Marie Bouhaïk-Gironès / Marie Anne Polo de Beaulieu: Prédication et performance. du XIIe au XVIe siècle (= Recontres; No. 65), Paris: Classiques Garnier 2013, 329 S., ISBN 978-2-8124-1241-7, EUR 39,00
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Der "performative turn" ist zwar schon etwas in die Jahre gekommen und die diesbezügliche Publikationsflut der 90-er Jahre wieder auf ein normalverträgliches Maß zurückgeführt - gleichwohl bleiben Forschungsdesiderate, deren Bearbeitung weiterhin lohnt. Nun ist es nicht so, dass der vorliegende Sammelband - dokumentiert werden die Vorträge, die auf einer im Juni 2011 abgehaltenen Tagung in der Fondation Singer-Polignac gehalten wurden - mit seiner Fokussierung auf die enge Verbindung, die zwischen Predigt und Theater besteht, völliges Neuland betritt. Natürlich wurden performative Aspekte des Predigtakts immer wieder behandelt - und doch blieb die methodische Herausforderung, etwas in Texte hineinlesen und -interpretieren zu müssen, was dort nur in den allerseltensten Fällen expressis verbis Ausdruck findet, bestehen: wie spricht der Prediger, wie führt er seine Stimme, welche Gesten werden verwendet? Der Erfolg von Predigt als Akt religiöser Unterweisung beruht unmittelbar auf dem wohlüberlegten Einsatz performativer Elemente durch den Prediger - ein Zuviel kann sich genauso katastrophal wie ein Zuwenig auswirken. In actu zählt das Wie fast ebenso stark wie das Was. Darauf wurde im Übrigen bereits in den mittelalterlichen Predigtlehren selbst hingewiesen, wo man die Notwendigkeit performativen Agierens zwar erkannte, gleichzeitig aber vehement vor Übertreibungen warnte. Wohl keiner fasste dies eindrücklicher zusammen als Alanus ab Insulis, der etwa rhythmisierende Elemente und Assonanzen innerhalb von Predigten verdammte und als praedicatio theatralis [...] et mimica diskreditierte. Hätte man sich in der Folge daran gehalten, wäre der Siegeszug des sermo modernus im späten Mittelalter überhaupt nicht möglich gewesen. Andere zeigten sich nachsichtiger.
Der Begriff "Performanz" ist im Deutschen ebenso mehrdeutig wie das französische "performance", in beiden Fällen gilt jedoch, dass man von wenigen Ausnahmen abgesehen nur noch die englische Basisbedeutung im Sinne einer öffentlichen Darbietung (hier: eines Textes) zugrunde legt. In vorliegendem Band findet jedoch noch eine weitere Bedeutungsebene Beachtung: Performanz bezeichnet nämlich auch das Ergebnis einer (sportlichen) Anstrengung. Spricht man in diesem Sinn von der "Performanz" eines Predigers, wird damit zum einen auf sein Talent, zum anderen auf die Mittel verwiesen, die seine pastoralen Anstrengungen zum Erfolg führen sollten.
In einem ersten, "La performance du prédicateur" überschriebenen Teil steht tatsächlich die Person des Predigers und somit die Inszenierung und Theatralisierung seiner Sermones im Mittelpunkt. Der zweite Teil, "Sermons, exempla et moralités", analysiert unterschiedliche Darstellungsformen unter dem Gesichtspunkt eines pädagogischen Umgangs mit der "parole sacrée". Insbesondere dem Bereich der Mysterienspiele mit den in den Handlungsablauf integrierten Predigten kommt dabei besondere Bedeutung zu. Leider nicht behandelt wird in diesem Zusammenhang der Beitrag der Bettelorden - insbesondere die Karmeliter scheinen im 15. Jahrhundert als fähige Organisatoren elaborierter Mysterienspiele hervorgetreten zu sein.
