Jakub Šimek: Die 'Acht Seligkeiten' des Prager Predigers Heinrich von St. Gallen (= Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge; Bd. 129), Berlin: De Gruyter 2013, VI + 319 S., ISBN 978-3-11-027967-2, EUR 99,95
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Die Prager Predigtszene des ausgehenden 14. Jahrhunderts ist den Historikern immer noch nicht ausreichend bekannt, trotz der zentralen Bedeutung, die die Kanzel für das öffentliche Leben mit all seinen zeitgenössischen kirchenpolitischen Kontroversen hatte. Dass unsere Kenntnis Prager Prediger und ihrer Predigten in den zwei Jahrzehnten vor dem Auftreten von Jan Hus lückenhaft ist, gilt besonders für deutschsprachige Volksprediger. Zu den älteren Einzelbeiträgen über Matthias von Liegnitz, Nikolaus Magni oder Johann von Mies [1] sind in jüngster Zeit etwa eine knappe Untersuchung zu Nikolaus von Stráž sowie eine Bestandsaufnahme der Predigttätigkeit Matthäus' von Krakau hinzugekommen [2], doch ist die Forschung bisher kaum zu einem Gesamtbild der deutschsprachigen Predigt im vorhussitischen Prag gelangt. Das größte Hindernis besteht wohl im Mangel an Editionen der überlieferten Predigttexte. Nach der Veröffentlichung der lateinischen Fassung der auf tschechisch gehaltenen sog. Admonter Fastenpredigten von 2006 [3] legt nun der Heidelberger Germanist Jakub Šimek eine Edition der Predigten über die Acht Seligpreisungen des Heinrich von St. Gallen vor. Die Edition der deutschen Auslegung ist um so mehr zu begrüßen, als volkssprachliche Texte (tschechische wie auch deutsche), die - wenn auch nicht unmittelbar - einer Predigt entstammen, aus dieser Zeit noch äußerst spärlich überliefert sind.
In vier der insgesamt zehn Handschriften der "Acht Seligkeiten" wird das Werk dem Magister Heinrich Schwab von St. Gallen zugewiesen, drei von ihnen bemerken darüber hinaus, er habe die Auslegung in Prag zu St. Nikolaus gepredigt. Der erste Teil der ausführlichen, beinahe 140 Seiten umfassenden Einleitung bemüht sich, Autor und Ort genauer zu bestimmen. In den Universitätsquellen lassen sich mindestens zwei Personen mit dem genannten Namen nachweisen, dazu etliche weitere an anderen mitteleuropäischen Universitäten. Doch vertritt Jakub Šimek die Hypothese, dass der Prager Magister Heinrich von St. Gallen, der auf sich in universitären Kreisen aufmerksam machte, als er es 1397 ablehnte, die Quodlibetdisputation zu übernehmen, am wahrscheinlichsten mit dem Verfasser der "Acht Seligkeiten" identisch sei (24). Von den drei Prager St. Nikolaus-Kirchen ist wiederum die Altstädter als wahrscheinlicher Ort der Seligpreisung-Predigten anzunehmen.
Die Einleitung bietet darüber hinaus detaillierte Erörterungen zur editorischen Vorgehensweise sowie textkritische und philologische Auswertungen des Textmaterials. Da Jakub Šimek anhand der Überlieferung ein Stemma zusammenstellen konnte, entschied er sich, in einer textkritischen Ausgabe einen originalnahen Text zu rekonstruieren. Auch wenn er zugibt, dass die Erklärung einiger Querverbindungen zwischen Handschriften schwierig sei und sein Stemma "wegen der teilweise widersprüchlichen Befunde nur als Hypothese und unter Vorbehalt gelten" könne (85-86, 38-39), demonstriert und dokumentiert er die Anwendbarkeit der klassischen Textkritik in diesem Fall. Er bietet auch detaillierte Handschriftenbeschreibungen sowie reichlich dokumentierte Analysen zu Sprache und Stil, wobei beispielsweise die übersichtliche Zusammenstellung der verwendeten Metaphern (100-105) auch für eine eventuelle geistesgeschichtliche Fragestellung vom Nutzen sein könnte. Ein wichtiges Ergebnis für die Literaturgeschichte bringt der Vergleich der "Acht Seligkeiten" mit anderen Heinrich von St. Gallen zugeschriebenen Werken. Während der weit verbreitete "Passionstraktat" weiterhin als Werk Heinrichs gelten kann, muss bei den zwei bisher (wenn auch nicht ohne Zweifel) dem Magister zugeschriebenen marianischen Werken von einem anderen Verfasser ausgegangen werden (129-131).
