Sara McDougall: Bigamy and Christian Identity in Late Medieval Champagne (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2012, V + 216 S., ISBN 978-0-8122-4398-7, USD 55,00
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Erst die Einführung der Scheidung seit dem 19. Jahrhundert hat die Bigamie zu einer nur noch sporadisch auftretenden Randerscheinung werden lassen. Ganz anders war die Lage im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Die Unmöglichkeit, eine bestehende rechtsgültige Ehe scheiden zu lassen und eine neue einzugehen, führten dazu, dass Bigamie-Delikte durchaus verbreitet waren.
Die Studie von Sara McDougall befasst sich mit dem Phänomen der Bigamie und ihrer gerichtlichen Verfolgung in der Diözese Troyes im 15. Jahrhundert. Auch wenn Studien zur Bigamie in anderen Teilen des mittelalterlichen Europa bereits vorliegen, handelt es sich hier um die erste Untersuchung, die sich dieses Themas in Form einer eigenständigen Monographie annimmt.
Die Quellengrundlage der Studie bilden die Register des Diözesangerichts von Troyes, dem im Spätmittelalter die Ehegerichtsbarkeit in dieser Region oblag. Wie die Verfasserin anhand eines Vergleichs mit anderen Teilen Europas verdeutlicht, scheint die Intensität, mit der im spätmittelalterlichen Troyes Bigamie verfolgt wurde, einzigartig gewesen zu sein. Die Offizialatsregister von Troyes verzeichnen allein für das 15. Jahrhundert mehr als einhundert Ermittlungsverfahren wegen Bigamie, von denen zwanzig in harte Strafen mündeten.
Im ersten Kapitel erörtert die Verfasserin zunächst den theologischen, kulturellen und rechtlichen Kontext der spätmittelalterlichen Bigamie und ihrer Verfolgung. Die in der Forschung verbreitete These von einer Krise der Ehe am Vorabend der Reformation aufgreifend versucht die Autorin zunächst nachzuweisen, dass - anders als manchmal behauptet - diese Krise in der zeitgenössischen Wahrnehmung weniger in einer übermäßigen Praxis von Klandestinehen und inzestuösen Beziehungen bestand, sondern vielmehr in der großen Verbreitung der Bigamie.
Weshalb aber, so ihre Folgefrage, wurde im Spätmittelalter Bigamie überhaupt als ein gravierendes Vergehen empfunden? Wie sie überzeugend darlegt, sind die Gründe dafür vor allem im mittelalterlichen theologischen Eheverständnis zu suchen. Patristischer und scholastischer Theologie folgend habe die mittelalterliche Kirche die in der Ehe Adam und Evas beispielhaft vorgegebene und in der Verbindung Christi und seiner Kirche sakramental symbolisierte monogame Ehe "bis der Tod uns scheidet" zur absoluten und ausnahmslosen Norm christlichen Eheverhaltens erhoben und diese für die gesamte Christenheit rechtlich verbindlich gemacht. Um Verstößen gegen diese Norm vorzubeugen, forderte das Kirchenrecht bis hin zu Synodalstatuten einzelner Diözesen von jedem, der eine Eheschließung in facie ecclesiae anstrebte, einen glaubwürdigen Nachweis über seine Ledigkeit.
Auf diesem theologischen und kirchenrechtlichen Hintergrund geht die Verfasserin im zweiten Kapitel auf zwanzig, im Offizialatsregister von Troyes besonders gut dokumentierte Bigamie-Fälle ein und versucht aus ihnen eine Typologie spätmittelalterlicher Bigamisten herauszuarbeiten (neun der dort verzeichneten Bigamie-Urteile werden im Anhang der Studie in vollständiger Transkription wiedergegeben). Wie aus ihrer Untersuchung hervorgeht, handelte es sich bei den verurteilten Bigamisten fast ausschließlich um Männer, allesamt Nicht-Adelige und Angehörige der städtischen Handwerkerschicht. Nahezu alle waren nach Troyes aus anderen Diözesen Nordfrankreichs gekommen und hatten ihre erste, immer noch bestehende Ehe anderswo geschlossen. In allen Fällen handelte es sich um reife, tendenziell ältere Personen, die allesamt vorgaben verwitwet zu sein. Sie alle hatten die für eine öffentliche Eheschließung erforderliche Ledigkeitserklärung durch Betrug erwirkt, etwa durch Meineid, mittels falscher Zeugenaussagen oder durch Bestechung des jeweiligen Geistlichen. Für ihr Vergehen wurden sie zu einer demütigenden, öffentlichen Zurschaustellung am Pranger vor der Kathedrale und zu einer mehrmonatigen Kerkerstrafe verurteilt.
