Rezension über:

Carsten Ruhl: Magisches Denken - Monumentale Form. Aldo Rossi und die Architektur des Bildes, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2013, 212 S., 10 Farb.-, 90 s/w-Abb., ISBN 978-3-8030-0764-3, EUR 38,00
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Rezension von:
Michaela Stoffels
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Julian Jachmann
Empfohlene Zitierweise:
Michaela Stoffels: Rezension von: Carsten Ruhl: Magisches Denken - Monumentale Form. Aldo Rossi und die Architektur des Bildes, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/24768.html


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Carsten Ruhl: Magisches Denken - Monumentale Form

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Untersuchungen zur Architektur Aldo Rossis, seinen theoretischen Reflexionen und der Einordnung des Werks in das Bauen der Moderne wurden insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren vorangetrieben. Dabei stellte Vittorio Savis 1975 erschienene monografische Untersuchung insofern eine neue Forschungsperspektive dar, als sie erstmals die besondere Stellung des Architekturbildes im Gesamtwerk Rossis betonte. Dementsprechend unterstrich auch Alberto Ferlenga, der Ende der 1990er-Jahre das Gesamtwerk des mittlerweile verstorbenen Architekten herausgab, im Jahr 1993, dass bei Rossi "schon immer das Bild der Arbeit des Architekten vorausgehe." Weiterführende Analysen zur Bedeutung der Bilder für das Gesamtwerk des Architekten sowie für das moderne Bauen wurden seit der Jahrtausendwende nicht mehr angestellt.

Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die vorliegende Monografie des Frankfurter Architekturhistorikers Carsten Ruhl das Werk Aldo Rossis erstmals in einem bildgeschichtlichen Kontext analysiert. Es geht um die Frage, wie "in den imaginierten Bildräumen [Rossis] die Architektur der Stadt mit der Architektur des Bildes identifiziert" (7) wurde, genauer, welche Funktion seine "Bilder im Spannungsfeld von Wirklichkeitsbezug und Autonomiestreben" (7) einnahmen. Dabei kann Ruhl die bisherige Annahme widerlegen, dass sich Rossis Werk in einer bloßen Adaption historischer Epochen erschöpft hätte. Was auf den ersten Blick als streng rationale Auffassung erscheinen mag, weshalb dem Architekten ein rigider Revisionismus und die Nähe zu faschistischem Gedankengut unterstellt worden ist, erweist sich bei genauerer Betrachtung "als widersprüchliche Reflexion verloren geglaubter Selbstverständlichkeiten im Medium des Bildes" (7). Aldo Rossi verstand den architektonischen Typus sowohl als klassifikatorisches Ordnungssystem, als auch als eine "nur als Bild vermittelbare Idee" (7). Einem überwiegend funktionalen setzte er ein imaginativ-magisches Architekturverständnis entgegen, das in der Auseinandersetzung mit dem Monumentalen als Symbol des kollektiven Gedächtnisses kulminierte. Insgesamt erscheint das Werk Aldo Rossis nach Carsten Ruhl durch den widersprüchlichen Versuch geprägt, "die Kluft zwischen Bild, Theorie und Bau durch die Inversion des architektonischen Entwurfsprozesses außer Kraft zu setzen" (8).

Das erste Kapitel "Die Gegenwart der Vergangenheit" zeigt, wie sehr Aldo Rossi zwischen formalen Traditionalismen und dem modernen Bauen schwankte. Zunächst betrachtet Ruhl den italienischen Neorealismo der 1950er-Jahre und kommt - quellenkritisch betrachtet doch etwas kurzerhand - zu dem Ergebnis, die "konservativen Kräfte des Landes [hätten sich] die neorealistische Ästhetik des kommunistischen Gegners zu eigen gemacht [...]" (14). Demgegenüber habe Rossi - prototypisch für seine späteren Schriften - "wider besseren Wissens die Selbstbestimmung der Architektur in Zeiten ihres ideologischen Missbrauchs" behauptet (15). Ruhl gelingt es insbesondere, die ambivalente Haltung des Architekten dem Bauhaus gegenüber präzise herauszuarbeiten: Einerseits dessen Idealisierung als Hüter unveräußerlicher Prinzipien, andererseits dessen Entweihung als Missachter der Tradition durch Funktionalisierung des zeitgenössischen Bauens (16). Inwieweit Rossi sich gedanklich von einer rein funktionalen Perspektive absetzte, wird - typisch für seine Generation - gerade durch die Abkehr vom linearen Modell historischer Zeit hin zu einem zyklischen Denken deutlich (insb. 18). Folglich verteidigte Rossi, so Ruhl, auch den italienischen Neoklassizismus als architekturhistorische Errungenschaft im Dienst der Gesellschaft. Gleichwohl habe er paradoxerweise die beginnende Moderne mit der Architektur der französischen Aufklärung gleichgesetzt (22). Das stete Hin- und Hergerissensein zwischen einer wirklichkeitsnahen Analyse der modernen Architektur und dem Wiederaufsuchen von Traditionen fand bei Rossi insbesondere in der Annäherung an die Position Adolf Loos' sowie der Auseinandersetzung mit den Thesen Hans Sedlmayrs statt, so die Analyse Ruhls.