Im Großen und Ganzen bleibt die Fragestellung der Einleitung auf dem Boden der Textkritik. Auf die Textgeschichte wird mit Absicht verzichtet; die Entstehung der Predigten und das Verhältnis der überlieferten Fassung zur mündlichen Darbietung sind dem Herausgeber zufolge kaum zu rekonstruieren (3, 39). Trotzdem sind einige scharfsinnige, wenn auch hypothetische Erwägungen Jakub Šimeks für die Geschichte der Predigt von Interesse. Das gilt für die Annahme, dass Heinrich von St. Gallen dem Allerheiligenkolleg der Prager Universität angehört haben dürfte, dessen Sitz sich in unmittelbarer Nähe der Altstädter Nikolauskirche befand. Die Auslegung der Seligpreisungen mag er dann während der Allerheiligenoktav, zu welcher die betreffende Matthäus-Perikope gehörte, vorgetragen haben, was wiederum Rückschlüsse auf die Gliederung des Werkes in acht bis neun Predigten zulässt (34-35, 131-132).
Diese Beobachtungen werden im vorliegenden Buch jedoch nicht in den Kontext der Prager Homiletik um 1400 gesetzt. Dies erstaunt umso mehr, als Jakub Šimek unter den zwei Hauptgründen für die Herausgabe der "Acht Seligkeiten" (neben der Bedeutung des Autors in der Literaturgeschichte) "die unbezweifelte Prominenz des mutmaßlichen Ortes" nennt, "an dem die vorliegenden Predigten entstanden und vorgetragen worden sind [...]: das vorhussitische, mehrsprachige Prag" (39). Während ihn Heinrichs Ablehnung der Quodlibetariusfunktion zu einem Exkurs zu Prager Quodlibeta veranlasst (14-21), wird der Kontext der zeitgenössischen Predigtpraxis nicht erörtert; auch die eingangs zitierten Untersuchungen werden größtenteils nicht rezipiert. Unterschiede zu und Gemeinsamkeiten mit dem Admonter Quadragesimale werden zwar konstatiert, einen breiteren Vergleich hat der Autor indes - auch angesichts der mangelnden Quelleneditionen - unterlassen. [4] Dafür hat er selbst das Repertoire der edierten Quellen bereichert, indem er als Anlage vier weitere Texte abdruckt. Zwei von ihnen konnten vermutlich Heinrich von St. Gallen als Quelle vorgelegen haben: ein Abschnitt über die Seligpreisungen aus dem Malogranatum sowie die Schrift De octo beatitudinibus des Prager Magisters Johannes Marienwerder (der übrigens ein Mitglied des Allerheiligenkollegs war). Die Parallelstellen aus diesen Werken werden im Apparat zur Edition der "Acht Seligkeiten" verzeichnet, eine ideengeschichtliche Auswertung der Anlagen bleibt jedoch aus.
Eine eingehende Gesamtuntersuchung der Geschichte der deutschsprachigen Predigt im vorhussitischen Prag bleibt noch zu schreiben. Natürlich konnte sie nicht zu den Zielen des vorliegenden Buches zählen. Auf jeden Fall hat Jakub Šimek Wesentliches zu unserem Bild der Predigt- und Erbauungsliteratur um 1400 beigetragen. Mit seiner zuverlässigen Edition eines seltenen Predigttextes sowie seiner sorgfältigen philologischen Erschließung liefert er einen wichtigen Baustein zur besseren Erschließung der Tätigkeit der deutschen Magister in der böhmischen Hauptstadt vor der Sezession von 1409.
Anmerkungen:
[1] Adolph Franz: Matthias von Liegnitz und Nicolaus Stör von Schweidnitz. Zwei schlesische Theologen aus dem 14./15. Jahrhundert, in: Der Katholik 78 (1898), 1-25; Ders.: Der Magister Nikolaus Magni de Jawor. Ein Beitrag zur Literatur- und Gelehrtengeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau 1898; Rudolf Schreiber: Johann von Mies. Ein vorhussitischer Prediger der Prager Deutschen, in: Heimat und Volk. Forschungsbeiträge zur sudetendeutschen Geschichte. Festschrift für Universitätsprofessor Dr. Wilhelm Wostry, hg. von Anton Ernstberger, Brünn 1937, 157-194.
[2] Franz Lackner: Die Quadragesimalpredigten des Nicolaus de Stráž, in: Septuaginta Paulo Spunar oblata, hg. von Jiří K. Kroupa, Praha 2000, 302-323; Matthias Nuding: Matthäus von Krakau. Theologe, Politiker, Kirchenreformer in Krakau, Prag und Heidelberg zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 38), Tübingen 2007, 47-75.
[3] Quadragesimale Admontense / Quadragesimale admontské (Fontes Latini Bohemorum 6), hgg. von Hana Florianová, Dana Martínková, Zuzana Silagiová und Hana Šedinová, Praha 2006.
[4] Er wäre allerdings auch für die Bewertung des edierten Werkes nicht ohne Interesse: Auch Johann von Mies hat in einem seiner Werke die acht Seligpreisungen kurz behandelt, vgl. Schreiber, Johann von Mies, 168.
Pavel Soukup