Astrit Schmidt-Burkhardt: Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas (= Image; Bd. 30), Bielefeld: transcript 2012, 230 S., ISBN 978-3-8376-1887-7, EUR 27,80
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Die Forschungen zum Diagramm scheinen mancherorts bereits in die Phase der Bilanzen eingetreten zu sein. [1] Astrit Schmidt-Burkhardt setzt auf das Erschließen neuer Beispiele. Die findet sie mit Geschick und Glück, in Hülle und Fülle: z.B. die Anzeige der Werbeagentur Young & Rubicam Inc. aus dem Jahr 1945, in der ein Kurvendiagramm als fiktives Gemälde ins Museum gehängt wird (ein Ausschnitt ist bereits in großem Format auf dem Cover zu sehen) oder eine Serie von Bildpostkarten aus der Sowjetunion der frühen Dreißigerjahre, in denen die Wiener Methode der Bildstatistik zur Waffe im Klassenkampf geworden ist. Die Verfasserin fahndet nach diagrammatischen Mitschriften von Vorlesungen und gräbt zahlreiche Reaktionen auf das wohl wirkmächtigste Schaubild der Kunstgeschichte aus: das Diagram of Stylistic Evolution von Alfred Barr. Sie zeigt, wie sich Künstler den Umgang mit Diagrammen erschließen, ziemlich bierernst wie Stephan Hühne, der mit mind-maps Psycho-Techniken optimieren will, oder schalkhaft wie Margaret Morgan, die Barrs Schema zur Kunstgeschichte in die Planung eines Sanitärsystems mit Fallrichtung nach unten einschreibt. Nebenbei werden noch Ausflüge in den Bereich statistischer und naturwissenschaftlicher Diagramme unternommen, sodass ein beeindruckendes Kompendium entsteht. All das hat die Autorin als freie Wissenschaftlerin im Rahmen von Vorträgen und Aufsätzen erarbeitet und nun in einem Buch zusammengetragen. Eine lose institutionelle Anbindung muss der eigenen Originalität und Produktivität also durchaus nicht im Wege stehen.
Drei verschiedene Felder der Analyse zeichnen sich ab: Diagramme, die in verschiedenen pragmatischen Kontexten gebraucht und mit einem bildwissenschaftlichen Interesse sozusagen nachträglich analysiert werden, Diagramme, die von Anfang an als Kunst ausgestellt werden und schließlich Diagramme, die bereits bei ihrer Entstehung zwar nicht als prädestinierter Gegenstand, aber doch als Medium der Kunstgeschichte gelten dürfen, weil sie kunsthistorische Zusammenhänge aufzeigen, wie zum Beispiel Barrs Diagramm zur Genese der künstlerischen Avantgarde.
Aber wie analysiert man solche Diagramme? Indem man ihren Aufbau nachvollzieht, relevante Relationen herausgreift und auslegt und die Entstehung der diagrammatischen Form kritisch reflektiert: in welcher Tradition stehen die Diagramme, in welche Diskurse sind sie eingebunden? Wie prägen sie das Denken und Handeln, wie werden sie umgekehrt durch Ideen und operative Funktionen geprägt? Welche Bilder und Metaphern werden dabei freigesetzt? Die im Buch versammelten Analysen leisten eine reiche historische Kontextualisierung der Beispiele. Einiges verliert sich im Anekdotischen (wenn wir etwa erfahren, dass Goethe nach dem Studium der Meyerschen Tafeln zur antiken Kunst entspannt ein Bad nimmt). Die zentralen Fragen werden jedoch mit großer Beharrlichkeit verfolgt. Dadurch gewinnt die Abfolge der Kapitel eine beachtliche Kohärenz.
Dennoch fallen einige Defizite auf. Diagramme leben von der Übersicht. Wenn hunderte von Begriffen und Verbindungslinien auf Abbildungen in der Größe von Visitenkarten unleserlich werden, mag das einen unvermeidlichen Kompromiss mit dem Verleger darstellen, im Ergebnis führt es jedoch zur ärgerlichen Unmöglichkeit, Argumente nachzuvollziehen. Zweitens: Auch wenn die Beharrlichkeit beeindruckt, das auf den ersten Blick Verquaste ernst zu nehmen und bildtheoretisch zu wenden: krude Gedankenspiele werden nicht notwendig interessanter, nur weil sie diagrammatisch unterstützt sind. Bei einigen Autoren, die Schmidt-Burkhardt ausgäbt, bleibt da leider ein fahler Nachgeschmack. Drittens: gedankliche Schärfe tut not. Gerade bei Diagrammen mit ihren verschachtelten Argumentationsebenen sollten grafische Einschreibung und visuelle Auswertung, analysierte Themen und zu analysierende Darstellungstechniken klar voneinander unterschieden werden. Nur so gewinnt man Raum für die Analyse. Im Duktus der Autorin verschatten sich diese Ebenen jedoch häufig (so vermisse ich reflektierte Aussagen über eine spezifische Rezeption von Diagrammen fast völlig), oder sie gehen durcheinander, wenn in der Erschließung der Beispiele immer wieder knappste Inhaltsangaben mit Metaphern zur Darstellungsform kurzgeschlossen werden.
