Jerry Toner: Roman Disasters, Cambridge: polity 2013, IX + 220 S., ISBN 978-0-7456-5102-6, GBP 20,00
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Die Erforschung historischer Katastrophen hat Konjunktur. Spätestens seit der Jahrtausendwende steigt die Zahl der Publikationen, in denen durch natürliche Extremereignisse oder menschliche Einflüsse ausgelöste Unglücke mitsamt ihren Folgen verhandelt werden, in rasantem Tempo. Gründe dafür sind nicht nur in rezenten Diskussionen um Klimawandel oder Mensch-Umwelt-Verhältnis zu sehen, sondern auch in dem Umstand, dass der katastrophale Extremfall in besonderer Weise dazu beiträgt, die jeweils betroffenen gesellschaftlichen Konstellationen für den Wissenschaftler sichtbar zu machen. Auch auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften schlägt sich das seit einiger Zeit nieder. Die durchaus zahlreichen Einzelstudien sind allerdings noch kaum einmal in allgemeine, den antiken Befund systematisierende Überlegungen überführt worden.[1] Jerry Toner füllt also eine Lücke, wenn er unter dem Titel "Roman Disasters" die erste englischsprachige Monographie zur Thematik vorlegt. Wie er im Vorwort betont, richtet sich sein Buch dabei an ein breites Publikum, ohne dass seine Ausführungen es an konzeptioneller Schärfe fehlen lassen sollen (viii). Bereits im ersten Kapitel konkretisiert Toner diese Ankündigung, indem er - eingeleitet von einer narrativen Einführung - ausführlich sein methodisches Rüstzeug darlegt (1-16). Dabei beruft er sich auf das historisch-anthropologisch inspirierte "vulnerability"-Konzept[2]: Ein "disaster", so dessen zentrale Annahme, entsteht nicht zuletzt dadurch, dass ein potentiell schädigendes Ereignis auf eine Gesellschaft trifft, die unzureichend vorbereitet, also vulnerabel ist. Eine Schwäche des Ansatzes sieht Toner in der Gefahr einer unhistorischen Schematisierung von vermeintlich typischerweise erwartbaren Reaktionen auf Katastrophen. Er selbst möchte sich deswegen an einer vornehmlich auf Unterschiede abzielenden kulturvergleichenden Betrachtung versuchen. Diesem Ansatz legt er eine sehr breite Definition von "disaster" als "any event which generates a communal crisis" zugrunde (11).
Die Gliederung des insgesamt 10 Kapitel umfassenden Buches orientiert sich nicht an chronologischen Kriterien. Toner fragt stattdessen nach Einzelaspekten des römischen Umgangs mit Katastrophen und betrachtet diese jeweils zeitübergreifend. Bilden die ersten Kapitel des Buches dabei noch einen eher deskriptiven Ausgangspunkt, werden in der zweiten Hälfte zunehmend Fragen aufgeworfen, die sich erst durch vergleichende Blicke auf Nachbardisziplinen ergeben haben.
Den Anfang der Betrachtung macht ein knapper Überblick über repräsentativ ausgewählte katastrophale Einzelfälle der römischen Geschichte (17-28). Toner zieht dabei Beispiele vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. heran, die in lockerer chronologischer Reihung präsentiert werden und die recht unterschiedlicher Natur sind: Neben naheliegenden Beispielen wie Erdbeben oder Vulkansausbrüchen finden etwa auch die Varus-Schlacht, der Brand Roms unter Nero oder die "Third Century Crisis" (24) Eingang. Als verbindendes Element identifiziert der Autor den mentalen Eindruck, den das jeweilige Geschehen auf die Betroffenen gemacht habe (29-44): Der extreme Stress, der in entsprechenden Situationen ausgelöst worden sei, könne zu ebenso extremen Reaktionen und sogar zur kurzfristigen Verkehrung sozialer Normen führen. In der Antike seien solche Vorgänge durch schlechten Informationsfluss noch verstärkt worden. Mit Blick auf das mittel- und langfristige Bewältigungshandeln (45-66) sei allerdings bemerkenswert, in welchem Maße sich die römische Gesellschaft als resistent gegenüber katastrophenbedingten Neukonfigurationen erwiesen habe: Katastrophen hätten in der Antike nicht, wie es in der Moderne häufig zu beobachten sei, als "catalysts for change" gewirkt (65): So seien Präventionsmaßnahmen wie etwa Hochwasserschutz allenfalls punktuell unternommen worden (51f.); auf der sozialen Ebene wiederum hätten Katastrophen seltener zu nachhaltigen Veränderungen als vielmehr zur Bestärkung traditioneller Werte und Ordnungselemente geführt.
Dieser Befund wird durch einen Blick auf naturwissenschaftliche und religiöse Erklärungsmuster für extreme Naturereignisse (67-86) weiter ergänzt. In Übereinstimmung mit der communis opinio hebt Toner die Tendenz der Römer zur Transzendierung von katastrophalen Ereignissen hervor. Die Erklärung von Katastrophen mit göttlichem Wirken möchte er dabei nicht als fatalistische Passivreaktion verstanden wissen: Im Gegenteil eröffne die religiöse Ausdeutung des Geschehens die Möglichkeit, durch Wiederherstellung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern aktiv gegen das eigene Unglück vorzugehen (73). Hier setzt der Autor auch an, wenn er im Folgenden über den Umgang der Römer mit den sie umgebenden natürlichen und anthropogenen Gefahren nachdenkt (87-107). Am Beispiel der Seefahrt illustriert er die aktive Haltung gegenüber täglich lauernden Gefahren. Dabei geht er von der Ausbildung eines "set of practices and beliefs" (97) aus, zu dem im Fallbeispiel die Stilisierung des Seemannes als Risiken bewusst in Kauf nehmender "Gladiator" sowie das rituelle Bemühen um göttliches Wohlwollen und die dadurch beförderte Hoffnung auf die Gunst des Glücks gehören.
