Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München: C.H.Beck 2013, 544 S., 13 Abb., ISBN 978-3-406-64522-8, EUR 24,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Albin Gladen / Piet Lourens / Jan Lucassen u.a. (Hgg.): Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher. Quellen zur saisonalen Arbeitswanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Münster: Aschendorff 2007
Esther Möller / Johannes Wischmeyer (Hgg.): Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Benjamin Hasselhorn: Politische Theologie Wilhelms II., Berlin: Duncker & Humblot 2012
Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: C.H.Beck 2010
Hubert Wolf / Dominik Burkard / Ulrich Muhlack: Rankes "Päpste" auf dem Index. Dogma und Historie im Widerstreit, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002
Hubert Wolf (Hg.): Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2001
Einen guten Kriminalroman erkennt man daran, dass die Spannung bis zum Schluss erhalten bleibt. Das ist auch beim neuen Bestseller des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf, der nach zwei Monaten bereits in dritter Auflage auf dem Markt ist, der Fall. Dabei handelt es sich um eine exzellent recherchierte Story, die mit 70 Seiten Anmerkungen und 20 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis den wissenschaftlichen Standards vollauf gerecht wird.
Erzählt wird die Geschichte der Prinzessin Katharina von Hohenzollern-Sigmaringen (1817-1893), die nach zweifacher Verwitwung und einem gescheiterten Klosteraufenthalt auf Anraten ihres Beichtvaters, des Kurienkardinals Karl August von Reisach, in das Kloster der regulierten Franziskanerinnen vom Dritten Orden in Sant'Ambrogio in Rom eintrat. Nach einem guten Jahr bat sie ihren Cousin, Erzbischof Gustav von Hohenlohe-Schillingsfürst, sie wieder aus dem Kloster zu holen, da sie sich Giftanschlägen ausgesetzt sah. Ihr neuer Beichtvater, der Benediktiner Maurus Wolter, trug ihr auf, ihre Erlebnisse in einer Anzeige dem Heiligen Offizium, der obersten Glaubensbehörde der katholischen Kirche, vorzutragen. Aus den Akten des daraufhin in Gang gesetzten Inquisitionsprozesses berichtet Hubert Wolf.
Vor den Augen des Lesers entfaltet sich nun ein Spinnengewebe von Vergehen, die nicht nur nach kirchlichem, sondern auch nach staatlichem Gesetz strafbar waren und sind. Die 1854 verstorbene Gründerin des Klosters, Maria Agnese Firrao, war 1816 vom Heiligen Offizium als falsche Heilige verurteilt worden, weil ihre übersinnlichen Fähigkeiten und Wunder als unecht erkannt worden waren. Nach wie vor wurde sie aber in ihrem Kloster als Heilige verehrt. Die junge und attraktive Novizenmeisterin Maria Luisa etablierte unter dem Vorwand, die Fähigkeit zur Vermittlung himmlischer Botschaften von ihrer Gründerin übertragen bekommen zu haben, im Kloster ein System gegenseitiger sexueller Abhängigkeit zwischen ihr und den Novizinnen. Besonders den zweiten Beichtvater, den Jesuiten Giuseppe Peters, mit dem sie ebenfalls ein sexuelles Verhältnis verband, verstrickte sie in ihr fingiertes Programm von Visionen, vom Himmel gefallenen Ringen mit Rosenduft sowie einem Brief der Gottesmutter Maria, in dem der Jesuitengeneral aufgefordert wurde, die beiden Theologen Carlo Passaglia und Clemens Schrader in zwei verschiedene Häuser zu versetzen. Als Katharina von Hohenzollern für Maria Luisa den obszönen Brief eines Amerikaners übersetzen sollte, wurde sie stutzig. Daraufhin verübte Maria Luisa mit einigen von ihr abhängigen Schwestern mehrere Anschläge auf das Leben der Prinzessin. Das Gift wirkte nur deswegen nicht tödlich, weil die enorme Körperfülle der Prinzessin die verabreichte Dosis wegstecken konnte.
