Rezension über:

Holger Nehring: Politics of Security. British and West German Protest Movements and the Early Cold War, 1945-1970 (= Oxford Historical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2013, XIV + 342 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-968122-8, EUR 65,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Gerhard Altmann
Korb
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Gerhard Altmann: Rezension von: Holger Nehring: Politics of Security. British and West German Protest Movements and the Early Cold War, 1945-1970, Oxford: Oxford University Press 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 12 [15.12.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/12/23995.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Holger Nehring: Politics of Security

Textgröße: A A A

Das Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz hatte es gut gemeint. Seine 1961 publizierte Broschüre "Jeder hat eine Chance" sollte die Westdeutschen gegen den Atomkrieg wappnen. Doch was dienstbeflissen als Aufklärung in der Epoche nuklearer Rüstung gemeint war, endete flugs im politischen Kabarett. Kreativ nahm sich die Münchner Lach- und Schießgesellschaft des Ratgebers an: Ihre Mitglieder demonstrierten in eingängiger Weise, wie sich die Bürger mit Hilfe von Aktentaschen des nuklearen Niederschlags erwehren sollten. [1]

Der Sarkasmus der Kabarettisten kontrastierte merklich mit der moralischen Emphase, von der die Protestbewegungen auf dem Feld der Sicherheitspolitik in der ersten Hälfte des Kalten Kriegs durchdrungen waren. Holger Nehring vergleicht in seiner materialreichen, theoretisch elaborierten Studie britische und westdeutsche Gruppierungen wie die Campaign for Nuclear Disarmament (CND) oder die Bewegung Kampf dem Atomtod. Gleich zu Beginn grenzt er sich dezidiert gegen Versuche ab, diese Gruppen nahtlos in das historiographische Narrativ der "Liberalisierung" zu integrieren und sie mithin zu einem bloßen Epiphänomen anonymer Strukturen zu degradieren. Ebenfalls zu Leibe rücken möchte Nehring dem Narrativ eines exzeptionellen britischen Sonderwegs, der - verstärkt durch den Mythos von Dünkirchen - markante Spuren in der Geschichtswissenschaft hinterlassen hat.

Die von Nehring analysierten Bewegungen hegten Zweifel an einer Politik der Stärke, die die Bewahrung des nuklearen Patts als Unterpfand internationaler Sicherheit verstand. Dabei galt die Atomenergie zunächst als "healing balm" (41) für die Wunden des Zweiten Weltkriegs, aber auch als Fenster, das den Blick in ein neues Zeitalter demokratischer Planung und technologischen Fortschritts öffnete. Die Regierungen in London und Bonn, wo lange eine - wie auch immer geartete - westliche Nuklearteilhabe angestrebt wurde, hätten der nuklearen Option nur eine Absage zu erteilen vermocht, wenn sie bereit gewesen wären, massive Einbußen an Status und Souveränität hinzunehmen. Genau das befürchtete auch Bonn, wo darum, v.a. in der Ära Adenauer, eine wie auch immer geartete Teilhabe am westlichen Nuklearpotential angestrebt wurde. Doch in beiden Ländern breitete sich Unbehagen an der nuklearen Verteidigungsstrategie der NATO aus, das sich durch die damals weitverbreitete Gleichsetzung von Hiroshima und Auschwitz enorm intensivierte. Nehring untersucht Organisationsstrukturen, ideologische Genealogien, Wechselwirkungen und Folgen der Protestbewegungen.

Die Aktivisten der CND, die sich 1958 erstmals in Aldermaston, dem Zentrum des britischen "Atomic Weapons Establishments" versammelten, waren überdurchschnittlich gebildet und kirchennah, dabei nonkonformistisch geprägt, also nicht der englischen Staatskirche verpflichtet. So zählte etwa der Historiker und Linksintellektuelle E. P. Thompson zu den Männern der ersten Stunde. In Westdeutschland stellten die Aktivisten ihren demokratischen Leumund in einer postfaschistischen Gesellschaft unter Beweis und brachten so "structures of a self-consciously civilian society" (73) hervor. Das Konzept der Generation, also die bewusste Abgrenzung der Nachkriegsgeneration von den NS-belasteten Vätern, dominierte die Selbstbeschreibung der bundesrepublikanischen Gruppen, während deren britische Pendants dem althergebrachten "Radikalismus der Mittelschicht" (vielleicht ein wirkungsmächtiger Widerspruch in sich) anhingen. Einige Repräsentanten der CND ließen sich vom Prozess der Dekolonisation, der sich unter der Regierung Macmillan beschleunigte, nicht beirren und propagierten die einst im Empire hochgehaltene mission civilisatrice nun als Blaupause für die Erziehung der heimischen Gesellschaft. Gleichzeitig fand die New Left in der CND einen Resonanzboden für ihre vom Labour-Mainstream abweichenden Ideale. Nehring unterstreicht die Bedeutung eines durchaus an militärische Kategorien erinnernden Kameradschaftsbegriffs, der die Gruppierungen in beiden Ländern zusammenschweißte und obendrein die "impression of synchronicity" (122) zwischen den Bewegungen in unterschiedlichen Ländern suggerierte.

