten aufgeworfen worden, als Rudolf Schieffers Habilitationsschrift den Streit um die Investitur nicht als Ursache, sondern Folge des Konfliktes zwischen König und Papst ausgewiesen und damit zugleich festgestellt hatte, dass es dem Papst zunächst gar nicht um einen grundsätzlichen Angriff auf die sakrale Stellung des deutschen Königs gegangen war. Schieffer hielt allerdings daran fest, dass der Konflikt in der weiteren Entwicklung immer grundsätzlichere Formen angenommen und die hergebrachte Zuordnung von König, Kirche und Papst gesprengt habe [5]. Diese weitreichenden Konsequenzen lassen sich aber nur im Blick auf den gesamten Konfliktverlauf sowie dessen Interdependenz mit anderen Entwicklungen und Wandlungsprozessen der Zeit beschreiben [6]; das Ereignis "Canossa" lässt sich auch deshalb nicht mehr als wesentliche Ursache des kulturellen und sozialen Wandels oder auch nur einer nicht mehr rückgängig zu machenden Schwächung des deutschen Königtums verstehen. Frieds Kritik trifft damit freilich nicht Anspruch und Differenziertheit der aktuellen Diskussion, die in seinem forschungsgeschichtlichen Überblick auch gar nicht dokumentiert ist.
Eine wichtige Korrektur erbringt Frieds Verweis auf die nationale Verengung der deutschen Forschungsgeschichte, wenngleich seine polemische Überspitzung der zunehmenden Internationalisierung der aktuellen Forschung und der internationalen Kommunikation und Rezeption von Fragestellungen und methodischen Konzepten wohl nicht gerecht wird: "Kein Spanier, kein Franzose, kein Ire, Engländer, Schotte, Pole oder Italiener käme auf den Gedanken, Canossa zur Chiffre des großen geistigen Wandels zu erklären, der seit dem 11. Jahrhundert Europa oder doch seinen Westen erfasste" (152). In der Tat lässt sich nicht leugnen, dass die neueren Darstellungen und Deutungskonzepte etwa der englischsprachigen Mediävistik dem Kaiser-Papst-Konflikt keine Schlüsselrolle mehr für das Verständnis der sozialen, kulturellen und politischen Wandlungsprozesse des Hochmittelalters zuweisen, doch finden Biographien etwa Heinrichs IV. oder Gregors VII. auch im englischen Sprachraum weiterhin Interesse [7]. Gerade die zunehmende internationale Forschungszusammenarbeit dürfte auch die Voraussetzung dafür bieten, den hochmittelalterlichen Wandel in einem multiperspektivischen Zugriff differenzierter als bisher zu beschreiben und die wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung, aber durchaus auch die relative Eigenständigkeit verschiedener Felder und Gegenstände des Wandels genauer zu erfassen.
Die deutsche Forschung sollte sich für dieses internationale Gespräch endgültig aus der Suggestionskraft alter Konzepte befreien, die im Investiturstreit insgesamt oder auch nur im Bußgang von Canossa die eine, wesentliche Ursache für den Aufbruch hochmittelalterlicher Rationalität oder weitreichende soziale und politische Differenzierungsprozesse sehen. Umso weniger ist aber nachzuvollziehen, dass Fried den wesentlichen Ertrag seiner Neubestimmung der in Canossa gestalteten Beziehung zwischen Papst und König doch wieder genau auf dem Feld sucht, das nach seiner eigenen Beurteilung der deutschen Forschungsgeschichte ganz von den Vorurteilen einer konfessionell und national bestimmten Tradition durchtränkt ist: bei der Frage nach Stärke und Schwäche des mittelalterlichen deutschen Königtums. Zweifellos lag die besondere Gefahr für das salische Königtum gerade darin, dass der zur Jahreswende 1075/76 eskalierte Konflikt mit dem Papst und der schon ältere Konflikt mit einem wichtigen Teil der deutschen Fürsten zusammenwirkten, sich gegenseitig befeuerten und verstärkten. In der Konsequenz seiner Neubewertung der Vereinbarungen von Canossa gelangt Fried in dieser Hinsicht zu einer folgenreichen Verschiebung der Gewichte: Wenn der Konflikt mit dem Papst eigentlich schon in Canossa aus der Welt geschafft war und nur durch die Unversöhnlichkeit der deutschen Gegner Heinrichs wieder angefacht wurde, dann wird der Konflikt zwischen König und Fürsten zum konkurrenzlosen Zentrum der Ereignisse. Dann wäre es letztlich vor allem der Hass der Fürsten auf den Salier, der eine Realisierung des von Papst und König gewollten Friedens verhindert hätte (vgl. 153).
Eine solche Fokussierung auf die gewissermaßen weltliche, machtpolitische Seite der jahrzehntelangen Konflikte übersieht, dass die antisalische Opposition im Reich und der Kampf der kirchlichen Reformbewegung, der von Gregor VII. zuerst gar nicht gegenüber dem König, sondern gegenüber den der Simonie bezichtigten Bischöfen und den unter dem Label des Nikolaitismus zu Ketzern erklärten verheirateten Klerikern verschärft worden war, vielfach miteinander in Wechselwirkung traten, ohne dass sich eine der beiden Seiten vollständig auf die andere zurückführen ließe. Das Eintreten für die gregorianischen Reformen und der Kampf gegen den König gingen nicht nur aus ideologischen Gründen vielfach zusammen; wenn wichtige Protagonisten der Kloster- und Kanonikerreformen für Gregor VII. eintraten oder wenn Gegner des Königs wie Rudolf von Rheinfelden oder Welf IV. reformorientierte Gemeinschaften gründeten, dann mag das nicht zuletzt auch darauf hindeuten, dass Reformideen über die gleichen Netzwerke verbreitet wurden, mit denen auch politische Verbindungen hergestellt wurden.
