Rezension über:

Frank Beer / Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hgg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Berlin: Metropol 2014, 656 S., ISBN 978-3-86331-149-0, EUR 29,90
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Rezension von:
Grzegorz Rossoliński-Liebe
Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Rezension von: Frank Beer / Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hgg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Berlin: Metropol 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 3 [15.03.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/03/26913.html


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Frank Beer / Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hgg.): Nach dem Untergang

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Im August 1944 gründete eine Gruppe von Shoah-Überlebenden in dem durch die sowjetische Armee befreiten Lublin die Zentrale Jüdische Historische Kommission (Centralna Żydowska Komisja Historyczna, CŻKH), um den immer noch laufenden und jeden Tag hunderte bis tausende Menschenleben fordernden Holocaust zu dokumentieren. Innerhalb weniger Jahre sammelten die Kommissionsmitglieder einige tausend Berichte, die heute für die Erforschung des Judenmordes in Osteuropa eine der wichtigsten Dokumentenkollektionen sind. Gleichzeitig gaben sie 39 Bücher und kleinere Schriften in jiddischer und polnischer Sprache heraus, bei denen es sich sowohl um Erinnerungsberichte und Tagebücher als auch die ersten analytischen Untersuchungen des Judenmordes handelt. Die CŻKH ging 1947 im Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny, ŻIH) auf; ein Teil ihrer Mitarbeiter wanderte aus. Einige wie Rachel Auerbach und Józef Kermisz gingen nach Israel, wo sie an der Gedenkstätte Yad Vashem arbeiteten. Andere wanderten in die USA aus, so etwa Filip Friedman, der dort an der Columbia University unterrichtete. Ein sehr tüchtiges und willensstarkes Mitglied, Joseph Wulf, siedelte nach Berlin-Charlottenburg über, wo seine Studien trotz oder gerade wegen ihres pionierhaften Charakters und der geschichtswissenschaftlichen Weitsichtigkeit bei vielen deutschen Zeithistorikern und Intellektuellen auf Ablehnung stießen und von einigen, besonders jenen mit einem NS-Hintergrund, abgewertet wurden. Der hier rezensierte Sammelband präsentiert zwölf Veröffentlichungen und Dokumente der CŻKH. Alle werden zum ersten Mal auf Deutsch publiziert. In ihren informativen Einführungen besprechen Wolfgang Benz und Frank Beer den Kontext der Entstehung dieser Arbeiten, geben kurze Biographien ihrer Autoren an und weisen auf den späteren Umgang mit dem Nachlass der CŻKH hin.

Der erste präsentierte Text - eine 38 Seiten lange, analytische Broschüre über den Judenmord in Lemberg - wurde 1945 von Filip Friedman, dem ersten Direktor der CŻKH geschrieben. Friedman studierte vor dem Zweiten Weltkrieg Geschichte an der Universität Wien, arbeitete bis 1939 als Lehrer in Łódź, Wilna und Warschau und überlebte den Holocaust in der galizischen Hauptstadt. In seinem Text macht er klar, auf welche Dokumente er sich stützt, welche vernichtet wurden bzw. verschollen sind und was er deshalb behaupten oder nicht wissen kann. Seine Darstellung entspricht in mehrerer Hinsicht dem heutigen Stand der Forschung über die Shoah in Lemberg. Anders als spätere Nationalsozialismusforscher marginalisiert Friedman nicht die Beteiligung von lokalen, nicht-deutschen Tätern am Holocaust, weil er sie selbst erlebte, von anderen auf sie hingewiesen wurde und kein politisches oder ideologisches Motiv hatte, um sie in seiner analytischen Darstellung auszuschließen.