Der Leitgedanke des zweiten Kapitels "Monument und Stadt" weist auf das Monumentale der Form im architektonischen Werk Rossis. Dabei kritisiert Ruhl zu Recht das hohe Maß, durch das Rossis "Blick auf das Gebaute von einer [...] Aufhebung alles Politischen im Ästhetischen geprägt" (49) wurde. Vor dem Hintergrund der italienischen und internationalen Nachkriegsdiskussion wird der Begriff des "Monumentalen" im Werk des Architekten insbesondere mithilfe seiner zentralen, 1966 veröffentlichten Studie "L'Architettura della Città" erläutert. Deutlich wird dabei, dass er das Monumentale nicht weiter als Repräsentation von Macht oder als konkrete Erinnerung an historische Personen oder Ereignisse, sondern als Ausdruck kollektiver Ideen und kultischer Praktiken betrachtete. Gleichwohl erscheint der zentrale Begriff des Monuments nur unscharf eingegrenzt, was sicherlich auch mit der vagen Definition Rossis selbst zu erklären ist. Im Kapitel "Monumente des kollektiven Gedächtnisses" werden die gebauten urbanen Denkmäler dann als Spiegelbilder unbewusst-kollektiver Bilder aufgefasst; Zusammenhänge mit der Gedächtnistheorie werden insbesondere anhand der einschlägigen Schriften des Zeitgenossen Maurice Halbwachs erläutert. Gleichwohl bleibt offen, wie im städtischen Monument eine "Psychologie des Kollektiven" (58) bei zunehmender Individualisierung, einhergehend mit dem Zerfall der Ikonografien, nach Aldo Rossi noch möglich und wirksam werden konnte.

Mit der Überzeugung Rossis, dass die Komplexität des Gebauten in der Stadt nur dann bewältigt werden könne, wenn sie mit Künstleraugen betrachtet werden würde, sowie mit dem Brückenschlag hin zu den Bildarchitekturen des Novecento, der Pittura Metafisica sowie zur Écriture automatique stehen im dritten Kapitel zentrale künstlerische Aspekte des Architekturbildes im Mittelpunkt. Ruhl kann plausibel machen, wie stark sich Rossi malerischer Elemente der Zwanzigerjahre in Italien bediente, in der das Verhältnis zwischen Mensch und gebautem Umraum - noch - intakt schien, wenn auch die Krise des modernen Menschen bereits unterschwellig mitthematisiert wurde. So wird nochmals deutlich, dass Rossi seine Bilder insbesondere als Fortsetzung - künstlerischer - Traditionen ansah.

Im vierten und letzten Kapitel der Monografie beschreibt der Autor dann, wie die Imagination eines kunsthistorisch tradierten Stadtbildes, das Aldo Rossi aus dem überzeitlichen Geltungsanspruch des Monumentalen ableitete, den Wirklichkeitsbezug seiner Architektur konsequent veränderte. Ruhl kann zeigen, in welchem Maße Rossi den Architektenentwurf in Analogie zum Bildentwurf betrachtete, womit das zeitgenössische Credo "von der Funktion zur Form" quasi in sein Gegenteil verkehrt wurde. Weiterhin macht er deutlich, in welcher Weise Rossi die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort des Bauens durch "weitestgehende Verwirklichung eines typologischen Kaleidoskops, das heißt, die Architektur der Stadt durch die Architektur des Bildes" (175) ersetzte - womit die Architektur in letzter Konsequenz nur noch sich selbst repräsentierte. Damit verlor sie, so ein Urteil Ruhls, allerdings auch ihre Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit den gegebenen sozialen Verhältnissen und somit auch zur Kommunikation mit dem zeitgenössischen Betrachter und Stadtbewohner.

Insgesamt gelingt es Carsten Ruhl, herauszuarbeiten, welche Bedeutung die Architekturbilder Rossis sowohl für dessen eigenes Werk, als auch für die partielle Loslösung der Moderne von der gebauten Realität besitzen. Die Studie zeigt somit nicht nur die Entwicklung Rossis vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse auf, sondern gibt auch Anlass zur Auseinandersetzung mit übergeordneten Fragestellungen, wie beispielsweise medialen Dispositiven der Architektur im späten 20. Jahrhundert. Auch die Eingrenzung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht - es wird zugunsten der Betrachtung herausragender politischer, theoretischer, architektur- und kunsthistorischer Bezüge auf eine vollständige Werkbetrachtung verzichtet, die Studie fokussiert die Jahre zwischen 1950 und 1980 - hat der Untersuchung neue Möglichkeiten eröffnet. Indem sich Ruhl noch dazu auf ein sehr umfangreiches, teils noch unveröffentlichtes Quellenmaterial stützt, gelingt ihm ein innovativer und überzeugender Einblick in das Werk Aldo Rossis.

Michaela Stoffels