Benjamin Gilde: Österreich im KSZE-Prozess 1969-1983. Neutraler Vermittler in humanitärer Mission (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 98), München: Oldenbourg 2013, XII + 476 S., ISBN 978-3-486-70506-5, EUR 59,80
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Auf Grund der Aktenlage sind in den letzten Jahren die 1970er Jahre in den Mittelpunkt der zeitgeschichtlichen Forschung gerückt. Dabei hat sich die Forschung vor allem auf die "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit" (KSZE), den KSZE-Abschlussgipfel in Helsinki im Sommer 1975, und die Folgekonferenzen in Belgrad und Madrid gestürzt. Im "KSZE-Prozess" sind Fragen der Menschenrechte von besonderem Interesse, ist die "human rights revolution" heute doch ein zentrales Thema der Diplomatiegeschichte geworden.[1] Der KSZE-Prozess hat in den 1970er Jahren die Europäische Entspannungspolitik im Kalten Krieg ins Zentrums des Weltgeschehens gerückt.
In den langwierigen KSZE-Verhandlungen (1972-75) von Delegationen aus 35 europäischen Nationen (darunter auch die Vereinigten Staaten und Kanada) haben die N+N (Neutrale und Nicht-Paktgebundene Staaten) eine bedeutende Rolle als diplomatische Vermittler gespielt, gerade auf dem Sektor der Ausweitung der Menschenrechte auch für Menschen die hinter dem Eisernen Vorhang lebten. Benjamin Gildes beeindruckendes Buch widmet sich der gesamten KSZE-Diplomatie Österreichs, vor allem aber dessen Bemühungen in den humanitären Bestimmungen im sog. "Korb III". Hier dominierte die beherzte und umsichtige Mediationstätigkeit der Ballhausplatz-Diplomaten längere Phasen der Verhandlungen und agierte z.T. im Mittelpunkt des diplomatischen Geschehens in Helsinki und Genf.
Gildes Buch beruht auf seiner an der Universtät Leipzig angenommenen Dissertation und entstand im Rahmen des großen Institut für Zeitgeschichte-Projektes zur Erforschung des KSZE-Prozesses. Gilde beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der "Rahmenbedingungen" österreichischer Außenpolitik, die vor allem von dem Wiener Langzeitaußenminister Bruno Kreisky gestaltet wurden. Er geht dann auf die frühen Entwicklungen der österreichischen KSZE Politik ein, die in die Mitte der 1960er Jahre zurückgingen. Sie waren eine Antwort des neutralen Österreich auf das seit 1954 monierten sowjetische Konferenzprojekts für eine Europäische Sicherheitskonferenz zur Förderung eines Ost-West-Dialogs.
Rudolf Kirchschläger, der parteiunabhängige Diplomat und Völkerrechtler wurde 1970 Außenminister in der Alleinregierung von Bundeskanzler Kreisky (SPÖ). Kirchschläger, der mit der KSZE vor allem sicherheitspolitische Themen in Zusammenhang brachte, wandte sich nur langsam dem vom Westen geforderten Prinzip der "Freizügigkeit" zu, das dann in den multilateralen Vorgesprächen (MV) zur KSZE (1972/73) im Konferenzzentrum Dipoli bei Helsinki zum humanitären Verhandlungsthema im "Korb III" wurde. Gilde stellt die österreichischen Diplomaten Helmut Liedermann und Heinrich Pfusterschmid in den Mittelpunkt seiner sorgfältigen Analyse. Die Chefs der kleinen österreichischen Delegation in Dipoli erkannten die große Chance einer neutralen Vermittlungstätigkeit und Profilierung Österreichs in der Unterstützung der westlichen Positionen für den Korb III.
Liedermann hatte die Schlüsselidee, die bisher "Mandate" genannte Verhandlungsthemen in "Körbe" ("operations baskets") zu sortieren (90). Gilde relativiert Liedermanns Rolle in dem Sinn, dass die Korbidee auch bei anderen westlichen Delegationen und den Schweizern herumgeisterte. Seit Anfang 1973 gab es bei den MV in Dipoli eine Aufteilung in vier Körbe, wobei Korb I für Sicherheitsfragen, Korb II wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische, Korb III der Zusammenarbeit in Bildung und Kultur, sowie menschlichen Kontakten und dem Austausch von Ideen und Informationen, und Korb IV den Folgekonferenzen gewidmet war (91). Liedermann war die treibende Kraft in der "Entdeckung" des 3. Korbes für Österreich und der "verlässlichen und unnachgiebigen Verfechtung westlicher Maximalpositionen" (92) in der humanitären Dimension. Die österreichische KSZE-Diplomatie war immer vorsichtig und wollte "nicht Vorreiter" für westliche Maximalposition spielen, sondern sah sich in einer "Vermittlerrolle zwischen Ost und West" (96). Eine Sternstunde der Wiener Nachkriegsdiplomatie kam mit Liedermanns Vorschlag für die Präambel des 3. Korbes in Dipoli, in Gildes Einschätzung einer "der großen Würfe" (106) der österreichischen Delegation bei den MV.
