Rezension über:

Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hgg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945 (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung; Bd. 19), Essen: Klartext 2013, 360 S., ISBN 978-3-8375-0739-3, EUR 26,00
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Rezension von:
Sophia Dafinger
Universität Augsburg
Empfohlene Zitierweise:
Sophia Dafinger: Rezension von: Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hgg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945, Essen: Klartext 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/24787.html


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Patrick Bernhard / Holger Nehring (Hgg.): Den Kalten Krieg denken

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Als pro-russische Kräfte in der Ostukraine begannen, pro-westliche Strömungen im Land zu bekämpfen, war der Kalte Krieg plötzlich wieder in aller Munde. Ein Stellvertreterkonflikt wie in alten Zeiten schien sich zwischen Russland und den USA anzubahnen. Doch sicher darüber, was dieses Schlagwort (noch) zu bedeuten habe, war sich die Öffentlichkeit nicht. Der von Patrick Bernhard und Holger Nehring herausgegebene Sammelband erschien also zur rechten Zeit: Zum einen, weil das historische Phänomen offenbar in die Gegenwart hineinwirkt. Zum anderen, weil die Beiträge an eine wissenschaftliche Diskussion über die sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Dimension des Kalten Kriegs anknüpfen, der eine Fortführung zu wünschen ist.

Einige der hier versammelten Beiträge gehen auf die Londoner Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung im Herbst 2010 zurück. Patrick Bernhard und Holger Nehring bezeichnen in der gemeinsam mit Anne Rohstock verfassten Einleitung ihren Ansatz als "Wissensgeschichte des Kalten Kriegs" (9). Dieses Konzept beruht auf der These, es handele sich hier um Krieg als Simulation (Michael Geyer), der "nicht so sehr dem Körper als der Einbildungskraft des Menschen Gewalt angetan" habe (14). Explizit weisen die Herausgeber darauf hin, dass diese Perspektive nicht die Gewaltgeschichte des Kalten Kriegs ausklammern wolle, sondern vielmehr eine weitere Form von Gewalt gegen Gesellschaften miteinbeziehen könne.

Die aus unterschiedlichen Disziplinen kommenden Autorinnen und Autoren greifen diesen Ansatz selbstverständlich nicht alle auf dieselbe Weise auf. Dennoch haben sie, wie in der Einleitung festgestellt wird, in der Hauptsache vier gemeinsame Befunde hervorgebracht: Erstens habe der Zweite Weltkrieg in allen untersuchten Fällen hohe Wirkmacht; zweitens beeinflusse der Kalte Krieg in grundlegender Weise Gesellschaft und Kultur; drittens gebe es rege Wechselwirkungen zwischen der Logik des Kalten Kriegs und der Produktion und Wahrnehmung von Wissen beziehungsweise Wissenschaft; und viertens zeitige der Kalte Krieg nach 1989/90 langanhaltende Folgen und Wirkungen.

Am klarsten gebündelt sind diese Leitideen in den Aufsätzen von Frank Reichherzer, Anne Rohstock und Claudia Kemper. Am Beispiel westdeutscher Wehrexperten von den 1950er Jahren bis zum NATO-Doppelbeschluss zeigt Frank Reichherzer, wie vehement die Existenz von Atomwaffen in das alte Konzept des "totalen Kriegs" eingepasst wurde. Die beiden Zeitschriften "Wehrwissenschaftliche Rundschau" und "Wehrkunde" waren der Ort einer öffentlichen Expertendiskussion, die in nuklearen Waffen vor allem gesteigerte Zerstörungskraft sah - die Vorstellung eines "industrialisierten, wissenschafts- und technologiebasierten Massenkrieges" (143) musste dabei lediglich aktualisiert werden. Zugleich dachten jene Experten aber immer auch über den "kleinen Krieg" (154), den Guerilla-Krieg, nach, der nicht mit atomar bestückten Interkontinentalraketen, sondern mit Sturmgewehren und Flugblättern geführt wird.