Der polnisch-jüdische Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker Michał Maksymilian Borwicz beschreibt in "Die Universität der Mörder" das Schicksal der Häftlinge im Janowska-Lager in Lemberg. Seine anschauliche Darstellung des Alltags enthält mehrere wichtige Informationen und Details, die nur ein scharfsinniger Beobachter, der selbst Häftling in diesem Lager war, wahrnehmen und überliefern konnte. Szymon Datner, der im Ghetto von Białystok war und dort seine Familie verlor, stellte im Dezember 1945 dar, wie die Juden in diesem Ghetto lebten, Widerstand leisteten und ermordet wurden. Róża Bauminger publizierte 1946 einen Text über das Leben der Häftlinge in dem Zwangsarbeitslager Skarżysko-Kamienna, in dem Munition für die deutschen Truppen hergestellt wurde. Der 1937 an der Universität Warschau promovierte Historiker Józef Kermisz publizierte 1946 eine wichtige Studie über den Aufstand im Warschauer Ghetto. Im Gegensatz zu vielen anderen Mitgliedern der CŻKH, die den deutschen Dokumenten nicht trauten, bezog er in die Analyse den von Jürgen Stroop hinterlassenen Bericht über die Niederschlagung des Aufstandes in dem Ghetto ein.

Gerszon Taffet lieferte 1946 eine nüchterne Beschreibung des Schicksals der Juden in dem galizischen Städtchen Żółkiew, in dessen Ghetto er unterrichtete und wo er seine Familie verlor. Als Quellen dienten ihm seine eigenen Erinnerungen sowie die Aussagen anderer Überlebender. Ähnlich wie Friedman wies er auf die wichtige Rolle der ukrainischen Nationalisten beim Judenmord in der Westukraine hin. Ber Ryczywółs "Wie ich die Deutschen überlebte" ist ein von Bluma Wasser in dem Warschauer Dialekt des Jiddischen aufgenommener Bericht eines alten Mannes, der die deutsche Besatzung überlebte, indem er sich als polnischer Bettler ausgab und von Dorf zu Dorf wanderte. Rachel Auerbach beschreibt das Lager Treblinka und ihre Eindrücke beim Besuch des Lagergeländes kurz nach dem Krieg, das von nach Schätzen suchenden Polen durchgewühlt wurde. Der Bericht vermittelt sowohl faktische Informationen über die von Auerbach recherchierten und in diesem Lager angewendeten Massenvernichtungsmethoden als auch über Gefühle von Überlebenden, die der Desakralisierung dieses Ortes nach seiner Befreiung zuschauen mussten.

Mendel Balberyszskis Bericht verschafft Einblicke in das Leben von Juden, die in Litauen und Estland die deutsche Besatzung zu überleben versuchten. Lejb Zylberberg überliefert, wie Juden aus dem Schtetl Klimontów in der Wojewodschaft Kielce vernichtet wurden. Der von Abraham Krzepicki Anfang 1943 im Ghetto Warschau verfasste Bericht ist die erste Überlieferung eines Treblinka-Häftlings. Krzepicki verbrachte in dem Lager achtzehn Tage und lieferte authentische und sehr erschreckende Meldungen. Einen ähnlichen Bericht brachte im Juli 1945 Berek Freiberg zu Protokoll, der mit 14 Jahren in das Lager Sobibór eingeliefert wurde und es angesichts seines gesundheitlichen Zustandes nur durch ein Wunder überlebte. Sein Bericht trägt die Signatur 302/17 und ist eins von über 7000 ähnlichen Dokumenten, die im Archiv des ŻIH zugänglich sind.

Der Band präsentiert eine interessante Auswahl von Texten, von denen die meisten bis jetzt nur auf Jiddisch, Polnisch oder Englisch vorlagen. Ihre Lektüre zeigt, was die Mitglieder der CŻKH durchgemacht hatten und warum sie es wichtig fanden, den Judenmord zu protokollieren. Die gesammelten Berichte und verfassten Arbeiten haben für die Holocaust-Forschung einen hohen Wert. Sie gewähren Einblicke in mehrere zentrale Aspekte der Shoah wie die nicht-deutsche Mittäterschaft, die materielle Seite des Überlebens oder die Wahrnehmung der Besatzung und der Judenräte. Studien, die diese Berichte ausgelassen haben, haben den Holocaust seiner Komplexität enthoben und konnten die Vergangenheit nur fragmentarisch rekonstruieren, selbst wenn sie anders rezipiert wurden.

Grzegorz Rossoliński-Liebe