Die antisalischen Fürsten betrieben freilich auch ganz unabhängig von "Canossa" ihr eigenes Geschäft, und ihr Kampf gegen den Salier war jedenfalls kein vorbehaltloses Eintreten für die Kirchenreform, sondern hatte politische Ursachen, die sich wohl nicht in jeder Hinsicht aufklären lassen. Den damit verbundenen Fragen geht Fried nicht nach; sein Resümee greift vielmehr auf Stereotypen einer machtfixierten Forschungstradition zurück, die man nach den methodischen Neuorientierungen nicht nur der Mediävistik der letzten drei bis vier Jahrzehnte, sondern auch der deutschen Frühneuzeitforschung und der von dieser etablierten Neubewertung des Alten Reichs längst überwunden glaubte: "Der interne Hader der Deutschen brachte ihr Reich an den Rand des Zerfalls. Drei Jahrhunderte mit immer wieder erneuertem Gegenkönigtum standen ihm nun bevor. Eine starke Einheit war den 'Deutschen', den Fürsten und Völkern im regnum Teutonicorum, für die kommenden Jahrhunderte nicht mehr beschieden" (153).
Damit werden letztlich doch wieder die Bewertungskriterien akzeptiert, denen die von Fried mit dankenswerter Deutlichkeit disqualifizierte national bzw. "schwarz-weiß-rot" gestimmte Forschungsgeschichte das hochmittelalterliche Königtum unterworfen hatte, nur dass Fried die Schuld an der als unheilvoll qualifizierten Entwicklung nicht dem Papst, sondern den deutschen Fürsten zuweist. Implizit werden dabei gleich mehrere der wichtigsten neueren Forschungskonzepte zu Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen königlicher Herrschaft (nicht nur) im ostfränkisch-deutschen Reich zurückgewiesen, die etwa die grundlegende Angewiesenheit des Königs auf den Konsens, die Mitsprache der Großen, die funktionale Zusammengehörigkeit von Herrschaft und Konflikt, aber auch das Erstarken fürstlicher Verantwortung in der spätsalischen Zeit beleuchtet haben. In diesem Kontext werden Herrschaftspraxis und Konfliktverhalten der beiden letzten Salier zumeist als Bruch mit den eingespielten Regeln und Erwartungen beurteilt [8]; Fried sieht demgegenüber in Heinrich IV. wieder den einsamen Verteidiger monarchischer Autorität, der sich "vergebens" gegen Fürstenegoismus und "Zersplitterung" der Reichsgewalt "gestemmt" (153) habe.
Selbstverständlich sind auch an die aktuellen Forschungskonzepte kritische Fragen zu richten; so mag etwa allzu emphatische Betonung des Konsenses als Grundprinzip der Herrschaft die Konkurrenz der Machtinteressen zu gering werten, und hinter der in Forchheim, aber auch bei der letzten Erhebung gegen Heinrich IV. artikulierten Sorge der Fürsten für das Reich darf man durchaus auch ganz eigene, "egoistische" Motive vermuten. Zum Traum und Alptraum des 19. Jahrhunderts von der starken königlichen Zentralgewalt in einem einigen mittelalterlichen Reich, die in den Kämpfen des Investiturstreits endgültig verspielt worden wäre, dürfte trotzdem kein Weg zurückführen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. besonders Harald Zimmermann: Der Canossagang von 1077. Wirkungen und Wirklichkeit (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. 1975, Nr. 5), Wiesbaden 1975.
[2] Hermann Heimpel: Canossa, in: Ders.: Vier Kapitel aus der deutschen Geschichte, Göttingen 1960, 27-46, hier 421.
[3] Anton Mayer-Pfannholz: Die Wende von Canossa. Eine Studie zum Sacrum Imperium, in: Hellmut Kämpf (Hg.): Canosssa als Wende (Wege der Forschung 12), Darmstadt 1963, 1-26, zuerst in: Hochland 30 (1932/33), 385-404.
[4] Vgl. dazu Ludger Körntgen:"Sakrales Königtum" und "Entsakralisierung" in der Polemik um Heinrich IV., in: Gerd Althoff (Hg.):Heinrich IV. (Vorträge und Forschungen;69), Ostfildern 2009, 127-160, besonders 128f.; Hartmut Hoffmann: Canossa - eine Wende? In: DA 66 (2010), 535-568, hier 544-556.
[5] Rudolf Schieffer: Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König (MGH Schriften; 28), Stuttgart 1981.
[6] Vgl. jetzt Stefan Weinfurter: Canossa als Chiffre. Von den Möglichkeiten historischen Deutens, in: Wolfgang Hasberg / Hermann-Josef Scheidgen (Hgg.): Canossa. Aspekte einer Wende, Regensburg 2012, 124-140, hier 124, mit dem Urteil, "daß der Canossagang selbst nur einen kleinen Ausschnitt darstellt aus einem umfassenden Ordnungskonflikt, der aus ganz unterschiedlichen Quellen gespeist wurde".
[7] Dazu jetzt Stuart Airlie: A View from Afar. English Perspectives on Religion and Politics in the Investiture Conflict, in: Ludger Körntgen / Domink Waßenhoven (Hgg.): Religion und Politik im Mittelalter. Deutschland und England im Vergleich. Religion and Politics in the Middle Ages. England and Germany by Comparison (Prinz-Albert-Studien; 29), Berlin / Boston 2013, 71-88.
[8] Vgl. Gerd Althoff: Heinrich IV. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2006; Stefan Weinfurter: Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006, 46-65.
Ludger Körntgen