Rezension über:

Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe (= C.H. Beck Wissen; 2782), München: C.H.Beck 2013, 128 S., ISBN 978-3-406-65470-1, EUR 8,95
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Rezension von:
Dominique Hipp
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Dominique Hipp: Rezension von: Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München: C.H.Beck 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/24291.html


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Raphael Gross: November 1938

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Mit seiner Studie über den Novemberpogrom 1938 legt Raphael Gross eine Überblicksdarstellung vor, die sich an den Vorgaben der Reihe Beck Wissen orientiert. Als Fundament dienen Gross in erster Linie Meldungen der ausländischen und nationalen Presse, Zeugenberichte und Einschätzungen von bekannten Persönlichkeiten wie Theodor W. Adorno, Victor Klemperer, Sigmund Freud und Carl Zuckmayer. Gelegentlich finden sich darüber hinaus Quellen, die vor allem Einblicke in die staatlichen Entscheidungsebenen bieten. Gemeinsam ist all diesen Zeugnissen ihr hoher Bekanntheitsgrad.

Auch die Gliederung des Buches ähnelt denen anderer Überblickswerke. Ein kurzer Prolog interpretiert den Pogrom als Ausbruch einer neuen, bisher unbekannten Dimension von Gewalt. Gross betont dort den Zäsurcharakter des Pogroms und sieht ihn damit nicht wie Alan Steinweis "als die Kulmination einer brutalen Entwicklung". [1] Ausführlich geht er auf die unmittelbaren Ereignisse vor dem Novemberpogrom 1938 ein, darunter die sogenannte Polenaktion, die wiederum das Attentat Herschel Grynszpans auslöste. Das NS-Regime zog daraufhin alle propagandistischen Register, nicht zuletzt um zu verhindern, dass das Attentat als Reaktion auf die NS-Judenpolitik interpretiert werden könnte.

Im zweiten Kapitel stellt Raphael Gross besonders die offensichtliche Gewaltbereitschaft gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Deutschland heraus, verweist aber auch auf die passive Haltung des Auslands, das kein Ende der Ausschreitungen forderte und eine größtenteils restriktive Einwanderungspolitik verfolgte. Als Beispiele führt er die Reaktionen nach dem "Anschluss" Österreichs sowie die Konferenz von Évian an.

Auch wenn er den Begriff nicht nennt, ist es der "Radauantisemitismus", der laut Gross eine beschleunigende Wirkung für die legalistische Ausgrenzung und Diskriminierung hatte. Die Ereignisse vom 7. bis zum 9. November 1938 bezeichnet Gross als Novemberpogrome. Für die darauffolgenden Ereignisse verwendet er jedoch die Bezeichnung "Reichskristallnacht", um zu betonen, dass ab diesem Zeitpunkt Regierungskreise und lokale Entscheidungsträger bestimmend waren. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass die Abläufe und Vorgehensweisen sich auch noch zu diesem Zeitpunkt lokal unterschieden. Im Hinblick auf die Täter des Novemberpogroms stellt Gross zu Beginn seiner Überblicksdarstellung die These auf, dass "niemals zuvor und danach [...] das staatliche Gewaltmonopol in aller Öffentlichkeit in die Hände einer antisemitischen 'Volksgemeinschaft' gelegt" (9 f.) worden sei. Das reichhaltige Quellenmaterial (regimeinterne Lageberichte, diplomatische Berichte, Sopade-Berichte), das eher die skeptische Distanz der Bevölkerung gegenüber dem Pogrom hervorhebt, stützt diese Behauptung allerdings nicht und bleibt deshalb auch unberücksichtigt. Auch die von Gross insinuierte Kontinuität zwischen Pogrom und Shoa, die er anhand einzelner biographischer Beispiele von Tätern zu belegen sucht, kann als These nicht überzeugen. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass beispielsweise die SA, aus deren Reihen das Gros der Täter des Novemberpogroms stammte, in der Shoa kaum noch in Erscheinung trat.

Im dritten Kapitel werden die Reaktionen der jüdischen Seite, der deutschen Reichsregierung, der Kirchen und des Auslands thematisiert, wobei die jüdischen Reaktionen nur grob skizziert werden; lediglich die enorm ansteigende Selbstmordrate und die verstärkten Bemühungen um eine Auswanderung werden erwähnt. Wesentlich ausführlicher geht der Autor auf die Folgen für das jüdische Leben im Deutschen Reich ein, indem beispielhaft die Zerschlagung der Reichsvertretung der Juden in Deutschland dargestellt wird.

Im Unterkapitel "Aktionen der deutschen Reichsregierung" beschreibt Gross, wie die Novemberpogrome die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung und die "Arisierung" ihres Besitzes beschleunigten. Bestimmungen und Verordnungen zur Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung ließen nicht lange auf sich warten. Ebenso erhöhte das Regime den Druck auf die jüdischen Deutschen, um sie zur Auswanderung zu veranlassen. Die Besprechung im Luftfahrtministerium am 12. November 1938 wählt Gross dabei als Exempel. Die kumulative Radikalisierung während des Pogroms, ein greifbarer emotionaler Antisemitismus sowie ein rationales Vorgehen bei der Organisation durch die nationalsozialistische Regierung waren signifikant für die Pogrome und die folgenden Ereignisse. Im folgenden Abschnitt über die Kirchen beschränkt sich der Autor auf selektive Bemerkungen. Die Reaktionen des Auslands werden basierend auf Zeitungsmeldungen der jeweiligen Länder geschildert. Die westlich-demokratischen Staaten zeigten sich empört, doch stellte die Empörung keinen Anreiz zum politischen Handeln dar. Verbündete Staaten waren in ihren Reaktionen zurückhaltend und übten keine Kritik am deutschen Verhalten.

Das Schlusskapitel des Buches ist insofern problematisch, als ein ausführlicher Exkurs über die Situation Österreichs im Jahr 1938 vorherige Ausführungen im Wesentlichen dupliziert, zumal der Autor hier keinen erkennbaren Bezug zum Pogrom herstellt. Bei den "Langfristige[n] Auswirkungen der Novemberpogrome" (106) wird die justizielle Ahndung der Pogrome nach 1945, deren Akten eine wichtige Grundlage für Steinweis' "Kristallnacht" darstellen, nicht einmal erwähnt. Immerhin wurden - wie Edith Raim kürzlich gezeigt hat - mehr als 2468 Ermittlungsverfahren mit 17.700 Beschuldigten und Angeklagten in den Jahren nach 1945 durch die westdeutsche Justiz in die Wege geleitet. [2] Der allgemeine Abriss über die Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik und der DDR ist erneut in weiten Teilen allgemein gehalten und wird nur in wenigen Punkten konkret mit der Erinnerung an den Novemberpogrom verknüpft.

Insgesamt hat Gross eine thesenstarke, jedoch nur auf schmaler Quellengrundlage operierende Überblicksdarstellung vorgelegt. Wie es die Reihe verspricht, wird knapp und verständlich über die Ereignisse informiert. Für eine Erstlektüre zum Thema ist das Werk von Gross zu empfehlen.


Anmerkungen:

[1] Alan E. Steinweis: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, 13.

[2] Vgl. Edith Raim: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949, München 2013, 919.

Dominique Hipp