Die österreichische Delegation hielt dann beharrlich an seiner "Strategie des Aussitzens" (105) fest, als die Sowjets den österreichischen Entwurf mit restriktiven Klauseln wie "Nichteinmischung" verwässern wollten. Im Mai 1972 kam es dann zum entscheidenden Kompromiss als der Osten den österreichischen Präambeltext akzeptierte zusammen mit dem ebenfalls von Liedermann vorgeschlagenen Kompromiss, die von den Sowjets geforderten "Unverletzlichkeit der Grenzen" in der Prinzipiendeklaration im Korb I zu akzeptieren (103f).
In einem mehr als 100 Seiten langen Kapitel geht Gilde dann den Debatten um die humanitären Bestimmungen in der KSZE-Schlussakte nach, die sich in Genf schier endlos 1974/1975 bis zum Helsinki Gipfeltreffen hinzogen. Über bilaterale Gespräche mit den Sowjets, versuchte die Moskauer Diplomatie beharrlich den 3. Korb zu verwässern und eine restriktivere Präambel durchzusetzen. Österreich und die Neutralen spielten in den ersten Runden von September 1974 bis zur Sommerpause 1974 noch eine "hervorragende Rolle" mit ihrer Tätigkeit bei der "Überbrückung prozeduraler Schwierigkeiten" im Dritten Korb (255); gerade mit der Präsentierung des "Package Deals" und der Ausarbeitung des Texts über Familienzusammenführungen - "ein weltweit beachteter Verhandlungserfolg" (256), so Gilde - standen sie nochmals im Mittelpunkt des Geschehens in Genf.
In der Hoffnung eigene Maximalpositionen zur Abschwächung der humanitären Fragen durchzusetzen, unterband die Sowjetunion in den folgenden Monaten zunehmend den Spielraum und schränkte die Vermittlungs- und Koordinationstätigkeit der N & N Staaten ein. Am Ende bestanden die westlichen Staaten auf der Durchsetzung des 3. Korbes, dessen Texte hauptsächlich von den Neutralen formuliert worden waren. Bei den menschlichen Kontakten waren es die Österreicher gewesen, im Kapitel "Informationen" die Schweizer.
Überhaupt ist es interessant, dass Gilde gründlich die unterschiedlichen diplomatischen Positionen und Verhandlungsmethoden der Neutralen herausarbeitet: die "Schlüsselrolle" (154) Österreichs mit seinem geschickten Taktieren (vor allem Liedermanns diplomatische Formulierkunst), der sprunghafte Aktionismus der Schweiz, das oftmalige Desinteresse der Schweden am Fortgang der KSZE, und die Nähe der Finnen zu Moskau, die oft als Sprachrohr der Vorstellungen des Kreml fungierten. Die Schweiz und Österreich nahmen etwa in der Schlussphase der MV in Dipoli westliche Hardliner Positionen ein - "to the right of the NATO centre", meinte ein britischer Diplomat spitzig (111).[2]
Am Ende des "zweieinhalb Jahre andauernden Verhandlungsmarathons" (248) trafen sich dann 35 Staats- und Regierungschefs in Helsinki am 31. Juli 1975 zur Unterzeichnung der Schlussakte drei Tage lang. Das war ein "Jahrhundertereignis", argumentiert Gilde überzeugend, da noch nie zuvor so viele Diplomaten "über einen so langen Zeitraum an einem derart umfassenden Dokument" gearbeitet hatten (242). Es wurde auch entschieden, dass die erste Nachfolgekonferenz in Belgrad stattfinden sollte, nicht in Wien, wie von den EG-Staaten und Spanien vorgeschlagen. Es war die Zurückhaltung und Passivität von Erich Bielka, Kirchschlägers Nachfolger als Außenminister, die die "Chance vertat, das erste Nachfolgetreffen nach Wien zu holen", moniert Gilde kritisch (242).
