Daniel Bauerfeld / Lukas Clemens (Hgg.): Gesellschaftliche Umbrüche und religiöse Netzwerke. Analysen von der Antike bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript 2014, 277 S., ISBN 978-3-8376-2595-0, EUR 33,99
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Der Eintritt der deutschen Geschichtswissenschaft in das digitale Zeitalter vollzieht sich gegenwärtig als ein widerspruchsvoller Prozess. Bei allen Bekenntnissen zu den digital humanities fällt es Historikern doch schwer, das Potential der modernen Informationstechnologien auch auszuschöpfen. Als analytisches Forschungswerkzeug wird der Computer in unserem Fach bisher nur selten genutzt oder gar beargwöhnt. Gerade indem etwa die neuere deutsche Mediävistik einen Schwenk zur Kulturgeschichte und zur Geschichte von Symbolwelten vollzogen hat, hat sie sich dem quantifizierenden Paradigma der digitalen Welt so weit wie nur möglich entzogen. Vielleicht kann man dies als einen unbewussten Fluchtreflex deuten. Doch gibt es andererseits durchaus ein reges Interesse, den Graben zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen zu überwinden.
Ein Indiz für dieses Interesse ist die zunehmende Beschäftigung von Historikern mit der Netzwerktheorie. Außer Betracht bleiben kann hierbei die Nutzung des Netzwerkbegriffs als bloßer Metapher. Vielmehr geht es um die Anwendung eines von der Soziologie übernommenen Theorien- und Methodengebäudes auf historische Gegenstände bzw. Quellen. Hier erschließt sie dem Computer ganz neue Wirkungsbereiche, denn ohne Datenbanken, mathematische Analysetools und graphische Visualisierungen ist diese Arbeit gar nicht zu denken. Freilich steckt die historische Netzwerkforschung noch ziemlich in den Kinderschuhen. Es geht zuerst einmal darum, Anwendungsmöglichkeiten und Erklärungsnutzen der neuen Methodik auszuloten.[1]
In diesen Trend ordnet sich der hier zu rezensierende Sammelband ein, der auf eine Tagung des Trier/Mainzer Forschungsclusters "Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke" zurückgeht. Es geht in diesem Buch keineswegs nur um abstrakte Methodenfragen, sondern um historische Forschung quer durch die Epochen. Dabei zieht sich durch alle zehn Beiträge die Grundfrage, wie religiöse Differenz und damit verbundenes (im weitesten Sinne) politisches Handeln mit konkreten personalen Verflechtungsstrukturen in Beziehung gesetzt werden können. Ein solcher Ansatz ist keineswegs neu. Die Reflexion darüber kann aber mittels der Instrumente der Netzwerkanalyse auf ein höheres Niveau gehoben werden. Auch wenn dies in den einzelnen Beiträgen nicht immer gleich gut gelingt, überzeugt das Resultat im Ganzen wie in allen seinen Teilen durchaus.
Mehrere Aufsätze widmen sich der Durchsetzung des Christentums in der spätantik-römischen Welt. Vorgestellt werden Beziehungsnetzwerke des heidnischen Senators Q. Aurelius Symmachus (Markus Sydow) sowie der christlichen Protagonisten Hieronymus und Paulinus von Nola (Marcello Ghetta), wie sie v.a. anhand von Briefen rekonstruiert werden können. Diese Netze weisen jeweils mehr als ein halbes hundert Akteure auf. Allerdings ist deren graphisch gut veranschaulichte Verflechtungsstruktur offensichtlich sehr stark durch die Quellenlage geprägt, etwa wenn im Korrespondenznetzwerk der beiden genannten Bischöfe die Querstreben weitgehend fehlen. Dies schränkt die Interpretationsmöglichkeiten ein. Wolfgang Spickermann verzichtet in seinem Beitrag über das Verhältnis von Arianern und Katholiken im vandalischen Nordafrika gänzlich auf netzwerkanalytische Instrumente. In sehr fruchtbarer Weise ist die neue Methodik hingegen in dem Aufsatz von Christian Nitschke über "Netzwerkmanagement im Ostgotenreich" umgesetzt. So zeigt er sich nicht nur innovativ bei der Erschließung von Quellen, um Verflechtungen des senatorischen Adels im ostgotischen Italien zu rekonstruieren, sondern er wagt sich auch an eine regelrechte mathematische Analyse seines Netzwerkmodells. Dies wirft neues Licht auf die Stellung des Theoderich-Vertrauten Boethius und auf die Hintergründe jenes Prozesses, dem er später zum Opfer fiel. Hier zeigt sich, was Netzwerkanalyse in der Geschichtsforschung leisten kann: Mit ihrer Hilfe lassen sich z.T. durchaus anregende, gar weitreichende Hypothesen generieren und sinnvoll begründen, die aber selbstverständlich anschließend der weiteren Prüfung im Rahmen der fachwissenschaftlichen Diskussion bedürfen.
