Rezension über:

François Cadilhon / Michel Figeac / Caroline Le Mao: La Correspondance et la construction des identités en Europe Centrale (1648-1848) (= Bibliothèque d'études de l'Europe Centrale; No. 15), Paris: Editions Honoré Champion 2013, 432 S., ISBN 978-2-7453-2634-8, EUR 70,00
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Rezension von:
Guido Braun
Deutsches Historisches Institut, Rom
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Guido Braun: Rezension von: François Cadilhon / Michel Figeac / Caroline Le Mao: La Correspondance et la construction des identités en Europe Centrale (1648-1848), Paris: Editions Honoré Champion 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/24803.html


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François Cadilhon / Michel Figeac / Caroline Le Mao: La Correspondance et la construction des identités en Europe Centrale (1648-1848)

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Forschungen zu Mitteleuropa können in der französischen Historiografie, namentlich seit Victor-Lucien Tapié und seinen Schülern, auf eine bedeutende Tradition zurückblicken. Zwar wirft der Begriff "Mitteleuropa" (Europe centrale) definitorische Probleme auf und ist durch bestimmte historische Konnotationen ideologisch vorbelastet, doch zeigen sich gerade im hier zu besprechenden Sammelband durchaus gemeinsame historische Grundzüge, die zu einer systematisch-vergleichenden Betrachtung der Länder dieses Raumes anregen. Doch wie konstituiert sich dieses "Mittel-" oder "Zentraleuropa" vom 17. bis 19. Jahrhundert in territorialer Hinsicht? Die Herausgeber des Bandes formulieren auf diese Frage keine explizite Antwort, aber aus dem thematischen Zuschnitt der Beiträge konturieren sich als Kerngebiete der Untersuchungen die östlichen Herrschaftsräume der Habsburgermonarchie, namentlich das von ihnen beherrschte Böhmen und Ungarn, Ostdeutschland sowie Polen heraus. Darüber hinaus gehören hierzu auf dem Balkan die europäischen Teile des Osmanischen Reiches, Siebenbürgen sowie später Rumänien, sodass der Leser doch bereits recht weit nach Südosteuropa geleitet wird. Auch die Österreichischen Niederlande werden (gewissermaßen als Vorposten der Habsburgermonarchie) berücksichtigt. Damit sind die geografischen Schwerpunkte des Bandes markiert, ein umfassendes Terrain "Mitteleuropa" zu vermessen, kann nicht Anspruch einer solchen Publikation sein.

Dennoch fällt auf, dass die theoretische Durchdringung des Konzepts sich auf knapp skizzierte Ansätze beschränkt. Die Stärken des Bandes liegen nicht auf konzeptionellem Gebiet, auch weil Spannungen aufgebaut werden, die dann nicht wirklich gelöst werden: so etwa hinsichtlich des Verhältnisses der weitgespannten Territorien der Habsburgermonarchie (die mit Untersuchungen zu solch unterschiedlichen Orten wie Brüssel und Triest vertreten sind) zu dieser "Europe centrale". Dahinter steckt selbstverständlich eine höchst problematische, aber im Kontext der Frage nach der Konstruktion von Identitäten, welche im Mittelpunkt des Bandes stehen, keineswegs zweitrangige Thematik. Angereichert wird diese Problematik zusätzlich durch verschiedene konkurrierende zeitgenössische Strukturierungen Europas, welche den mitteleuropäischen Raum teils bis nach Frankreich, teils bis Skandinavien hin erweitern. Die einleitenden Ausführungen von Michel Figeac und François Cadilhon sowie die konzise Schlussbetrachtung aus der Feder Géraud Poumarèdes vermögen dem dargebotenen Ensemble dennoch eine gewisse thematische Klammer zu verleihen. Auch bietet der erste Aufsatz von Martina Ono Grečenková über die Frage, ob es im 18. Jahrhundert eine "Europe centrale" überhaupt gegeben habe ("Une Europe centrale existait-elle au XVIIIe siècle?"), durchaus interessante Überlegungen dar, wenngleich eine programmatische Einführung, die man sich angesichts eines solchen Titels erwartet hätte, der zudem an der Spitze des Reigens der Beiträge steht, damit nicht gegeben wird.

Dennoch haben die Herausgeber ein durchaus gewichtiges Sammelwerk mit einer Reihe höchst lesenswerter Beiträge vorgelegt. 27 Aufsätze eines wahrhaft internationalen Autorenkreises werden darin vereint, welche die vielfältigen Facetten der behandelten Thematik deutlich werden lassen und überwiegend auf einer (im positiven Sinne) fundierten Quellenkenntnis basieren. Bei den neun Damen und 18 Herren handelt es sich zum Teil um ausgewiesene Editoren einschlägiger Quelleneditionen, zum Teil um intime Kenner der einschlägigen Archivüberlieferungen.

