Rezension über:

Philipp Kratz: Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945 (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 25), Göttingen: Wallstein 2019, 432 S., ISBN 978-3-8353-3202-7, EUR 42,00
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Rezension von:
Jörn Retterath
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
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Empfohlene Zitierweise:
Jörn Retterath: Rezension von: Philipp Kratz: Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945, Göttingen: Wallstein 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/32992.html


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Philipp Kratz: Eine Stadt und die Schuld

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Die historiografische Untersuchung der von Norbert Frei als "Vergangenheitspolitik" bezeichneten Nachgeschichte des Nationalsozialismus hat Konjunktur. Während durch zahlreiche sogenannte Aufarbeitungsprojekte mittlerweile viele Erkenntnisse zum Umgang von staatlichen Behörden und Institutionen mit der NS-Zeit vorliegen, bilden die kommunale Ebene und die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung noch weitgehende Desiderate. Diese Lücken beabsichtigt Philipp Kratz mit seiner Studie über Wiesbaden zu schließen. In sechs chronologisch gegliederten Hauptkapiteln nimmt der Verfasser die verschiedenen Phasen der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Diktatur zwischen 1945 und 2011 in den Blick und fragt nach den Bedingungen und Gründen für die Entwicklung des gegenwärtigen Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Seiner Ansicht nach stellt die Frage nach der (kriminellen, politischen und moralischen) "Schuld" den "eigentlichen Kern der Debatten über die NS-Vergangenheit" (18) dar. Die Wahl seines Fallbeispiels Wiesbaden begründet Kratz mit einer sehr guten Überlieferungslage sowie der "'Gewöhnlichkeit' und 'Durchschnittlichkeit' der Stadt und ihrer Geschichte während der NS-Zeit" (32). Ob seine Befunde zur hessischen Landeshauptstadt verallgemeinert werden können, muss aufgrund des Mangels an lokalhistorischen Arbeiten zu anderen Städten allerdings einstweilen offenbleiben. Für seine Studie hat der Autor die Bestände des Wiesbadener Stadtarchivs sowie zahlreiche weitere Archive und (private) Sammlungen herangezogen, Zeitungen ausgewertet und Zeitzeugen interviewt.

Die Jahre 1945/46 beschreibt der Verfasser als eine Phase der "Abrechnung". In der Bevölkerung war - bedingt durch traumatische Erfahrungen im Luftkrieg, den Verlust von Angehörigen sowie Not, Hunger und Kriegszerstörung - die Selbstwahrnehmung als "Opfer des NS-Regimes" (42) weitverbreitet. Diese Sicht wurde auch von den sich bildenden politischen Parteien bestärkt, die die Verantwortung für die gegenwärtige Situation auf Hitler als "'gewissenlosen Diktator'" (51) abschoben, der sein Volk "betrogen" habe. Den Vorwurf einer Kollektivschuld, so Kratz, habe es "auf lokaler Ebene und im informellen Rahmen" (55) durchaus gegeben; er sei also nicht allein "bloßer 'Erfindungskraft'" (53) entsprungen. Die Beschuldigten nutzten ihn jedoch nicht selten, um jede Debatte über die (eigene) Verantwortung abzublocken. Darüber gerieten die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus bereits seit Sommer 1945 zunehmend aus dem Blick. Zur "Säuberung" der Verwaltung betrieben die amerikanischen Besatzer anfangs eine rigide Entnazifizierungspolitik, machten aber bald wegen "akute[n] Personalmangel[s]" Ausnahmen (73). Zudem war die unmittelbare Nachkriegszeit von der Entfernung nationalsozialistischer Denkmäler und Straßennamen sowie der Entnazifizierung und Demokratisierung der Schulen geprägt.