Im Inquisitionsprozess kam die ganze Palette von Vergehen gegen den Glauben (gefälschte "himmlische" Briefe, Mystizismus bis hin zum Bruch des Beichtgeheimnisses usw.) und gegen die Sitte (lesbische Beziehungen, sexueller Kontakt zwischen Schwester und Beichtvater, Zungenküsse usw.) zum Vorschein. Die Fassade eines frommen Klosters brach nach und nach zusammen. Die eigentliche Enthüllung hat sich Hubert Wolf jedoch bis auf Seite 329 aufgehoben. Hinter dem Beichtvater Giuseppe Peters verbarg sich der Jesuit Joseph Kleutgen, einer der wichtigsten und einflussreichsten Philosophen und Theologen der Neuscholastik, Professor an der Gregoriana, Konsultor der Indexkongregation und Berater der Gruppe von Kardinälen, Bischöfen und Theologen, deren Ziel die Definition der Unfehlbarkeit des Papstes war. Während die von der Inquisition vernommenen Schwestern im Verlauf der Verhöre die Anschuldigungen bis in Details zugaben, verteidigte sich Kleutgen so geschickt, dass er am Ende mit einer Strafe von fünf Jahren Klosterhaft davonkam, die von Pius IX. persönlich auf zwei Jahre reduziert wurde, von denen er eineinhalb Jahre in einer außerhalb Roms gelegenen Jesuitenniederlassung verbringen musste. Seiner Karriere bereitete diese Verurteilung nur einen kleinen Knick.
Kleutgens Einfluss auf die Theologie und Politik im Umfeld des Ersten Vatikanischen Konzils machte sich nach der Rückkehr nach Rom besonders bemerkbar. Gegen die von Ignaz von Döllinger auf der Münchener Gelehrtenversammlung von 1863 vorgebrachte Kritik gegen die Scholastik als einzig maßgebliche theologische Konzeption der katholischen Kirche richtete sich das Breve "Tuas libenter". Darin wurde ein neues Verhältnis von Theologie und Lehramt bestimmt, welches neben das feierliche und außerordentliche (Dogmen) ein ordentliches Lehramt stellte, das die Freiheit der Theologie beschränkte, indem es das Lehramt der Theologen dem Lehramt der Hirten der Kirche nicht mehr neben-, sondern unterordnete. Kardinal Reisach war der Inspirator dieser Position, die vor Döllinger bereits die Werke des Münchener Philosophen Jakob Frohschammer und des Wiener Privatgelehrten Anton Günther auf den Index der verbotenen Bücher gebracht hatte. "Ein Häretiker schreibt Dogmen" - mit dieser Überschrift macht Hubert Wolf auf die theologische Brisanz aufmerksam, die hinter dem Fall Sant'Ambrogio steht. Denn die unmittelbare Folge der "Erfindung" des ordentlichen Lehramts war die auf dem Ersten Vatikanum durchgesetzte Definition der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen. Kardinal Reisach, der Protegé Kleutgens, starb zwar vor der Eröffnung des Konzils, doch der verurteilte ehemalige Beichtvater konnte als theologischer Berater des Erzbischofs von Kalkutta am Konzil teilnehmen und entscheidend an der Formulierung des Infallibilitätsdogmas mitwirken.
So bleibt nach der Lektüre des während eines Forschungsjahres am Historischen Kolleg in München entstandenen Buches ein schales Gefühl zurück. Zum einen erschrickt der Rezensent über das Ausmaß an regelwidrigem, unsittlichem Verhalten in einem Kloster, vor der Öffentlichkeit mit krimineller Energie versteckt und in einen Kokon von Intrigen eingesponnen. Zum anderen stellen sich auch theologische Fragen nach der historischen Bedingtheit dogmatischer Entscheidungen. Nach kirchlicher Überzeugung ist zwar zu unterscheiden zwischen der persönlichen Würdigkeit einer Person und den von ihr vertretenen Inhalten, doch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verworfene Geschichtlichkeit von Theologie und ihre Entwicklungsfähigkeit dürfen nicht nur als vom Zweiten Vatikanischen Konzil rezipierte Lehre auf Zukunft hin interpretiert werden. Auf ihrem Hintergrund sollten auch all die dogmatischen Festlegungen neu reflektiert und überprüft werden, deren Zustandekommen sich aus den Akten zumindest ambivalent darstellt. "Die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh 8,32) - es bedarf einer theologischen Rezeption des Wolf-Buches, wenn es mehr sein soll als ein historischer Bestseller und vielleicht ein spannender Sexfilm.
Joachim Schmiedl