Rezension über:

Astrit Schmidt-Burkhardt: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin: Akademie Verlag 2005, 473 S., ISBN 978-3-05-004066-0, EUR 64,80
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Rezension von:
Stefan Neuner
Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Lars Blunck
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Neuner: Rezension von: Astrit Schmidt-Burkhardt: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin: Akademie Verlag 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/8380.html


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Astrit Schmidt-Burkhardt: Stammbäume der Kunst

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Es kann heute Niemanden mehr überraschen, wenn Kunsthistoriker sich mit anderen als im strengen Sinne künstlerischen Bildphänomenen beschäftigen. Die Kunstgeschichte hat längst entdeckt, dass sich jenseits der engen Grenzen ihres angestammten Gegenstandsbereichs - nicht nur in der populären Kultur, sondern auch in wissenschaftlichen und technischen Darstellungen - eine ganze "Domäne des Bildes" (Elkins) für die Forschung erschließen lässt. Mit einem entsprechenden Pioniergeist haben sich Kunsthistoriker wie W. J. T. Mitchell oder James Elkins im Namen einer allgemeinen "Bildwissenschaft" um eine Ausweitung ihres Arbeitsgebietes bemüht und sich einer Fülle von Bildformen aus allen nur denkbaren kulturellen Gebieten zugewandt. [1] Neu ist allerdings, dass mittlerweile eine zweite Generation bildwissenschaftlich orientierter Vertreter des Fachs damit begonnen hat, sich der Aufarbeitung von Detailfragen innerhalb des neu gewonnenen Gebiets zuzuwenden. Als Beispiel für diese Entwicklung kann Astrit Schmidt-Burkhardts Habilitationsschrift "Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde" gelten.

Auf rund 450 Seiten widmet sich die Studie ausschließlich der Entwicklung einer speziellen Gattung des Diagramms, dem "Kunststammbaum". Darunter sind historische Schaubilder zu verstehen, welche die Sukzession von Kunstepochen, Schulen oder einzelnen Künstler als genealogischen Zusammenhang veranschaulichen. Die Arbeit gehört damit in den Kontext eines jüngst in der deutschsprachigen Kunstgeschichte erwachten Interesses für diagrammatische Darstellungsformen und Bildstrukturen. [2] In der Ambition, die Geschichte dieser "Bildgattung", denn als solche versteht die Autorin den "Kunststammbaum" (2), seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert zu rekonstruieren, hat Schmidt-Burkhardt eine, für sich bemerkenswerte, Zusammenstellung teils recht entlegener Beispiele solcher Darstellungen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen versammelt. Wissenschaftliche Illustrationen und museumsdidaktische Schaubilder stehen auf der einen Seite. Sie werden in der ersten Abteilung des Bandes, "die Genealogisierung der Kunstgeschichte", behandelt, während sich der zweite Teil, "die Genealogisierung der Avantgarde", mit Diagrammen beschäftigt, in denen sich bemerkenswerter Weise gerade Künstler, die sich selbst der Avantgarde zugerechnet haben, mit der Konstruktion einer kunsthistorischen Abstammungslinie ihres Werks beschäftigen.

Der Untertitel des Bandes, "Zur Genealogie der Avantgarde", ließe nun eigentlich erwarten, dass diese letzten Beispiele das thematische Zentrum der Untersuchung bilden und dass mit dem paradoxen Verhältnis zwischen Geschichtsbruch und Traditionsbewusstsein, das in solchen avantgardistischen "Genealogien" zum Ausdruck kommt, ihre übergreifende Fragestellung umrissen ist. Darauf stimmt zunächst auch die Einleitung des Buches ein, in der Schmidt-Burkhardt gleich eingangs die Zerstörung der "Legende" des avantgardistischen "Traditionsbruchs" und - ganz im Sinne des einschlägigen Beitrages von Boris Groys [3] - eine Kritik der "Kategorie" des "absolut Neuen" (1), also eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Avantgardismus als Ziel ihrer Untersuchung namhaft macht. Doch wenige Seiten später gleitet der Gesichtspunkt zu einem allgemeinen und eher strukturellen, bildwissenschaftlichen Interesse an der "Bildgattung" der "Kunststammbäume" und schließlich zu wissenschaftshistorischen Fragen über, wobei immer unklarer wird, worauf die Abhandlung eigentlich hinaus will.