Die Zeit zwischen 1947 und 1959 bezeichnet Kratz als Phase eines - wenngleich auch nicht absoluten - "Schweigens". In dieser Periode standen der Wiederaufbau, die Integration der Flüchtlinge und die Wohnungsknappheit im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten. In der Person von Erich Mix wurde 1954 mit Unterstützung der CDU ein FDP-Politiker Oberbürgermeister der Stadt, der dieses Amt bereits während der NS-Zeit bekleidet hatte. Wie der Verfasser herausarbeitet, profitierte Mix davon, dass sich die Haltung der Bevölkerung zur Entnazifizierung und zum Umgang mit einstigen NSDAP-Mitgliedern seit Mitte der 1940er Jahre gewandelt hatte. Selbst die SPD (deren Parteivorsitzender Georg Buch in der NS-Zeit verfolgt worden war) scheute davor zurück, im Wahlkampf die Vergangenheit des FDP-Kandidaten zu thematisieren. Ebenfalls in dieser Phase konstituierte sich die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ), die sich eigentlich die Aussöhnung und die Überwindung des virulenten Antisemitismus zur Aufgabe gemacht hatte. Der erste Vorsitzende der Gesellschaft in Wiesbaden, Ernst Morgen, bediente sich aber selbst "antisemitische[r] Denk- und Erklärungsmuster" (127), etwa indem er die Judenfeindlichkeit in der Bevölkerung auf das alliierte Nürnberger Kriegsverbrechertribunal und auf jüdische Restitutionsgesuche zurückführte. Anhand unterschiedlicher Quellen zeigt Kratz auf, dass in den 1950er Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit weitgehend ausblieb und die wenigen entsprechenden Veranstaltungen (wie Vorträge und Theateraufführungen) nur auf geringe Resonanz stießen. Statt der Opfer des Nationalsozialismus standen Vertriebene, Kriegsgefangene und Luftkriegstote im Zentrum des städtischen Gedenkens. Auch der laxe justizielle Umgang mit der nach 1945 in Wiesbaden ansässigen Firma "Topf & Söhne", die in der NS-Zeit Krematoriumsöfen für die Konzentrations- und Vernichtungslager hergestellt hatte, spreche dafür, dass "der Wille zur Strafverfolgung" in der Ära Adenauer "nicht sehr ausgeprägt" gewesen sei (155).

Der Umgang mit der NS-Vergangenheit wandelte sich ab den 1960er Jahren. Die Phase 1960 bis 1967 stellt Kratz unter das missverständliche Schlagwort "Bewältigung", mit dem er die veränderte Auseinandersetzung, aber keineswegs eine endgültige Aufarbeitung oder Überwindung des Nationalsozialismus bezeichnet. Die antisemitische "Schmierwelle" bot auch in Wiesbaden Anlass für Diskussionen über die "historisch ungenügend aufgeklärte Jugend" (170) und führte zur vermehrten Behandlung des 'Dritten Reichs' in Schulen und Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurden die Nachkriegskarrieren der Täter und Gehilfe des NS-Regimes aber nur selten thematisiert. Durch finanzielle Unterstützung von (zumeist jüdischen) Einrichtungen sowie durch die Einladung von aus Wiesbaden geflohenen Juden habe die Landeshauptstadt unter ihrem neuen Oberbürgermeister Georg Buch versucht, eine Art "lokale Wiedergutmachmachung" (186) zu leisten. Zudem begann in den 1960er Jahren eine von den Sozialdemokraten angestoßene Diskussion über ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus.

In der Dekade nach 1968 sei es, so Kratz, dann zu einer "Politisierung" des Umgangs mit der NS-Diktatur gekommen, die auch im Kontext eines Generationenkonflikts stand. Die Debatten in der Stadtverordnetenversammlung wurden in dieser Zeit rauer, und "diffamierende NS-Vergleiche" (205) häuften sich. Während in Inszenierungen am Hessischen Staatstheater vermehrt Anspielungen auf das Dritte Reich zu finden waren, ging die Zahl der öffentlichen Veranstaltungen zum Nationalsozialismus zurück. Dafür wurden nun häufiger Ausstellungen zur Thematik gezeigt.