Ein weiteres "Highlight" des Bandes ist der folgende Aufsatz von Richard Engl über "Das Ende muslimischen Lebens im mittelalterlichen Süditalien". Engl skizziert ein netzwerkanalytisches Erklärungsmodell, in welchem er die Beziehungen zwischen dem Königshof in Neapel und den in der muslimische Kolonie Lucera einflussreichen Akteuren beider Religionen in ihrer dynamischen Entwicklung zwischen 1272 und 1300 aufzeigt. Hierbei kommen sowohl graphische Visualisierungen als auch mathematische Methoden zum Einsatz. So kann er zeigen, dass der Aufstieg eines einzelnen muslimischen Akteurs in eine dominante Position und aufkommender Widerstand gegen diesen Akteur seitens der Muslime den König schließlich zum Handeln zwangen, welches in der Konsequenz - ganz gegen die ursprüngliche Intention des Herrschers - zur gewaltsamen Auflösung der Kolonie führte.
Weitere Aufsätze widmen sich den Netzwerken von Ketzern in Montaillou (Yannick Pouivet / Benno Schulz), von katholischen Verschwörern im Gunpowder Plot (Johannes Dillinger) sowie den in einer spätmittelalterlichen Judenverfolgungswelle wirksam werdenden Kommunikationsnetzwerken (Kathrin Geldermans-Jörg). Hier beschränkt sich der netzwerkanalytische Anteil vor allem auf die Nutzung digitaler Visualisierungsmöglichkeiten, welche ihre Brauchbarkeit zumindest (und das ist angesichts komplexer Zusammenhänge keineswegs gering zu schätzen) in darstellerisch-didaktischer Hinsicht beweisen. Ganz ohne spezifisch netzwerkanalytischen Methodengebrauch kommt der Aufsatz von Ricarda Matheus über katholische Konversationsagenten im 17. Jahrhundert aus - hier ist es v.a. die Kraft der verbalen Beschreibung, die überzeugt. Eine soziologische, klassisch-statistisch argumentierende Studie über moderne Pilger (Markus Gamper / Julia Reuter) beschließt den Band.
Alles in allem beleuchtet der Sammelband - neben dem historischen Ertrag an sich - sehr gut die Chancen und Risiken des netzwerkanalytischen Erklärungsansatzes. Letztere betreffen zum einen die Quellenlage. Dass diese gleichwohl nicht als billiges "Totschlagargument" taugt, das zeigen verschiedene Beiträge, die das Problem der Datenerhebung und -interpretation elegant angehen, eindrucksvoll. Es kommt offenbar - und dies ist ein zweites Grundsatzproblem - wesentlich darauf an, wie gut sich fachhistorische und netzwerkanalytische Kompetenz beim Bearbeiter verbinden. Letztere hängt mit der Befähigung zu abstrakt-mathematischem Denken zusammen. Dieses stärker auszubilden, stellt eine künftige Herausforderung für die Geschichtswissenschaft dar, wenn sie in der digitalen Welt ankommen will. Es wäre zu wünschen, dass dieser durchaus steinige Weg in Trier/Mainz und anderswo weiter gegangen wird!
Anmerkung:
[1] Zum gegenwärtigen Stand der historischen Netzwerkforschung vgl. zuletzt den Forschungsaufriss von Eva Jullien, Netzwerkanalyse in der Mediävistik. Probleme und Perspektiven im Umgang mit mittelalterlichen Quellen, in: VSWG 100 (2013), 135-153.
Robert Gramsch