Tatsächlich werden diese drei Fragestellungen gleichzeitig verfolgt, doch ohne dass sie überall durchsichtig und konsequent miteinander verknüpft würden. So sind die kunstwissenschaftlichen Diagramme im ersten Teil - in die übrigens chronologisch schlüssig, doch systematisch verwirrend, Ferdinand Oliviers "Stammbaum der neudeutschen Kunst" (1823), also der genealogische Entwurf eines Künstlers eingerückt ist (81-105) - nicht bloß Vorgeschichte und Kontext der avantgardistischen Ahnentafeln. Hier entwickelt Schmidt-Burkhardt vielmehr so etwas wie eine kleine "Geschichte der Kunstgeschichte", wobei sie zeigen kann, wie die Aufnahme von Schautafeln in kunsthistorische Arbeiten, wie zuerst in Arcisse de Caumonts 1828 publiziertem "Cours d'antiquités monumentales" (65-81), sich an naturwissenschaftlichen Praktiken orientiert und mit dem Legitimationsbestreben der jungen Disziplin als positive Wissenschaft in Zusammenhang steht. Dagegen wird aber nur angedeutet, dass die "Etablierung der Kunstgeschichte als wissenschaftliches Fach" und die "genealogische Selbstprogrammierung der Avantgarde" (also die Themen der beiden Abteilungen des Buches) "zeitlich" und "kausal" eng miteinander verbunden sein sollen (421). Die Leistung des Buches liegt weniger in der Herausarbeitung der großen Zusammenhänge, die wahrscheinlich in einer vertieften Auseinandersetzung mit den ideologischen Hintergründen des prekären Traditionsbezuges der Moderne (wie der Konjunktur und Krise des geschichtsphilosophischen Denkens) zu gewinnen wären. Seine Leistung liegt in erster Linie in den Einzeldarstellungen, dem "close reading" bestimmter Diagramme, der oft minutiösen Rekonstruktion ihrer jeweiligen Kontexte, ihrer Publikations- und Rezeptionsgeschichte.

Problematisch und zuweilen widersprüchlich gestaltet sich der Wechsel zwischen einer kritisch-historischen und einer strukturell-bildtheoretischen Auseinandersetzung mit dem Material, die Schmidt-Burkhardts Interesse für die Pragmatik diagrammatischer Veranschaulichung geschuldet ist. Die Autorin lässt sich in diesem Zusammenhang immer wieder zu unkritisch-affirmativen Einschätzungen hinreißen, wenn sie etwa die "Vorzüge der visuellen Kommunikation" lobt oder von der Effizienz der "analytischen Grafik" überzeugt ist, die "komplexe Sachverhalte" ohne "viele Worte" zur Darstellung zu bringen erlaube (415). So wird auch Alfred H. Barr dafür gepriesen, der "modernen Kunstwissenschaft eine neue Form der Geschichtsvermittlung" eröffnet zu haben (414), während Schmidt-Burkhardt auf der anderen Seite die Kritik an dem formalistischen Kunstverständnis, das dem berühmten Diagramm des New Yorker Museumsmanns zu Grunde liegt, nachvollziehen kann (151-60). Auf einer grundsätzlichen Ebene ist ihr freilich auch klar, dass die fasslich-anschauliche Ordnung historischer Zusammenhänge in den "Kunststammbäumen" nicht ohne das totalisierende, "monolineare", auf "Hierarchien" und "historischen Kausalitäten" beruhende (27) Geschichtskonzept zu haben ist, das sie als "Genealogien" zwangsläufig figurieren.