Wie auch Anne Rohstock in ihrem Beitrag zur Verwissenschaftlichung schulischer Lehrpläne betont, erhoben die gesellschaftlichen Eliten Rationalität und nüchterne Kalkulation zu Leitkategorien und spielten sie gegen die vermeintliche Emotionalität der Masse aus. Mathematische Modellbildung, Spieltheorie und Simulation avancierten in den 1950er und 1960er Jahren dabei zu bevorzugten Methoden der Erfassung politischer Wirklichkeiten. Sie wurden zum einen vonseiten der Wissenschaftler als lösungsorientiert beschrieben, um den eigenen Status als Experten zu sichern. Zum anderen verschob die Nachfrage von Staat und Militär nach praktikablen Lösungen komplexer Probleme auch wissenschaftliche Paradigmen - und das nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Sozial- und Humanwissenschaften, wie hinzuzufügen wäre. Anne Rohstock macht deutlich, dass sich diese grundsätzliche Aufwertung vermeintlicher Objektivität auf die Gestaltung von Lehrplänen sowohl in den USA als auch in Europa sichtbar auswirkte, indem beispielsweise die sogenannte Neue Mathematik in die Curricula eingeführt wurde.

Claudia Kemper betont in ihrem Beitrag nochmals nachdrücklich, dass gesellschaftliche Gruppen aktiv um ihren Status als Experten kämpften. Sie beschäftigt sich mit den International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), einer Organisation von Ärzten, die sich in den frühen 1980er Jahren gründete, um gegen Atomwaffen zu protestieren. Am Beispiel dieser Gruppe werden die eingangs erwähnten vier Befunde sinnfällig: Erstens löste die militärmedizinische Tradition der Triage, die im Zivilschutz wieder aufgenommen wurde, kontroverse Diskussionen aus. Zweitens interpretierten Vertreter der IPPNW den Kalten Krieg als Auslöser gesellschaftlicher Entsolidarisierung aufgrund verdrängter Ängste vor der "atomaren Vernichtung" (314f.). Drittens zeigte die Friedensbewegung, wie Expertisen von Gegenexpertisen infrage gestellt und wissenschaftliche Diskussionen - unter anderem im Bereich der Psychoanalyse und Psychiatrie - vom Deutungsrahmen des Kalten Kriegs beeinflusst wurden. Und viertens sind die in diesem Rahmen entstandenen Vorstellungen privater Vorsorge nach wie vor wirksam.

Es ist dem Band kaum vorzuwerfen, dass er sich auf Westeuropa und die USA konzentriert und damit nicht nur die andere Seite des Eisernen Vorhangs, sondern auch die Gesellschaften ausblendet, die unter Kriegen und Stellvertreterkriegen zu leiden hatten. Auf diesen Fokus weist bereits der Klappentext eindeutig hin. Doch auch aus dieser Perspektive wäre zu fragen, inwieweit Atomwaffen und Nukleartechnik tatsächlich so sehr ins Zentrum gestellt werden müssen, wenn es um das Denken über und für den Kalten Krieg geht. Frank Reichherzers Hinweis, dass Militärstrategen ihre Tätigkeit keineswegs als gänzlich neue verstanden, geht in diese Richtung. Denn gerade die Wirkmacht des Zweiten Weltkriegs, die die Herausgeber und ihr Autorenteam zurecht mehrfach herausstellen, wird in der strikten Parallelführung von Kaltem Krieg und Atomzeitalter eher verschleiert. Auch dass die mehrfach erwähnten defense intellectuals nicht nur abstrakte Modelle erdachten, sondern auch die "heißen Kriege im Kalten Krieg" thematisierten, bleibt außen vor, wenn man sich auf das Nachdenken über Atomwaffen beschränkt.

Dieser Hinweis auf Leerstellen in der Forschung zur Sozialgeschichte des Kalten Kriegs soll jedoch den Wert des Sammelbands nicht schmälern, sondern vielmehr weitere Beiträge anregen. Patrick Bernhard und Holger Nehring haben einen ebenso kohärenten wie anregenden Sammelband zu einem Phänomen vorgelegt, das in seiner Gänze noch lange nicht verstanden ist.

Sophia Dafinger