Eckhard Frick / Angelika Nollert / Andreas Volkenandt u.a. (Hgg.): Kirchenbauten in der Gegenwart. Architektur zwischen Sakralität und sozialer Wirklichkeit, Regensburg: Friedrich Pustet 2011, 255 S., 104 Farb-, 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-7917-2209-2, EUR 39,90
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Untersuchungen zum Kirchenbau gerade auch der Gegenwart, zu dessen bau- und stilgeschichtlicher Entwicklung und seiner religiösen Funktion bilden seit langem einen Schwerpunkt der kunsthistorischen und theologischen Forschung. Während der Kirchenbau bis in die 1920er-Jahre hinein noch überwiegend als symbolischer Ausdruck der jeweiligen Zeit und ihrer traditionell-christlichen Fundamente gedeutet wurde, rückten in den ersten Jahrzehnten nach 1945, verstärkt seit Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, insbesondere die fachlichen Aspekte herausragender Kirchenbauten in den Mittelpunkt der Analyse. Hierbei näherte man sich bereits frühzeitig der Frage nach den gesellschaftspolitischen und liturgisch-architektonischen Spannungsverhältnissen im modernen Kirchenraum an. Die im Zuge der kulturwissenschaftlichen Wende jüngst erscheinenden Untersuchungen unterstreichen zusätzlich die individuellen Wahrnehmungen und den vielseitigen praktischen Gebrauch von Sakralräumen. Damit erscheint der gegenwärtige Kirchenbau nicht mehr weiter ausschließlich als Ort, der durch die Art und Weise seiner liturgischen Versammlung definiert wird. Sakrales und Profanes gelten als grundsätzlich vermittelbar. Somit wird auch die ganzheitliche Bedeutung der Kirchenbauten für den Menschen betont.
Trotz dieser Horizonterweiterung werden die zeitgenössischen Kirchengebäude - beispielsweise in der Debatte über die Umnutzung von Sakralräumen - weiterhin überwiegend aus einer funktionalen Perspektive betrachtet. Diese geht davon aus, Kirchen hätten ausschließlich einen theologisch definierten Auftrag. Sei dieser nicht mehr gewahrt, müsse ein bestimmtes Umnutzungskonzept greifen. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die vorliegende Studie die (Um-)Nutzung von Kirchenbauten in einen umfassenden, interdisziplinären Kontext stellt. Es geht vor allem darum, zu untersuchen, ob, und wenn ja, wie sich das Sakrale sowie die vielfältige soziale Wirklichkeit unserer Zeit im kirchlichen Raum verschränken. Dabei rückt auch die Frage der individuellen Wahrnehmung von Kirchenbauten weiter in den Mittelpunkt. Möglich wird so eine deutliche Ausweitung des Fragehorizonts: Warum schaffen wir heute noch kirchliche Räume - was bedeuten sie uns? Oder anders gefragt: Wie könnte es gelingen, sie zwischen Sakralität und gesellschaftlicher Realität weiterzubauen? Allerdings verzichten die Herausgeber hierbei darauf, den vielschichtigen Begriff der "Sakralität" sowie der "sozialen Wirklichkeit" näher zu erläutern, was die inhaltliche Stringenz der Beiträge sowie der Kapitel insgesamt teilweise beeinträchtigt. Ein erläuterndes Vor- oder ein ausführliches Nachwort hätten dem Band an dieser Stelle gut getan.
Der Leitgedanke des ersten Kapitels "Kirche - Gebaute Spiritualität" lautet, dass das Sakrale und das Profane im Kirchenbau - auch historisch betrachtet - keinesfalls einen Gegensatz bilden, sondern vielmehr permanent vermittelt werden, wobei allerdings stets eine graduelle Differenz zur diesseitigen Welt zutage tritt. Grundlegend für die folgenden Untersuchungen ist der Beitrag von Eckhard Frick, der Kirchen als spirituelle Räume auffasst, die durch ihre Besucher spielerisch entdeckt und verändert werden. Dabei verwendet er insbesondere den Begriff der "Heterotopie" (Michel Foucault), um deutlich zu machen, dass es sich bei Kirchen um Räume handelt, die einerseits "unsere Kultur reflektieren" (42), andererseits aber auch "über sie hinausweisen" (ebd.). Inwieweit diese Begriffswahl angesichts der Krise der "Disziplinargesellschaft" (Michel Foucault), die längst in eine "Kontrollgesellschaft" (Gilles Deleuze) umzuschlagen droht, noch adäquat ist, sei dahingestellt. Gleichwohl beschreibt der Beitrag äusserst prägnant die teilweise Funktionsfreiheit von Kirchenräumen, die nach dem Autor darauf basiert, dass ihr Zweck durch die Wahrnehmungen und Handlungen der sich in ihnen bewegenden leiblichen Subjekte mitbestimmt wird. Das Spektrum der weiteren Aufsätze reicht von einer konfessions- und epochenübergreifenden Beschreibung des Wechselverhältnisses von Sakral und Profan im Kirchenraum (Carola Jäggi), sowie den diesbezüglichen protestantischen Debatten des 19. Jahrhunderts (Hanns Christof Brennecke), bis hin zu der Frage, wie sich der heutige Besucher die Nachkriegskirchen aneignen könnte (Rut-Maria Gollan).