Schließlich bleibt die Frage, ob die "Kunststammbäume", die in dem Buch versammelt sind, überhaupt eine "Bildgattung" konstituieren. Vor allem im zweiten Teil der Abhandlung wird die Kategorie sehr weit gefasst. Die dort behandelten Beiträge sind nicht nur in ihrem Status sehr verschieden: neben den Diagrammen von Boccioni und Maciunas, die als kunstwissenschaftliche Schaubilder konzipiert sind und den Anspruch erheben, gesichertes, historisches Wissen zu veranschaulichen, finden sich auch Karikaturen Ad Reinhardts, eine parodistische Statistik André Bretons, eine Zeichnung Francis Picabias oder ein Gemälde Anselm Kiefers. Als "Kunststammbäume" diskutiert Schmidt-Burkhardt dort aber auch Beispiele, die ein für diese "Bildgattung" wohl im logischen Sinne konstitutives Merkmal vermissen lassen, nämlich die lineare zeitliche Anordnung der Ahnenreihe. So ordnet Max Ernst in einer 1942 in der Zeitschrift View publizierten Textcollage die Namen der von ihm bevorzugten Künstler und Schriftsteller der Tradition wie zeitenthobene Gestirne auf einer Doppelseite an, ein entrücktes Pantheon eher als eine Ahnentafel, die ihren Erfinder in eine geregelte Erbfolge einsetzte (252-56).

Wenn die Ausweitung des Untersuchungsmaterials im Zusammenhang mit der Frage nach dem Geschichts- und Traditionsbezug der Avantgarden in jedem Fall sinnvoll und aufschlussreich ist, so muss man sich gerade deshalb fragen, weshalb sich Schmidt-Burkhardt auf der anderen Seite offenbar an dem unnötig rigiden Kriterium orientiert, dass die historischen Bezugsfiguren in schriftlicher Form auf den Ahnentafeln festgehalten sein müssen. Weshalb bleiben figurative Beispiele, wie etwa Ingres' 'L'Apothèose d'Homère' (1827) oder Gerhard Richters '48 Portraits' (1971-72) unberücksichtigt? Das Erste hätte das kunsthistorische Umfeld von Caumonts diagrammatischer Inkunabel erschließen können, während das Zweite das Reflexionsniveau der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Problem kultureller Kontinuität im Nachkriegsdeutschland besser vertreten hätte als Kiefers mythomane Malerei. Es bleibt also der Eindruck, dass Schmidt-Burkhardt den Gegenstand ihrer Untersuchung zugleich zu stark ausgeweitet, wie zu sehr eingeschränkt hat - zu weit ist er gefasst, um in das Profil einer "Bildgattung" zu passen, zu eng, um das Problem der "Ahnenforschung" der Avantgarde in allen relevanten Äußerungsformen zu umfassen. Es wäre also sinnvoll gewesen, dem Thema in der einen oder anderen Hinsicht stärkere Konturen zu verleihen.

Doch hat Astrid Schmidt-Burkhardt mit dem Thema ihrer Habilitation einen Nerv gegenwärtiger künstlerischer Interessen getroffen. Auch wenn es der historische und systematische Fokus ihrer Untersuchung nicht erlaubt hat, Künstler wie Thomas Hirschhorn, Tacita Dean oder Renée Green mit einzubeziehen, in der zeitgenössischen Kunst ist die Auseinandersetzung mit der abgerissenen "Tradition" der Avantgarde zu einem vordringlichen Thema und "genealogisches" Forschen zu einer weit verbreiteten Praxisform geworden. Wer eine historische Perspektive auf diese Phänomene gewinnen will, wird den Materialreichtum dieses Buches zu schätzen wissen.


Anmerkungen:

[1] W. J. Thomas Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago u. a. 1995; James Elkins: The Domain of Images, Ithaca u. a. 1999.

[2] Steffen Bogen / Felix Thürlemann: Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen, in: Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, hrsg. v. Alexander Patschovsky, Ostfildern-Ruit 2003, 1-22.

[3] Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München / Wien 1992.

Stefan Neuner