Rezension über:

Fritz Backhaus / Raphael Gross / Sabine Kößling et al. (Hgg.): Die Frankfurter Judengasse. Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Geschichte, Politik, Kultur, München: C.H.Beck 2016, 232 S., zahlr. Farb- u. s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68987-1, EUR 14,95
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Rezension von:
Matthias Schmandt
Museum am Strom, Bingen am Rhein
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Schmandt: Rezension von: Fritz Backhaus / Raphael Gross / Sabine Kößling et al. (Hgg.): Die Frankfurter Judengasse. Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt. Geschichte, Politik, Kultur, München: C.H.Beck 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/28835.html


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Fritz Backhaus / Raphael Gross / Sabine Kößling et al. (Hgg.): Die Frankfurter Judengasse

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Anlässlich der Wiederöffnung des Frankfurter Museums Judengasse im März 2016 ist ein Katalog zur neuen Dauerausstellung erschienen, der die Geschichte der Frankfurter Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit neu erzählen will. Es gelte, "die Geschichte und Kultur der Frankfurter Juden als integraler Bestandteil der Stadtgeschichte [...] erfahrbar werden" (7) zu lassen, wie es im kulturpolitischen Einführungsstatement des (inzwischen ehemaligen) Frankfurter Kulturdezernenten heißt. Oder, um einleitende Worte der Projektverantwortlichen zu zitieren: "Juden werden nicht mehr als diejenigen dargestellt, die hinter den Mauern der Judengasse ein vom Rest der Stadt isoliertes Leben führten, sondern als eine Gruppe der städtischen Gesellschaft, die auf vielfältige Art und Weise mit den anderen städtischen Gruppen verbunden war." (12)

Damit wird eine differenzierte Sichtweise auf die vormoderne Geschichte der Juden eingenommen, die während der vergangenen Jahrzehnte in der Historiografie nur mühsam an Boden gewonnen hat: "Jüdische Geschichte, insbesondere des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, war in Deutschland nach dem Holocaust kein Thema mehr" (15) - und dort, wo man sich den Juden doch einmal zuwandte, geschah dies "in Begriffe[n] wie Ausgrenzung, Zwang, Beschränkung, Unterdrückung, Verfolgung." (ebd.) Mit dieser Feststellung eröffnet Fritz Backhaus seine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Frankfurter Judengasse (15-40). Auf Grundlage neuer Forschungen zur frühneuzeitlichen Frankfurter Judengemeinde wird hier zunächst die Entstehung des Gettos der Frankfurter Judengasse nicht als Regel-, sondern als Sonderfall jüdischer Siedlung seit dem Spätmittelalter vorgestellt: Die zwangsweise Umsiedlung der Juden von ihren alten Wohnorten im Zentrum der Stadt in die geschlossene Randlage im Jahr 1462 reflektiert eine im 15. Jahrhundert allgemein sich verschlechternde Rechtsstellung, die in den meisten alten Judensiedlungsorten am Rhein zur Vertreibung, in Frankfurt aber zur topografischen Marginalisierung der Juden führte (21). Spätere Vertreibungsversuche (1515, 1612-1616) blieben erfolglos; die Einwohnerzahl der Judengasse nahm stattdessen "von ca. 200 um das Jahr 1500 auf 2700 um das Jahr 1600" (24) stark zu. Dies brachte vielfältige Probleme mit sich: sowohl innerhalb der Judenschaft, in der sich eine gut vernetzte Führungsschicht von der durch zunehmende Armut belasteten Gemeinde absetzte, als auch im Kontakt mit der Stadtobrigkeit, die mit einer schier unüberschaubaren Anzahl von Vorschriften versuchte, "Kontakte zwischen Christen und Juden [zu] reglementieren." (28) Die Aufhebung des Gettozwangs für die Juden kündigte sich 1796 an. Vollständige rechtliche Gleichstellung mit den übrigen Bürgern erhielten die Frankfurter Juden jedoch erst 1864; drei Jahre später begann die 1887 abgeschlossene Niederlegung der Judengasse.