In den vier Sektionstiteln wird der Begriff "Identität" nur ein einziges Mal mit einem Attribut versehen, nämlich "national", und zwar im Plural (1. Teil: "Correspondances et construction des identités nationales"). Die Begriffe der "Nation" bzw. des "Nationalen" sind in den behandelten zwei Jahrhunderten von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mithin am Übergang von einem "protonationalen" Zeitalter zu einem Zeitalter der "Nationen", im Hinblick auf den untersuchten mitteleuropäischen Raum durchaus nicht unproblematisch, zugleich jedoch bei der Frage nach der Identitätskonstruktion unentbehrlich. Wenn auch in dieser Hinsicht auf eine systematische Thematisierung der terminologischen Problematik verzichtet wurde, verdeutlichen die analysierten Fallbeispiele gleichwohl durchaus sehr anschaulich die Komplexität der Konstruktionsprozesse nationaler Identitäten.

Allerdings beschränken sich die Beiträger trotz des Fehlens weiterer Epitheta in den einzelnen Sektionstiteln keineswegs auf "nationale" Aspekte von Identitätskonstruktion. Religiöse bzw. konfessionelle, soziale und kulturelle Identitätsbezüge werden daneben ebenso behandelt wie etwa Gender-Aspekte. Dadurch werden auch sich überlagernde bzw. konkurrierende Identitäten deutlich.

Ohne einen übergreifenden, systematisch-komparatistischen Ansatz zu verfolgen, werden durch die Beiträge schließlich durchaus Gemeinsamkeiten der historischen Identitätskonstruktion in den Kerngebieten des untersuchten "Mitteleuropa" herausgearbeitet, ferner Parallelen (aber selbstverständlich auch Spezifika) bei der Entwicklung in einzelnen Ländern.

Die berücksichtigten Korrespondenzen, deren Bedeutung für die Identitätskonstruktion dem Titel gemäß im Mittelpunkt des Bandes steht, eröffnen ein weitgespanntes Panorama: Sie reichen von Familienkorrespondenzen und Gelehrtenbriefen über diplomatische Akten bis hin zu Verwaltungsschriftgut. Nicht zuletzt in der Demonstration des Reichtums an einschlägigen Erkenntnissen, die auch aus solch "trockenen" Akten wie den diplomatischen Korrespondenzen hinsichtlich von Prozessen der Identitätskonstruktion zu gewinnen sind, besteht einer der bemerkenswerten Vorzüge dieses Buches.

Obwohl mit den Daten 1648 und 1848 im Buchtitel konkrete chronologische Grenzen gezogen und diese Jahreszahlen in der Einleitung mit der Bezugnahme auf den Westfälischen Frieden und den sich im Umfeld der revolutionären Bewegungen von 1848 kristallisierenden "Frühling der Völker" untermauert werden, sind damit keine absoluten Marken gesetzt. Das 17. Jahrhundert findet ohnedies nur in wenigen Beiträgen Beachtung, wobei dann allerdings auch bis in die 1630er-Jahre zurückgegriffen wird. Der Westfälische Frieden spielt hier letztlich fast gar keine Rolle. Im Gegenzug greifen die Beiträge zum 19. Jahrhundert durchaus auch bis in dessen zweite Hälfte aus. Einen auffälligen chronologischen Schwerpunkt bildet die Zeit von Franz II. Rákóczi (1676-1735), dessen Biografie, Politik und siebenbürgisch-ungarischem Freiheitskampf gegen die Habsburgerherrschaft (1703-1711) gleich fünf Aufsätze gewidmet sind.

Die gesamte Sektion zu Diplomatie, Korrespondenzen und Identitätskonstruktion, in der sich unter anderem diese fünf Beiträge finden, ist im Übrigen sehr stark auf die Beziehungen zu Frankreich fokussiert. Thematisch bedeutend breiter aufgestellt sind die weiteren Sektionen zur Wissenskonstruktion und zur Konstruktion des Individuums, wobei sich Letztere als komplexer Prozess erweist, für den die analysierten Korrespondenzen etwa die Bezüge auf Geschlecht, Familie, Stand, Beruf oder Herkunft / Nation als konstitutiv für oftmals multiple Identitäten ausmachen.

Zu den beachtenswerten Gemeinsamkeiten, die durch die Ergebnisse des Bandes illustriert werden, gehört die enge, gerade auch sprachliche Anbindung an Frankreich, die sich nicht in der allgemeinen, grundsätzlichen Zugehörigkeit zur "Europe française" im Sinne Marc Fumarolis erschöpfen dürfte, sondern zumindest zum Teil auch konkrete selbstvergewissernde Relevanz hat, nicht zuletzt selbstverständlich bei der Identitätskonstruktion der Rumänen als "romanisierten" Volks inmitten eines slawischen Umfeldes.

Guido Braun