Im dritten Kapitel beschäftigt sich die Verfasserin mit dem Problem weiblicher Bigamie. Wurden im spätmittelalterlichen Troyes bigame Männer bestraft wie erwähnt, so lassen sich bei den insgesamt dreiunddreißig Frauen, gegen die in den untersuchten Quellen wegen Bigamie-Verdacht ermittelt wurde, keine vergleichbar harten Strafen ausmachen. Von einer Ausnahme abgesehen, kamen alle mit einer einfachen Geldstrafe davon. Die Verfasserin sieht die Gründe dieses offenkundigen Missverhältnisses im zeitgenössischen gesellschaftlichen Rollenverständnis von Ehemann und Ehefrau. Die weitaus strengere Bestrafung männlicher Bigamisten hänge mit dem damaligen Verständnis des Mannes als Familienoberhaupt zusammen. Als solches habe dieser die volle Verantwortung und damit auch die Konsequenzen für Verfehlungen der Mitglieder der Hausgemeinschaft zu tragen gehabt.
Im vierten Kapitel fragt die Verfasserin nach den Beweggründen für das Eingehen einer Doppelehe. Wie sie darlegt, scheint die fast ausschließlich bei nicht-begüterten Schichten auftretende Bigamie dieselbe Funktion gehabt zu haben, wie bei Adeligen die kostspieligen Ehenichtigkeitsverfahren aufgrund von Blutsverwandschaft. In beiden Fällen habe es sich um Strategien gehandelt, um in einer Zeit absoluten Scheidungsverbots eine nicht mehr erwünschte Ehe durch eine neue ersetzen zu können.
Weshalb aber, so ihre Frage, nahmen so viele die mit einer öffentlichen bigamen Eheschließung verbundenen Risiken überhaupt in Kauf? Anders als manchmal behauptet, seien die Gründe dafür weniger in ökonomischen Motiven zu suchen, als vielmehr - paradoxerweise - im hohen Stellenwert der Ehe in der damaligen Gesellschaft. Die von der Kirche zum Sakrament aufgewertete Ehe habe ein derartiges Prestige genossen, dass selbst diejenigen ihrer Beziehung die Form einer rechtsgültigen Ehe verleihen wollten, denen es nach damaligem Recht gar nicht zustand.
Im letzten Kapitel geht die Autorin der Frage nach, weshalb das im gesamten Europa geltende Bigamieverbot gerade in der Diözese Troyes so intensiv in die Praxis umgesetzt wurde. Das große Ausmaß der Bigamieverfolgung in der Champagne sei im Zusammenhang mit dem Hundertjährigen Krieg zu sehen, von dem diese Region Frankreichs besonders betroffen war. Die Erfahrung dieses Krieges habe zu einer allgemeinen Verunsicherung und Krisenstimmung geführt, auf die die Bischöfe und Offiziale von Troyes mit einem erhöhten Aktivismus antworteten, dessen selbstgestecktes Ziel in der Wiederherstellung der vermeintlich im Verfall befindlichen christlichen Gesellschaftsordnung bestand. Die Bekämpfung der Bigamie als eines schwerwiegenden Verstoßes gegen das Ehesakrament sei als Teil dieses Programms einer renovatio der societas christiana zu verstehen. Die Diözese Troyes nehme damit, so die Verfasserin abschließend, wie keine andere mittelalterliche Diözese die ebenfalls durch das Ziel der renovatio des christlichen Ehestandes motivierte, intensive Bigamie-Verfolgung des Tridentinischen Zeitalters vorweg.
Die Monographie von Sarah McDougall stellt nicht nur eine wertvolle Fallstudie dar; mit ihrem Bemühen, die Bigamie und ihre Verfolgung im mittelalterlichen Troyes möglichst erschöpfend und von allen Seiten zu beleuchten und zu reflektieren, liefert sie zugleich einen wichtigen Beitrag zum grundlegenden Verständnis dieses im Mittelalter so verbreiteten gesellschaftlichen Phänomens. Dass dieses Phänomen vor allem auf dem Hintergrund des mittelalterlichen theologischen Verständnisses der Ehe als Sakrament zu verstehen ist, stellt zweifelsohne eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Einsicht dieser Arbeit dar. Dass dabei gleichzeitig die ebenfalls nicht zu unterschätzenden sozialen Gründe und Hintergründe dieses Phänomens etwas zu sehr aus dem Blick geraten, mag hingegen als eine der wenigen Schwachstellen dieser ansonsten hervorragenden Monographie gelten.
Pavel Blažek