Rezension über:

Marcus Köhler: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress 2012, 300 S., 48 Abb., ISBN 978-3-8471-0013-3, EUR 53,90
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Rezension von:
Ricarda Vulpius
Berlin / München
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker / Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Ricarda Vulpius: Rezension von: Marcus Köhler: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 5 [15.05.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/05/22531.html


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Marcus Köhler: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert

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Vom Russländischen Reich geht für die Imperiumsforschung eine ungebrochen große Faszination aus. Einer der Gründe ist das Auseinanderklaffen der Bildung eines imperialen Staatskörpers seit dem 15. Jahrhundert einerseits und der Entwicklung einer imperialen Selbstreflexion mehrere Jahrhunderte später andererseits. Marcus Köhler begibt sich mit seinem spannenden Buch zur russischen Ethnographie im 18. Jahrhundert in genau die Zeit, in der sich russländische Eliten der Herrschaft über ein Vielvölkerreich zunehmend bewusst wurden. Es ist sogar genau eine der Kernthesen Köhlers, dass die Herausbildung der Ethnographie als Wissenschaft in Russland als eine Geschichte der Bestandsaufnahme der ethnischen Vielfalt des eigenen Landes zu sehen ist, die sich im Stolz über das multiethnische Ausmaß als einem wichtigen Bestandteil imperialen Selbstbewusstseins niederschlug.

Köhler gliedert seine Arbeit neben Einleitung und Ausblick in vier ungleich starke Kapitel: Einführend beschreibt er die "wandernden Grenzbereiche" des Zentrums als wesentlichen Unterschied zwischen dem kontinentalen und dem maritimen Imperium. Für Russland, so Köhler, führte die Erfahrung von den sich stetig verändernden Übergangszonen anstelle von scharf umrissenen Grenzen zu der entscheidenden Erfahrung, dass es das absolut Fremde, die "Neue Welt", wie sie die Abenteurer der Überseeimperien erlebten, nicht gab.

Im zweiten, etwas umfangreicheren Kapitel geht es Köhler darum, im Überblick die Herausbildung der Völkerkunde in Russland in ihren Entwicklungsetappen von der Wissensanhäufung hin zur systematisierten Wissenschaft nachzuzeichnen. Köhler plädiert dafür, weniger das Auftauchen der Bezeichnung einer Disziplin (in diesem Fall "ėtnografija") als vielmehr die praxisnahe Entwicklung im Vorfeld derselben in den Vordergrund zu rücken. Dies vollzieht er für Russland souverän und ohne sich in Details zu verlieren nach, geht auf die Expeditionsgruppe unter Valdimir Atlasov (1697-1699) ein, vergleicht Anliegen und Erträge der Reisegruppe um Messerschmidt, der ersten und zweiten Kamčatka-Expedition von 1725-1730 und 1733-1743, der Akademieexpedition von 1768-1774 sowie der Nordostpazifikexpedition von 1785-1794. Immer mit Blick auf die gesamteuropäische Entwicklung der Disziplin zeichnet er überzeugend nicht nur die europaweite Vorreiterrolle der in Russland forschenden Gelehrten in der zweiten Jahrhunderthälfte, sondern auch die sich bei ihnen allmählich vollziehende Ausdifferenzierung von geographischen, karthographischen und ethnographischen Forschungen nach.

Köhlers größte Eigenleistung liegt im quellengesättigten, über hundert Seiten langen Kapitel mit dem Titel "Verwissenschaftlichung des imperialen Zusammenhanges". Dabei führt der Titel ein wenig in die Irre. Wer darauf hofft zu lesen, dass hier Forschungsreisende den Auftrag erhielten, Ansprüche der Regierungszentrale auf Territorien bzw. auf ihnen siedelnde Ethnien explizit zu untermauern, wird enttäuscht. Auch werden keine Diskurse zu "barbarischen" Völkern wiedergegeben, die dringlich einer Zivilisierung durch das Russländische Reich bedürfen. Vielmehr zeigt Köhler anhand der Analyse von vorwiegend ethnographischen Schriften der Teilnehmer der großen Akademieexpeditionen nach Sibirien und in den Kaukasus, nämlich anhand von Johann Georg Gmelin, Georg Wilhelm Steller, Johann Anton Güldenstedt, Johann Peter Falk, Peter Simon Pallas und Johann Gottlieb Georgi, dass diese sich ganz im Geist der Aufklärung dem strikten Rationalismus, einem vorurteilsfreien, wissenschaftlichen Ethos verschrieben hatten, der von einem tiefen Respekt vor der Schöpfung und der menschlichen Vielfalt geprägt war.