Durch die Analyse zieht sich der Gedanke, dass das Erstellen von "historiographischen Wissensbildern" eine Alternative zum großen Narrativ darstellt. Zugleich wird betont, dass Diagramme geradezu Generatoren von Erzählungen darstellen. Sehr interessante Ausführungen finden sich zum Kurvendiagramm als einer Art "symbolischer Form" des kapitalistischen Effizienzdenkens. Hier fehlen jedoch Zwischentöne, wenn der Aufstieg von Diagrammformen in der Kunst des 20. Jahrhunderts umstandslos als Effekt einer "kapitalistischen Modernisierung" der Wahrnehmung bezeichnet wird. Auch wenn das Buch den Begriff der "Kunst" im Titel führt, bleibt dieser Begriff leider recht unscharf.
Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist im Buch ein beachtlicher Beitrag zur kunsthistorischen Diagrammforschung zu erkennen: Besonders die große Gruppe historiografischer Wissensbilder zeigt, wie hier ein lange Zeit unterschätzter Bedarf zur kunsthistorischen Selbstreflexion besteht. Mit den Fundstücken der Arbeit im Gepäck können weitere historische Tiefenbohrungen unternommen werden. Die Zeitlinie, die in Barbeau-Dubourgs (1707-1779) Geschichtskarte 1753 von Adam und Eva bis Aufklärung reicht, wird z.B. in Rolevincks Fasciculus Temporum aus dem Jahr 1471 um knapp 300 Jahre vorweggenommen. [2] Viele Beispiele laden zu weiteren Recherchen ein: etwa die Ausstellung von grafischen Bilanzen im Rahmen einer "Statistikparade" am 1. Mai 1921 in Moskau oder die statistischen Transparente der New Yorker Municipal Parade im Jahr 1913.
Die beiden Teile des Buches leiten vom gesellschaftlichen Gebrauch der Diagramme zu ihrer Ausstellung im Rahmen der Kunst über. In dieser Versuchsanordnung liegt ein großes, noch nicht ausgeschöpftes Reflexionspotential. Die stärksten Passagen des Buches finden sich dort, wo deutlich wird, wie Künstler das Diagramm nicht nur für eigene Aussagen nutzen, sondern die mediale Form selbst kritisch hinterfragen oder ironisch brechen. Besonders anregend und ausbaufähig scheint mir das kurze Kapitel zum "Witz im Diagramm" am Ende des Buches zu sein.
Im Grunde ist ein bildwissenschaftlicher Ansatz, der Diagramme aus ihrem Gebrauchskontext löst, um die Frage nach der Form stellen zu können, ein Echo auf künstlerische Verfahren der Medienreflexion. Mitunter ist dann auch nicht mehr festzustellen, wer den Rahmen eigentlich setzt. Wenn Gerhard Dirmoser in der Gemeinschaftsausstellung "The world of ..." im Wiener Museumsquartier (2003) ein großes Diagramm präsentiert, eine Studentin im Versuch der getanzten Empathie von David Lechner fotografieren wird und Astrit Schmidt-Burckhardt das Foto im Buch als Illustration für den emotionalen Gehalt von Diagrammen verwendet, fragt man sich, was Gegenstand und was Medium der Analyse ist. Alles baut aufeinander auf, alles geht aber auch ineinander über. Die Bildwissenschaftlerin wird zur Quasi-Künstlerin.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Sebastian Bucher: Das Diagramm in den Bildwissenschaften. Strömungen der bildwissenschaftlichen Diagrammforschung, Saarbrücken 2008; Matthias Bauer / Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010; und den angekündigten Diagrammatik-Reader von Birgit Schneider und Jan Wöpking.
[2] Vgl. Eckart Conrad Lutz / Vera Jerjen / Christine Putzo (Hgg.): Diagramm und Text. Diagrammatische Strukturen und die Dynamisierung von Wissen und Erfahrung, Freiburger Colloquium 2012, Wiesbaden 2014 (im Druck).
Steffen Bogen