Genau ein Jahrhundert später entbrannte um ihre archäologisch geborgenen Überreste der "Börneplatz-Konflikt". In einem zweiten einleitenden Aufsatz (41-61), der die Geschichte des nun Börnegasse genannten vormaligen Gettos nach 1887 und seine Musealisierung in den Blick nimmt, ordnet Felicitas Heiman-Jelinek den Streit von 1987 in erinnerungspolitischer Perspektive ein. Ausgangspunkt ist die etwas zugespitzte Formulierung, dass "im Zusammenhang mit diesem Konflikt [...] das erste Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte die Frage gestellt [wurde], wie mit Überresten materiellen jüdischen Kulturguts umzugehen sei." (51) Dass die "verschämt und gleichzeitig brutal ins Untergeschoss der Frankfurter Stadtwerke gepressten fünf Fundamente des ehemaligen Ghettos" (42) schließlich als Museum Judengasse in die Zuständigkeit des Jüdischen Museum Frankfurt überführt wurden, kritisiert die Autorin als Entsorgung in ein "jüdisches Eck": "Hätte man das Museum Judengasse in die Obhut des Historischen Museums gegeben, hätte man eindeutiger eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Geschichte vom Mittelalter bis in die 1880er Jahre signalisiert." (55)

Der Schwerpunkt des Buches liegt indes auf einem umfänglichen Katalogteil (63-226), der sich in großzügigem Layout und mit guten, ganzseitigen Fotografien präsentiert. Als Leitmotiv ist auch hier der Anspruch erkennbar, eine den Objekten als "kulturellen Artikulationen" (13) des komplexen Neben-, Mit- und Gegeneinanders von Juden und Christen innewohnende Zeichenhaftigkeit zur Sprache zu bringen. Dabei werden die Exponate in thematische Einheiten gegliedert, die von der jüdischen "Gelehrsamkeit" über die wirtschaftlichen Tätigkeitsfelder armer ("Handel mit alten Kleidern") und reicher ("Hofjuden - die Oberschicht der Judengasse") Juden bis zu ihrer häufig konfliktträchtigen Einbindung in das Herrschaftsgefüge ("Kaiser, Rat und Juden") reichen; eine Dokumentation der fünf in Fundamenten erhaltenen Häuser und einzelner Steine des angrenzenden jüdischen Friedhofs beschließt den Katalog. Den programmatischen Auftakt bilden jedoch die Themengruppen "Juden und Christen" sowie "Bilder in der Judengasse", in denen 14 kunsthandwerkliche Objekte und Bücher des 17./18. Jahrhunderts vorgestellt werden. Sie alle variieren das Thema eines gemeinsamen christlich-jüdischen Zugriffs auf Stilformen und Produktionsstätten und legen so Zeugnis davon ab, dass Frankfurter Juden selbst Kultgerät bei christlichen Silberschmieden in Auftrag gaben und dabei auch die im christlichen Bereich vorherrschende Ornamentik zu schätzen wussten. Die Erschließung aller Objekte erfolgt auf mehreren Textebenen, die dem Leser jeweils einen typografisch hervorgehobenen, primär das Erscheinungsbild beschreibenden Einführungstext und in der Regel zwei Vertiefungstexte anbieten, mit denen das Objekt in unterschiedlichen Kontexten gedeutet wird. Exemplarisch sei die gewählte Darstellungsweise an den insgesamt drei vorgestellten Chanukka-Leuchtern illustriert: Keiner der diesbezüglichen Einführungstexte stellt, wie es in vergleichbaren älteren Publikation die Regel gewesen sein dürfte, zunächst den kultischen Gebrauchszusammenhang im Sinne einer Grundinformation zum jüdischen Chanukka-Fest vor, sondern im Mittelpunkt steht eine Beschreibung der jeweils anzutreffenden Leuchterform. Erst in der Vertiefungsebene werden in einem Fall der Ursprung (89), an anderer Stelle Elemente (95) des Lichterfestes thematisiert und darüber hinaus etwa der ausführende Silberschmied (89) oder der Entstehungsanlass eines Leuchters (93) vorgestellt. Besonders aussagekräftig wird die solcherart konsequent vermittelte Vieldeutigkeit von Museumsobjekten immer wieder in Bezug auf ihre Überlieferungsgeschichte in der NS-Zeit eingesetzt: Auch einer der Chanukka-Leuchter wird in einem begleitenden Textblock als Zeugnis der Beschlagnahmung von jüdischem Kulturgut durch die Gestapo 1938 vorgestellt (93).

Nicht nur in dieser Hinsicht spiegelt das Buch als zeitgeschichtliches Dokument auch aktuelle Entwicklungen des Museumswesens in Deutschland. Insgesamt kann der Band, der zuverlässig über jüngste Trends der Erforschung und Vermittlung vormoderner jüdischer Geschichte nicht nur Frankfurts informiert und auch in seiner gelungenen Aufmachung den Spagat zwischen Ausstellungsbegleiter und Lesebuch meistert, einer historisch interessierten Öffentlichkeit nur wärmstens empfohlen werden.

Matthias Schmandt