Im zeitlichen Umfeld der Fernsehserie "Holocaust" (1979) habe schließlich ein erneuter Wandel stattgefunden. Diese - bis 1992 reichende - Phase betitelt Kratz mit "Aufarbeitung". Die Erinnerung an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus rückte nun in den Mittelpunkt - etwa in Form von Denkmälern, Ausstellungen, Vortragsreihen oder den Veranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestags des Novemberpogroms 1938. In dieser Phase gründeten sich in der hessischen Landeshauptstadt auch mehrere Vereine wie die Wiesbadener Geschichtswerkstatt oder der Förderkreis Aktives Museum Deutsch-Jüdische Geschichte in Wiesbaden, die sich der Suche nach Spuren der NS-Vergangenheit verschrieben. Kratz zeigt auf, dass Impulse oftmals von einzelnen Protagonisten ausgingen wie dem Wiesbadener Lehrer und Grünen-Stadtverordneten Lothar Bembenek, der sich die Erforschung der NS-Zeit zur Lebensaufgabe machte. Bembenek setzte sich unter anderem dafür ein, dass die Stadt eine Ausstellung über das Wiesbadener KZ-Außenkommando "Unter den Eichen" erarbeiten ließ und dort 1991 einen Lern- und Gedenkort errichtete. Diese Phase der "Nachgeschichte" war aber auch vom "Unbehagen" im "Lager rechts der Mitte" (384) und von teils heftigen Debatten geprägt: Kontroversen gab es etwa um die Teilnahme von Veteranen der Waffen-SS an der Gedenkstunde zum Volkstrauertag 1985 und um die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer des Nationalsozialismus. Zwar konnte man sich im Stadtparlament nicht auf ein Denkmal für alle Opfergruppen einigen, doch wurde 1992 in Wiesbaden erstmals in der Bundesrepublik ein Mahnmal zur Erinnerung an die Verfolgung der Sinti eingeweiht.

Die letzte Phase seiner Untersuchung (1993-2011) stellt Kratz unter die Überschrift "Bewahrung". In diesem Zeitraum habe sich das Gedenken - etwa in Form des Aktiven Museums Spiegelgasse für Deutsch-Jüdische Geschichte und des Gedenkstättenressorts im Stadtarchiv - verstetigt, institutionalisiert und professionalisiert. Zugleich gab es immer wieder erbitterten Streit - etwa über den Umgang mit dem NS-belasteten Mundartdichter Rudolf Dietz, dessen Name eine Schule trug (und trägt), über den Ort eines namentlichen Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus oder die Wehrmachtsausstellung. Errichtet wurden in dieser Phase eine Gedenkstätte am Standort der ehemaligen Synagoge und mehrere Stelen an Orten der Verfolgung. Mit Ausstellungen zum Bombenkrieg und zur Vertreibung rückten 2005 und 2006 schließlich (wieder) verstärkt "die 'eigenen Opfer'" (365) in den Fokus des Gedenkens.

Abschließend betont der Autor, dass die Auseinandersetzung der Stadt und ihrer Bewohner mit der NS-Vergangenheit kein "gradliniger Prozess", sondern "starken Schwankungen unterworfen" gewesen sei (368). Die "Vergangenheitsbewältigung" charakterisiert Kratz "weder als ein von außen diktiertes Umerziehungsprogramm noch als reine Erfolgsgeschichte oder als bloße Geschichte des Scheiterns und Verdrängens" (391). Sein Urteil in Bezug auf Wiesbaden fällt ambivalent aus: Insgesamt lasse sich der dortige Umgang mit der NS-Vergangenheit "weder als reine Erfolgs- noch als Versäumnisgeschichte" (393) erzählen. Dies ist keine neue, bahnbrechende Erkenntnis über die "Nachgeschichte" des Nationalsozialismus. Kratz gelingt es in seiner Studie aber, den (teilweise etwas zeitversetzten) Niederschlag von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen im Lokalen aufzuzeigen und zu unterstreichen, dass die Phase vor 1968 keineswegs nur durch ein allgemeines Beschweigen gekennzeichnet war.

Die vorliegende Studie überzeugt nicht nur durch ihre Inhalte und ihre quellengesättigte Argumentation, sondern auch durch den Schreibstil des Autors. Dass im Band auf den Abdruck von Fotos verzichtet wurde, ist bedauerlich, schmälert aber den Wert des Werks nur wenig. Trotz seiner mitunter etwas zu pointiert betitelten Periodisierungen blendet Kratz auch die innerhalb der einzelnen Phasen vorhandenen entgegengesetzten Entwicklungen nicht aus. All denjenigen, die sich mit der "Nachgeschichte" des Nationalsozialismus und der lokalen Auseinandersetzung beschäftigen, liefert die Untersuchung wertvolle Erkenntnisse. Sehr zu begrüßen wäre es, wenn auf Kratz' Studie weitere Arbeiten zur Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in anderen Städten folgen würden.

Jörn Retterath