In den folgenden beiden Kapiteln kommen mit den Architekten Rudolf Schwarz und Maria Schwarz zwei herausragende Vertreter des modernen Kirchenbaus zu Wort. Es schließen sich Kurzbeschreibungen mit umfassendem Bildmaterial zu 23 teils neugebauten, teils umgenutzten Kirchenbauten an. Das vierte Kapitel "Kirche - räumlicher Repräsentant sozialer Wirklichkeit?" legt den Schwerpunkt der Untersuchung dann auf die Frage, welche gesellschaftliche Bedeutung Kirchenbauten heute zukommen. Dies ist deshalb zentral, weil die Wahrnehmung von Kirche und ihren Räumen insgesamt wohl stärker sozial als körperlich-physiologisch bedingt ist. Dabei macht die Mehrzahl der Analysen deutlich, dass die (Er-)Findung angemessener Formen für den Kirchenbau heute zwar dringend notwendig, aus (stadt-)soziologischer Sicht allerdings nicht einfach zu lösen ist. Diese These steht insbesondere im Fokus des Beitrags von Michael Hirsch, der die zeitgenössische Kirche als "unrepräsentierbare Gemeinschaft" (Giorgio Agamben) bezeichnet, somit als religiös-plurales Gebilde, das sich einem Alleinvertretungsanspruch immer mehr entzieht (153) und somit zugleich auch einer repräsentativen Selbstdarstellung verweigert (155, 157). Gesucht wird deshalb nach einer "Ästhetik der Unscheinbarkeit auf der Höhe der Zeit, eines Ästhetik des guten Gebrauchs, welches das schon Vorhandene klug zu nutzen weiß" (157). Ähnlich argumentiert auch Dieter Hoffmann-Axthelm in seinem stadtsoziologischen Beitrag. Er schlägt vor, der stadträumlichen Marginalisierung der Kirchen insbesondere durch eine "nachmoderne Gebäudefrömmigkeit" (173) zu begegnen, bei der es um "Rücknahme", um "unterlassene Affirmation" geht, welche den "Benutzern Raum gibt und sie zu sich kommen lässt" (ebd.). Für Marc Redepenning und Benno Werlen liegt die heutige Bedeutung des Kirchenraums, so zeigt ihr raumtheoretischer Beitrag, dagegen überwiegend in den sich in ihm vollziehenden sozialen Praktiken, also in der Ermöglichung neuer Formen von gemeinschaftlicher Erfahrung und Kreativität (164).
Mit den Fragen der Umnutzung von Kirchenbauten steht im fünften Kapitel dann ein komplexes Thema im Mittelpunkt, das von unterschiedlichen Seiten aus beleuchtet wird. Stefanie Duttweiler gelingt es, die Diskurse zwischen Kirchen und Politik rund um das Umnutzungsthema eingehend zu beleuchten. Dabei wird insbesondere deutlich, dass bei der Umwidmung von Kirchengebäuden "nicht nur kulturelle und biografische [...], sondern auch Fragen der Zukunft der europäischen Kultur verhandelt werden" (190). Dagegen widmen sich drei der insgesamt acht Beiträge des Kapitels (Sven Sabary, Max-Josef Schuster, Matthias Ludwig) überwiegend ökonomisch-organisatorischen Fragen der Kirchenumnutzung. Erst die vergleichenden niederländisch-deutschen Betrachtungen von Eva Schäfer und der Beitrag von Rut-Maria Gollan und Eckhard Frick machen wiederum ein wichtiges Desiderat deutlich: Die systematische historisch-soziologische Auswertung bisheriger Umnutzungen, die den Blick für die Zukunft wesentlich schärfen könnte. Der Band endet mit kurzen Statements herausragender Personen des öffentlichen Lebens, was die Bedeutung der individuellen Wahrnehmung für die Debatte um den zeitgenössischen Kirchenbau nochmals unterstreicht.
Insgesamt hinterlässt die Publikation den Eindruck, dass es sich beim Kirchenbau der Gegenwart um eine vielschichtige, spannende und zugleich spannungsgeladene Materie handelt, der in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Tage leider zu wenig Beachtung geschenkt wird. Erst im intensiven Bemühen um diese Gesellschaft wird sich allerdings das Überleben der Kirchenbauten entscheiden.
Michaela Stoffels