Köhlers profunde Kenntnis der umfangreichen Quellen ist beeindruckend. Auch seine biographischen Recherchen zu sämtlichen Forschungsreisenden sowie ihren Helfern dienen dem tieferen Verständnis mehrerer Generationen von Gelehrten, die sich in einer Übergangsphase der Wissenschaften weg vom "alles umfassenden Überblick" hin zur Konzentration auf "ihre" Fächer befanden. Das den Zitaten zu entnehmende Bemühen der Gelehrten, faktenorientiertes Wissen zu generieren und zu systematisieren, beißt sich jedoch mit Köhlers Anliegen, nicht bloß ein Buch zur Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, sondern gerade die Zusammenhänge mit "imperialer Politik" im 18. Jahrhundert aufzuzeigen. Genau hier liegt die Problematik. Köhler bemüht sich an allen Ecken und Enden, den Texten politisch-imperiale Aussagen abzuringen. Selten jedoch finden sich hierzu klare Formulierungen wie die bei Güldenstedt: "Diese Gegend ist fürtreflich zur Anlage einer Kolonie. [...] Bey einer fleißigen Einrichtung des Ackerbaus, könnte das Land weit mehr bevölkert seyn, als es izt ist" (146). In der Regel aber stehen Köhlers in die politische Sphäre gehobene Interpretationen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Äußerungen. Von Johann Georg Gmelin behauptet er, dass ihm die Tataren als zu zivilisierende Untertanen erschienen seien, bleibt dem Leser die dafür aussagekräftigen Zitate jedoch schuldig. Wo Peter Simon Pallas schreibt: "In Treue gegen ihre rechtmäßigen Fürsten übertreffen die Kalmücken viele andre Nationen. Von ihnen leiden sie alle Unterdrückungen geduldig." (179), liest Köhler, zumindest indirekt, Beherrschungsvorschläge heraus.

Tatsächlich spiegeln sich in den von Köhler ausgewählten Zitaten der Forschungsreisenden keine "imperialen Diskurse" wider, es sei denn man definiert "Imperialität" lediglich mit dem Vorhandensein bzw. "imperial" im Falle der Forscher mit der Beschreibung von verschiedenen Völkerschaften. Politische Äußerungen, wie die von Peter Simon Pallas, ("...zu wünschen wäre es, dass man sie [die Čerkessen] [...] zu guten Vasallen machen und etwas zur Ordnung gewöhnen könnte.") (185) finden sich denn auch nicht zufällig nur in den Aufzeichnungen der Privatreise des Gelehrten. Das Missverständnis wird noch deutlicher, wenn Köhler aus seinen Befunden weitreichende Folgerungen für Russland als Ganzes zieht, ohne die dafür nicht-repräsentative Auswahl seiner der Aufklärung verschriebenen, wissenschaftlich arbeitenden Akteursgruppe zu reflektieren. Wenn Köhler behauptet, einen "pejorativ besetzten 'Barbarendiskurs'" habe es im Russland des 18. Jahrhunderts nicht gegeben (16, 41), das Gefühl kultureller Superiorität sei noch nicht verbreitet gewesen, dann trifft dies zwar für die von ihm untersuchten Quellen zu, geht jedoch an den tatsächlich vorherrschenden imperialen Diskursen der politischen Klasse im 18. Jahrhundert vorbei. Dort finden sich spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts nicht nur Begriffe wie "Steppenbiester" und "Barbaren", sondern auch handfeste Zivilisierungsdiskurse, bei denen die Lebensweise des russischen Volkes die angestrebte Bezugsebene darstellt.

Köhlers Ausführungen gewinnen wieder sehr in seinem letzten Kapitel zu den Wirkungen und Nachwirkungen der "Völker-Beschreibung". Hier zeigt er anhand der russischen Porzellankunst, wie die wissenschaftlich untermauerte Multiethnizität des Reiches eine direkte Umsetzung in der bildenden Kunst erfährt, wie in der Petersburger Kunstkammer die Exponate des Völkerreichtums eine immer größere Bedeutung erhalten und wie schließlich vor allem unter der Zarin Katharina II. die Absicht deutlich wird, die Multiethnizität ihres Reiches bewusst nach außen zu kommunizieren. Wenn Intentionen und Wirkungen der Forschungsreisenden auseinandergehalten werden, so ist den Schlussworten des Autors uneingeschränkt zuzustimmen, wonach das Völkerkompendium zu einem Bestandteil einer Identitätspolitik des Reiches wurde und dabei half, "sich als eine imperiale Macht zu entwerfen" (266). Alles in allem schließt Köhler mit seinem gut lesbaren Buch ein wichtiges Forschungsdesiderat zum wissenschaftlichen ethnographischen Diskurs in Russlands 18. Jahrhundert.

Ricarda Vulpius