Michael Schneider: In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939 bis 1945 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; Bd. 13), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2014, 1509 S., 66 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-5038-6, EUR 98,00
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Michael Schneider, der von 1999 bis 2009 das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung geleitet hat, beendet mit dem hier zu besprechenden Buch sein zweibändiges "opus magnum", welches auf nun insgesamt etwa 2.700 Seiten die Geschichte von Arbeitern und Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus darstellt und analysiert. Im ersten, 1999 erschienenen Band, hatte er auf 1.200 Seiten die Vorkriegszeit untersucht. [1] Dabei konnte er sich im weit stärkeren Maße als jetzt auf existierende Forschungsliteratur stützen, denn die Fragen, warum die Arbeiter und die Arbeiterbewegung sich 1933 nicht massiver gegen den Nationalsozialismus gewehrt hatten und mit welchen Mitteln das Regime versuchte, sie in die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft" einzugliedern, wurden lange Jahre heiß diskutiert. [2] Verglichen hiermit blieb das Interesse am Handeln der Arbeiter im Zweiten Weltkrieg bis heute gering [3], wodurch Schneiders zweiter Band eine deutlich größere Lücke füllt als sein erster.
In der Begriffsnutzung und dem methodischen Zugriff bleibt Schneider dem ersten Band weitgehend treu. Es wird ein weiter Arbeiter-Begriff gewählt, der weibliche Arbeitskräfte, Landarbeiter, Tagelöhner etc. miteinschließt. Der Zugriff ist in erster Linie ein sozialgeschichtlicher, der allerdings um politik- und alltagsgeschichtliche Methoden ergänzt wird. Bereits in der Einleitung wird dabei deutlich, dass Schneider äußerst belesen ist und in der Tendenz eher enzyklopädisch bis allumfassend vorgeht anstatt Fragestellungen zuzuspitzen und prägnante Thesen in den Mittelpunkt zu stellen. So werden etwa im Abschnitt "Kontroversen" fast alle jemals zum Nationalsozialismus geführten Debatten aufgeführt und für den Band als bedeutsam herausgestellt.
Das Buch ist in drei Hauptkapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert. Der erste Teil behandelt die Einbindung der Arbeiterschaft in den Krieg, der zweite Abschnitt das Alltagsleben der Arbeiter und der letzte Teil Widerstand in Exil und Illegalität. Die Problematik des enzyklopädischen Vorgehens zeigt sich sehr deutlich im ersten Unterkapitel des ersten Kapitels, in dem die Rolle der Arbeiter in der Wehrmacht auf mehr als achtzig Seiten untersucht wird. Auf der Mehrzahl der Seiten erfährt der Leser jedoch nichts über die Spezifik des Verhaltens von Arbeitern sondern erhält einen informierten Ablauf des Kriegsgeschehens dargeboten, wie man ihn in vielen anderen Publikationen lesen kann. Letztlich kann Schneider vor allem zeigen, dass Arbeiter oft mehr als 50 % der Soldaten einer Einheit stellten und ihr Anteil an den Teilnehmern von Offizierslehrgängen zwar gegenüber der Vorkriegszeit langsam anstieg, aber Arbeiter bis Kriegsende erheblich unterrepräsentiert blieben. Schneider vermag insgesamt kein spezifisches Verhalten der Arbeiter in der Wehrmacht zu erkennen, auch aufgrund nur weniger zur Verfügung stehender Quellen, und folgt deswegen in der Tendenz den alliierten Auswertungen, in denen kein schichtspezifisches Kampfverhalten ausgemacht wurde. Die letzteren Ergebnisse und Einschätzungen sind für den Band sicherlich bedeutsam; sie hätten allerdings ohne allzu großen Verlust auch auf zehn Seiten präsentiert werden können. Rechtfertigen lässt sich die Länge nur, wenn man davon ausginge, dass ein breiteres und wenig vorgebildetes Publikum das Buch läse, doch angesichts eines Preises von fast 100 Euro und einer Länge von 1.500 Seiten dürfte dies eher nicht zu erwarten sein.
Ähnliche Probleme prägen auch die anderen fünf Unterkapitel des 1. Teiles. Ob es um Arbeitseinsatz, Erziehung, Sozialpolitik oder Terror geht, Schneider analysiert das Thema zumeist in toto und die Frage nach der Spezifik hinsichtlich der Arbeiterschaft wird nur an einzelnen Stellen ausgeführt. Dies hat Nachteile für eine stringente Argumentation. Der Vorteil ist gleichzeitig, dass Schneider damit einen aktuellen und informierten Überblick zu vielen Fragen der Gesellschaftsgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands im Krieg gibt und das Buch so als gutes Nachschlagwerk hilfreich sein kann.