In den nächsten zwei Jahren versuchte dann die KSZE-Abteilung im Außenministerium, die humanitären Bestimmungen der KSZE-Schlussakte zu implementieren. Man setzte sich für Familienzusammenführungen ein, Bundeskanzler Kreisky immer wieder unorthodox für humanitäre Härtefälle, ohne dabei die KSZE-Schlussakte zu bemühen. Im Falle der österreichischen Unterstützung von prominenten Dissidenten wie Wolf Biermann (DDR), sowie Vaclav Havel und der Charta 77 (Tschechoslowakei), diente die Schlussakte der Wiener Diplomatie sehr wohl als Legitimationsgrundlage um Druck auf die kommunistischen Regime im Osten auszuüben. Dem Ballhausplatz ging es dabei um "die in Genf verhandelten Bestimmungen in Osteuropa zu beobachten" und "möglichst viele staatliche und nichtstaatliche Akteure zu einer Anwendung der Schlussakte zu animieren" (304). Die Wiener KSZE-Experten (nun unter der Führung von Franz Ceska) setzten ihren Einsatz für den humanitären Bereich auch in der Belgrader und Madrider Nachfolgekonferenz fort.
Am Ende seiner lange Studie beharrt Gilde auf seiner These, dass Österreich "mit seinem Engagement für die humanitäre Dimension der KSZE [...] durchaus 'missionarische Absichten'" verfolgte, obwohl die Wiener Politik solche Intentionen immer wieder dementierte (435f).
Gildes Buch ist eine vorbildhafte Fallstudie multiarchivalischer moderner Diplomatiegeschichte. Er hat sich tief in die Aktenfülle des österreichischen Staatsarchivs und der Stiftung Bruno Kreisky eingearbeitet, verwendet aber auch Akten des finnischen Außenministeriums (!), abgesehen von gedruckten amerikanischen, britischen und bundesdeutschen Dokumenten; er beherrscht die Sekundärliteratur in einem halben Dutzend Sprachen. Seine Arbeit ist trotz ihrer Detailfülle klar gegliedert und gut lesbar. Da können sich die österreichischen Kollegen ein Stück abschneiden, wie Diplomatiegeschichte spannend vermittelt wird und dass Außenpolitik ein wichtiges Thema für die zeitgeschichtliche Forschung bleibt. Neben den Grundstrukturen der internationalen Politik in den 1970er Jahren und deren Veränderungen, werden auch die Leistungen einzelner Personen gewürdigt, die die österreichischen KSZE-Diplomatie vorangetrieben haben. Er scheut sich auch nicht diplomatisches Fingerspitzengefühl zu loben, wo es angebracht ist.
Man könnte zum Abschluss auch betonen, dass Gilde in gewissem Sinne die Forschung zur KSZE-Diplomatie revolutioniert, in dem er die Leistungen der Neutralen im Kalten Krieg hervorkehrt. In der vielgepriesenen dreibändigen "Cambridge History of the Cold War" wird Neutralität im Kalten Krieg beinahe gänzlich ignoriert, auch in den Kapiteln zur Entspannungspolitik und den Fortschritten in Menschrechtsfragen.[3] Auch jüngere amerikanische Überblicksgeschichten zu den 1970er Jahren haben kein Verständnis für die Rolle der Neutralität und Blockfreiheit im Kalten Krieg.[4] Auf der anderen Seite geht Michael Gehlers zweibändiger Überblick zur österreichischen Außenpolitik nach 1945 nur kurz auf die KSZE ein und erwähnt die Sternstunden der Ballhausplatzdiplomatie in Dipoli und Genf überhaupt nicht (die Rolle Liedermann wird in einem Satz gestreift).[5] Gildes Arbeit sollte die internationale Forschung zum Kalten Krieg dazu zwingen, gerade die Rolle der Neutralen und Blockfreien als diplomatische Vermittler Ernst zu nehmen, bzw. die österreichische Zeitgeschichteforschung, die Leistungen der österreichischen Diplomatie und Außenpolitik in der langen Phase der Entspannungspolitik neu zu bewerten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History. Cambridge, MA 2010.
[2] Thomas Fischer hat die Rolle der Neutralen im KSZE-Prozess als erster umfassend gewürdigt hat, vgl. Neutral Power in the CSCE. The N+N Staes and the Making of the Helsinki Accords 1975, Baden-Baden 2009.
[3] Jussi M. Hanhimäki: Détente in Europe, 1962-1975, in: Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (eds.): The Cambridge History of the Cold War, Bd. 2: Crises and Détente, Cambridge 2010, 198-218, und Rosemary Foot: The Cold War and human rights, in: idem, Bd. 3: Endings, 445-465. Hanhimäki meint nur ganz lapidar "NATO members and neutrals tended to dominate much of the negotiating process [...]" (II, 215). Vgl. auch die Rezension von Hermann Wenker in sehepunkte 11 (2011), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2011/05/17818.html.
[4] Thomas Borstleman: The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality, Princeton 2012, 179-186; Michael Cotey Morgan: The United States and the Making of the Helsinki Final Act, in: Frederick Logevall / Andrew Preston (eds.): Nixon and the World. American Foreign Relations 1969-1977, New York 2008, 164-182.
[5] Michael Gehler: Österreichs Aussenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, Bd. 1, Innsbruck 2005, 453.
Günter J. Bischof