Die Feststellung, dass Gefahren und Risiken einen allgegenwärtigen Bestandteil der römischen Lebenswelt bildeten, führt Toner zu der wichtigen Frage, warum solche Ereignisse den zeitgenössischen Literaten überhaupt erwähnenswert erschienen bzw. in welche Narrative sie eingebunden wurden (108-130). Ins Zentrum rückt er die metaphorische Verwendung der Katastrophe einerseits (etwa das Motiv der Auflösung öffentlicher Ordnung) sowie ordnungsstiftende Narrative wie das des Kaisers als sorgender Familienvater andererseits. Auch auf dieser Ebene seien Katastrophen vielfach zum Anlass genommen worden, bestehende Strukturen neu zu bestärken. Analog argumentiert er auch in einem etwas exkurshaft anmutenden Abschnitt zur Kriegführung der Römer gegen auswärtige Feinde (131-152): Kriege, so der Anknüpfungspunkt, bedeuteten Katastrophen für die jeweils Unterlegenen. Es habe deswegen grundsätzlich einer Rechtfertigung für römische Siege bedurft. Das Narrativ, das diese Rechtfertigung lieferte, sieht Toner in der Gegenüberstellung der in sich selbst bereits als katastrophal charakterisierten barbarischen Lebenswelten zur als ordnungsstiftende Kraft inszenierten römischen Kultur.
Unter Heranziehung der modernen Katastrophenpsychologie versucht Toner im vorletzten Kapitel, den mentalen Effekt von Katastrophen auf antike Zeitgenossen auszuloten (153-170). Methodische Probleme werden dabei zwar benannt (159f.), was jedoch recht gewagte Vergleiche nicht verhindert: Dass etwa der bei Johannes von Ephesos überlieferte Dämonenbefall der Bewohner von Amida 560 n. Chr. tatsächlich mit dem Post-Traumatischen Stress-Syndrom in Verbindung gebracht werden sollte, bleibt Hypothese. In der Vorgehensweise weniger problematisch sind dagegen die abschließenden Ausführungen (171-185), in denen moderne Statistiken als Folie dienen, um noch einmal die Besonderheiten des römischen Umgangs mit Katastrophen herauszustreichen: Namentlich nennt Toner die starke Resilienz politischer und kultureller Systeme, ein geringes Bewusstsein für die Notwendigkeit des Krisenmanagements sowie die allgemeine Akzeptanz des hohen Katastrophenrisikos (177-180).
Ungeachtet einiger allzu optimistischer Analogien stellt die vergleichende Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes eine große Stärke des Buches dar. Die Gegenüberstellung mit dem Jetzt bildet eine Leitlinie, die den Leser durch die in Fragestellung und Materialzusammenstellung manchmal recht heterogenen Kapitel begleitet. Das Versprechen eines hohen methodischen Reflexionsniveaus kann Toner dabei durchaus einhalten. Die Brille, die er aufsetzt, hilft überdies dabei, das häufig besonders gut sichtbare obrigkeitliche Handeln um die "andere" Seite der Katastrophe zu ergänzen: Immer wieder fragt der Autor nach Wahrnehmungen und Handlungen am unteren Ende der Gesellschaft - gleichwohl stößt das Material dabei natürlich an seine Grenzen.
Wenig gewinnbringend erscheint die extrem weite Definition des "disaster"-Begriffes. Die Miteinbeziehung von Negativerlebnissen aller Art inklusive Langzeitphänomenen, Kriegen oder kleineren Unglücken macht es phasenweise schwer nachvollziehbar, warum hier gerade ein Buch über Katastrophen und nicht eines über Krisen oder Kontingenzphänomene geschrieben wurde. Die Zusammenstellung der stark divergierenden Beispiele in analogisierende 'Themenblöcke' macht die Lektüre zweifelsohne spannender, vermittelt aber auch das Bild einer allenfalls noch durch das Aufkommen des Christentums durchbrochenen zeit- und raumübergreifenden Gleichförmigkeit des antiken Umgangs mit Katastrophen, das in dieser Form zu kurz greift. Auch die Beschränkung auf Rom spiegelt sich zwar in der Auswahl der Beispiele, nicht aber konzeptionell wider. So hinterlässt die Lektüre denn einen zweischneidigen Eindruck: Zu einer erfreulichen Offenheit für neue Ansätze, einhergehend mit großem erzählerischen Geschick, gesellen sich Unschärfen beim Abstecken des Gegenstandes, die durch dessen präzisere Definition und eine stärkere Betonung chronologischer oder regionaler Elemente vielleicht hätten verhindert werden können.
Anmerkungen:
[1] Die monographischen Arbeiten zum Thema sind allgemein spärlich. Vgl. Gerhard Waldherr: Erdbeben. Das Außergewöhnliche Normale. Zur Rezeption seismischer Aktivitäten in literarischen Quellen vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr., Stuttgart 1997; Holger Sonnabend: Naturkatastrophen in der Antike. Wahrnehmung - Deutung - Management. Stuttgart 1999; ders.: Katastrophen in der Antike, Darmstadt / Mainz 2013.
[2] Vgl. etwa Greg Bankoff / Georg Frerks / Dorothea Hilhorst (eds.): Mapping Vulnerability. Disasters, Development & People, London 2004.
Jonas Borsch