Die beiden folgenden Teile des Buches sind dagegen deutlich mehr auf Arbeiter und Arbeiterbewegung zugeschnitten, was zu einem stärkeren roten Faden beiträgt. Der 2. Teil ist überschrieben mit "Arbeiterleben im Krieg" und untersucht die Bereiche Betrieb, Haushalt, Freizeit und Stimmung. Sie sind von deutlich größerer Bedeutung für die Forschung, weil Schneider hier Überblicke zu Themen vorlegt, für die es im Gegensatz zum ersten Teil keine vergleichbaren, publizierten Texte gibt. Hinsichtlich des Betriebs-Bereichs muss Schneider konstatieren, dass stichhaltige Ergebnisse bisher vor allem zu den Großbetrieben vorliegen. Hier zeigt sich, dass die propagierte Betriebsgemeinschaft durch hohe Fluktuation, den zunehmenden Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter sowie strikte Hierarchien mit der Realität wenig zu tun hatte und stattdessen die Vereinzelung der Arbeiter zunahm. Beendet wird der zweite Teil durch eine umfassende Erörterung, inwieweit der "Volksgemeinschafts"-Begriff sinnvoll für die Beschreibung des Verhaltens der Arbeiterschaft im Krieg ist. Schneider kommt hier zu dem Ergebnis, dass "Volksgemeinschaft" bei den Arbeitern als Verheißung durchaus funktionierte und im Anschluss an Alf Lüdtke stellt er fest, dass die Mehrzahl der Arbeiter sich im Zweifelsfall immer für das "Mitmachen" entschied. Gleichzeitig betont er aber, dass dies nicht den Blick auf den auch im Krieg vorhandenen Terror gegenüber den Arbeitern sowie die nach wie vor bestehende Klassengesellschaft verstellen sollte. So kommt er zum Schluss: "Von daher gehören 'gefühlte Volksgemeinschaft' und 'verschleierte Klassengesellschaft' zusammen wie zwei Seiten ein und derselben Medaille." (893)
Der dritte Teil untersucht das Handeln von Arbeitern und Arbeiterbewegung im Exil sowie deren Widerstand im Reich. Schneider kann dabei zeigen, dass Arbeiter, wenn es um die Verurteilung politischer Opposition ging, deutlich überrepräsentiert waren und es vielerorts immer wieder Dissens gegen Maßnahmen des NS-Staates wie auch gegen diesen als Ganzes gab. Nichtsdestoweniger war dieser Widerstand vermutlich in keiner größeren Stadt auch nur unter den Arbeitern mehrheitsfähig, und Hitler und die Nationalsozialisten konnten sich auch unter den Arbeitern bis in die letzten Kriegsmonate hinein hoher Zustimmung erfreuen. Schneider ist aber zuzustimmen, dass Ian Kershaws Formel vom "Widerstand ohne Volk" [4] aufgrund des durchaus verbreiteten Dissenses und immer wieder aufflammenden Widerstandshandlungen zu einseitig ist. Ebenso überzeugend fällt seine Kritik an der von Julia Angster aufgestellten These von der Westernisierung der Arbeiterbewegung durch die Remigranten und die Einflüsse der angloamerikanischen und skandinavischen Arbeiterbewegung aus. [5] Schneider stellt klar, dass die Vorstellungen von Remigranten und Daheimgebliebenen sich nur wenig unterschieden und vor allem die aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogenen Lehren zentral für die Programmatik von SPD und DGB waren.
Ein generelles Monitum sei noch vermerkt: Im Band werden eine größere Zahl von Fotos abgedruckt. Diese werden jedoch rein illustrativ verwendet und häufig wird noch die Originalbildunterschrift aus der NS-Zeit unkommentiert angefügt. Dabei sprechen doch Fotos keineswegs für sich, sondern bedürfen wie alle Quellen der Analyse und Einbettung, weswegen der unkommentierte Abdruck wenig sinnvoll erscheint.
Insgesamt wird Michael Schneiders Buch sicher auf absehbare Zeit das Standardwerk zur Geschichte von Arbeitern und Arbeiterbewegung in Deutschland im Krieg bleiben. Auch wenn an mancher Stelle eine stärkere Zuspitzung wünschenswert gewesen wäre, so ist doch positiv hervorzuheben, dass der Autor große Literaturmengen souverän beherrscht und zusammenführt. Dem Buch wäre eine breite Leserschaft zu wünschen, allein Preis und Umfang dürften dies verhindern. Von daher sollten sich Autor und Verlag überlegen, ob sie nicht den aus meiner Sicht zentralen zweiten Teil des Buches separat und günstig als Taschenbuchausgabe einem breiteren Publikum zugänglich machen könnten.
Anmerkungen:
[1] Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999.
[2] Als wenige Beispiele: Timothy W. Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialen zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975; Günter Morsch: Arbeit und Brot. Studien zu Lage, Stimmung, Einstellung und Verhalten der deutschen Arbeiterschaft 1933-1936/37, Frankfurt a.M. 1993; Rainer Eckert: Arbeiter in der preußischen Provinz. Rheinprovinz, Schlesien und Pommern 1933 bis 1939 im Vergleich, Frankfurt am Main 1997; Alf Lüdtke: Wo blieb die "rote Glut"? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschismus, in: Ders. (Hg.): Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, 221-282.
[3] Die einzige Monographie, die umfassend versucht das Verhalten der Arbeiter im Reichsgebiet im Krieg zu erörtern, ist: Wolfgang Franz Werner: "Bleib übrig". Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Düsseldorf 1982. Daneben am bedeutendsten: Rüdiger Hachtmann: Industriearbeit im "Dritten Reich". Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933-1945, Göttingen 1989; Francis L. Carsten: Widerstand gegen Hitler. Die deutschen Arbeiter und die Nazis, Frankfurt am Main 1996.
[4] Ian Kershaw: "Widerstand ohne Volk". Dissens und Widerstand im Dritten Reich, in: Jürgen Schmädeke / Peter Steinbach (Hgg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. München 1986, 779-798.
[5] Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB von 1940 bis 1965, München 2003.
Marc Buggeln