Dieser Verbundenheitsethos stellte jedoch überkommene Rollenzuschreibungen nicht in Frage. Symptomatisch dafür ist folgende Episode: John Saville, ein alter Weggefährte E. P. Thompsons, erlaubte seiner Frau den Aufenthalt bei Eric Hobsbawm während eines Ostermarschwochenendes nur unter der Bedingung, dass sie für seinen Historikerkollegen koche. Strukturell erinnerte CND letztlich stark an die elitengesteuerten Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls kam die paternalistische Partizipationselite an ihrer Spitze offenbar nicht mit dem Massenzulauf zurecht, der sich organisationssoziologisch geradezu als Sicherheitsrisiko entpuppte. Sowohl die britischen als auch die westdeutschen Aktivisten mussten sich nämlich - nicht zuletzt von Seiten Labours bzw. der SPD - den Vorwurf gefallen lassen, das Geschäft des Kreml zu besorgen, vor allem dann, als sie sich konstruktiv mit dem sowjetischen Konzept einer "friedlichen Koexistenz" beschäftigten. Nehring bewertet die Ostermärsche als "life-changing experiences" (191), die überdies von den heilgeschichtlichen Obertönen des Osterfestes profitierten. Auch wenn die Regierungen in Bonn und London den Aktivisten reflexartig irrationales Verhalten unterstellten, hebt Nehring gerade deren ostentative Mäßigung sowie deren Bemühungen hervor, das immer hektischere Wettrüsten in Ost und West zu entschleunigen.

Allerdings änderte sich das organisatorische und ideelle Gefüge, nachdem diese Bewegungen Mitte der sechziger Jahre ihren Zenit überschritten hatten. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze verliefen in der Bundesrepublik spürbar vehementer als die Ostermärsche, die gleichwohl außerparlamentarischen Aktionen neue Räume erschlossen hatten. Die Ostermärsche konfrontierten die Labour Party, mehr noch indes die SPD mit unbequemen Wahrheiten. Die SPD ließ nichts unversucht, um ihren Mitgliedern die Ostermärsche madig zu machen, was freilich zur Politisierung letzterer erheblich beitrug. Und der "altfränkische" Ernst eines Rudi Dutschkes kollidierte alsbald mit dem Politspektakel eines Dieter Kunzelmann, der sich die "air of playfulness" (274) der britischen Aktivisten wohl eher anverwandelt hätte. Plausibel skizziert Nehring die unterschiedlichen Entwicklungslinien, die die Protestbewegungen der fünfziger und frühen sechziger Jahre mit der postmateriellen Gegenkultur der siebziger verbinden. Sowohl in Großbritannien als auch in Westdeutschland wurde diese von einer neuen Innerlichkeit geprägt - in der Bundesrepublik mit Echos aus dem protestantischen Pfarrhaus -, die eine dantonistische, gegenwartsfixierte Linke ihr Heil in der Therapie als Vorstufe individueller Sicherheit suchen ließ.

Am Ende knüpft sich Nehring Jürgen Habermas' Konzept des Strukturwandels der Öffentlichkeit vor. Dieses müsse die Protestbewegungen der frühen Bundesrepublik beinahe zwangsläufig als Vorboten eines "linken Faschismus" verfehlen, da es auf britischen Idealen des frühen 19. Jahrhunderts fuße und alles, was danach kam, nur mehr als emotional gepolte Schwundform eines rationalen Diskurses betrachte. Nehring hingegen unterstreicht die Bedeutung der britischen und der westdeutschen Protestbewegung als Wegbereiter einer diskussionsfreudigen, weniger obrigkeitsfrommen Streitkultur. Für Großbritannien muss er daher im Prinzip den liberalen Sonderweg einer insgesamt weniger radikalen Protestbewegung bestätigen, der - jedenfalls hinsichtlich der Nachkriegszeit - letztlich aus der Abwesenheit einer totalitären Vergangenheit resultiert. Bisweilen vermisst man in dieser akribisch recherchierten Arbeit zwar den Blick für die großen Linien des Weltgeschehens, die den Ausgangspunkt der Protestbewegung darstellten. Doch das ist nicht mehr als ein kleiner Schönheitsfehler in einer wegweisenden Studie zur Frühphase zweier westlicher Friedensbewegungen in transnationaler Perspektive.


Anmerkung:

[1] Vgl. http://www.br.de/nachrichten/lach_und_schiessgesellschaft102~_v-image512_-6a0b0d9618fb94fd9ee05a84a1099a13ec9d3321.jpg?version=224f3m

Gerhard Altmann