Frank Lorenz Müller: Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos, München: Siedler 2013, 459 S., ISBN 978-3-8275-0017-5, EUR 24,99
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Rechtzeitig zum 125. Todestag Kaiser Friedrichs III., der am 15. Juni 1888 nach nur 99tägiger Regierung an Kehlkopfkrebs starb, sind zwei einschlägige Bücher erschienen: das Tagebuch des Kaisers aus seiner langen Kronprinzenzeit und seiner kurzen Regierungszeit für die Jahre 1866 bis 1888 [1] und eine Biographie des in St. Andrews lehrenden Historikers F. L. Müller. Um diese Biographie geht es hier. Sie war zunächst in englischer Fassung 2011 erschienen ("Our Fritz. Emperor Frederick III and the Political Culture of Imperial Germany"); nun liegt sie 2013 in vorbildlicher deutscher Übersetzung vor.
Der Verfasser hat eine stupende Masse von veröffentlichtem und archivalischem Material verarbeitet: Von dem veröffentlichten Material hat sich die zeitgenössische Zeitungs- und Zeitschriftenliteratur als besonders ergiebig erwiesen. Unter den archivalischen Quellen ragen besonders heraus die Briefe des Vertrauten des Kronprinzen, des Generals Albrecht von Stosch, die sich derzeit noch in Privathand befinden, in Kürze aber in großzügiger Auswahl ediert werden (vom Rezensenten); ferner der Briefwechsel zwischen Kronprinz Friedrich Wilhelm und seiner Frau, Kronprinzessin Viktoria. Dieser sehr umfangreiche Briefwechsel, der sich im Archiv der Hessischen Hausstiftung in Schloss Fasanerie bei Fulda befindet, verdiente es, in wissenschaftlicher Form publiziert zu werden (natürlich in Auswahl). Der jetzige Chef der Hausstiftung versteht sich indes nicht dazu, eine solche Publikation zu ermöglichen.
Müller zeichnet in sechs quellengesättigten Kapiteln ein überzeugendes Bild dieses tragischen Hohenzollernkaisers und räumt damit ein weiteres Mal mit der Legende auf, dass Friedrich III. ein liberaler Kaiser gewesen wäre, der, wäre ihm eine längere Regentschaft beschieden gewesen, das Deutsche Reich in parlamentarische Bahnen gelenkt, eine ruhige Außenpolitik geführt und Deutschland vor der Katastrophe des Ersten Weltkriegs bewahrt hätte. Das Wort von der übersprungenen Generation verweist er ebenfalls in das Reich der Mythen. Dies ist das überzeugende Hauptergebnis des Buches, das sich nun fortan zumindest in der Wissenschaft durchsetzen wird; der Geschichtsfreund wird allerdings weiterhin an der reizvollen, aber müßigen Frage Gefallen finden: "Was wäre geschehen, wenn ..."
Im ersten Kapitel erörtert der Verfasser die spannungsgeladenen Beziehungen des Kronprinzen zu seinem strengen Vater, zu seiner dominanten Frau und zum diktatorischen Reichskanzler Bismarck. Im nächsten Kapitel wird der Liberalismus des Kronprinzen unter die Lupe genommen und festgestellt, dass der Kronprinz zwar gewisse liberale Anschauungen vertrat, die aber unvereinbar waren mit seiner rückwärtsgewandten Vision von einem mittelalterlichen deutschen Kaisertum. Sodann werden die Popularität des Kronprinzen im deutschen Volk untersucht sowie Friedrich Wilhelms Vorstellungen, beim Thronwechsel mit prominenten Vertretern der linksliberalen Partei (L. Bamberger, H. Rickert, M. v. Forckenbeck u.a.) zusammenzuarbeiten. Der Verlauf und die politischen Folgen der tückischen Krankheit des Kronprinzen dürfen nicht fehlen. Schließlich geht es um das Nachleben des Friedrichbildes, wie es einerseits die Linksliberalen in Presse und Biographien und anderseits die Konservativen in ihren Organen nach 1888 vermittelten.
Der im Ganzen negativen Beurteilung des Kronprinzen durch den Verfasser hinsichtlich der politischen Ideen ist zuzustimmen. Der Rezensent würde sie in manchen Facetten noch schärfer formulieren und dem Urteil Bismarcks recht geben, einmal hinsichtlich des Liberalismus des Kronprinzen: "Daß Kaiser Friedrichs Liberalismus seiner unglaublichen politischen Schwachköpfigkeit entsprang, muß den Leuten erst noch klar werden" (88). Und hinsichtlich der Beziehung des Kronprinzen zu seiner willensstarken Gattin hat Bismarck einmal im privaten Kreise den Kronprinzen als unglaublich unterwürfig gekennzeichnet; er sei von ihr abhängig "wie ein Hund" (302). Diese Unterwürfigkeit geht so weit - das ist ein bemerkenswertes psychologisches Phänomen -, dass man sie aus seinem eigenen Tagebuch mit keiner Silbe herauslesen kann. Auch der Briefwechsel gibt dafür keine deutlichen Anhaltspunkte. Die aus der Umgebung des Kronprinzenpaares überlieferten Quellen sind in dieser Hinsicht indes überwältigend. Viktoria hat ihren Mann wie einen Bären an der Leine geführt - im Privatleben wie in den politischen Vorgaben an ihren Mann. Das wusste man in der damaligen Öffentlichkeit, die ihr gegenüber überwiegend feindselig eingestellt war. Bismarck hatte ihre "Engländerei" schon 1856 übel vermerkt, als die beiden Hochgeborenen gerade erst frisch verlobt waren. Als Friedrich Wilhelm im Winter seines letzten Lebensjahres in Norditalien Heilung in mildem Klima suchte, beharrte Viktoria darauf, in einer Villa zu wohnen, die einem Engländer gehörte. Als sie selbst 1901 ihre letzte Ruhe an der Seite ihres Manns in der Friedenskirche in Potsdam fand, bestand sie darauf, in einem in England gefertigten Sarg zu liegen. Es wäre an der Zeit, über die Kronprinzessin ein ähnlich gründlich recherchiertes Buch zu schreiben, wie es F. L. Müller jetzt über Friedrich III. vorgelegt hat.
Anmerkung:
[1] Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866-1888. Hrsg. u. bearb. v. Winfried Baumgart, Paderborn [u.a.] 2012.
Winfried Baumgart