Alexis Charansonnet, der derzeit wohl beste Kenner von Leben und Werk Eudes de Châteauroux, [1] richtet zu Beginn den Blick auf den "vieux couple que forment historiographiquement théâtre et histoire de la religion" (20) und weist dabei auf die Bedeutung des Predigtkontexts, die Verortung im hic et nunc, und die "spectacularisation du discours" hin (Traces de mises en scène spectaculaires de la parole du prédicateur. Trois sermons d'Eudes de Châteauroux aux parisiens (années 1229 et 1230), 19-45). Anhand dreier Beispiele aus dem Predigtwerk werden Aspekte dieser "spectacularisation" näher beleuchtet und insbesondere Elementen von Mündlichkeit nachgegangen. Zwei Predigten wurden am 18. März 1229 in Paris gehalten: Eudes nahm darin - gegen Bischof, Kardinallegat und einen Großteil der öffentlichen Meinung - Stellung zugunsten der Studentenschaft. Diese Sermones sind vor dem Hintergrund des großen Universitätsstreiks von 1229 zu sehen, in dessen Folge Lehrer und Studenten zu großen Teilen aus Paris abwanderten. Die dritte, vom Autor mit guten Argumenten auf das Jahr 1236 datierte Predigt fordert die Zuhörer dazu auf, für ein Ende der sintflutartigen Regenfälle und schweren Überschwemmungen zu beten. Alle Predigten liegen in überarbeiteter Form vor - augenscheinlich war es dem inzwischen zum Kardinal kreierten Eudes 30 Jahre post festum ein dringendes Bedürfnis, sein umfangreiches Predigtcorpus zu sichten, zu ordnen und zu überarbeiten. Damit ist das methodische Dilemma benannt: welche performativen Marker bleiben im Prozess der Verschriftlichung und Überarbeitung erhalten? Das, was hier exemplarisch vorgeführt wird, findet sich mutatis mutandis auch in den anderen Beiträgen des Abschnitts - nirgendwo eindrucksvoller als in der Untersuchung von Valentina Berardini (Prédicateurs et acteurs. À la recherche d'indices de performance dans les sermons de la fin du Moyen Âge, 79-90), die Einblick in ihre 2011 abgeschlossene, leider noch nicht im Druck erschienene Dissertation gibt. [2] Die Aussagen der artes praedicandi werden hier am "lebenden Objekt", dem Predigtcorpus eines einzigen Predigers, Bernardinos von Siena (1380-1444), auf ihre Bedeutung hin untersucht. Historiographische Quellen belegen, dass die Predigtreisen Bernardinos wohl dem nahe kamen, was heute "happening" heißt. Der predigende Franziskaner spielte nicht nur virtuos auf der Klaviatur der sermocinatio, indem er Fragen und Einwürfe seiner Zuhörerschaft selbst formulierte, sondern verwendete aussagekräftige, von Gesten begleitete Interjektionen wie "Seht!", "Hört!", "Bedenkt!". Darüber hinaus fanden die unvermeidlichen illustrierenden Beispielerzählungen, die Exempla, eine besondere Behandlung: Bernardino erweckte das Figurenpersonal dieser Exempla durch breiten Einsatz von direkter Rede zum Leben und schreckte nicht davor zurück, die Stimmen der einzelnen Figuren zu imitieren und somit ein hohes Maß an Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit zu erzeugen.
Hervé Martin nimmt mit dem Dominikaner Jean Clérée einen weiteren Prediger in den Blick, dessen ungemein aussagekräftigen Sermones noch immer nicht in einer kritischen Edition vorliegen (Les sermons du dominicain Jean Clérée (1455-1507). Un jalon parmi d'autres vers la comédie des moeurs, 91-107). Sehr viel stärker als in den anderen Beiträgen wird deutlich, in welchen Formen sich eine "Theatralisierung" des Wortes präsentieren konnte: durch omnipräsentes Lachen, durch wohlkalkulierte Schockmomente, durch abrupte Tonwechsel, durch satirische Bemerkungen - Clérée gehört zu den großen spätmittelalterlichen Predigern, die es unbedingt wiederzuentdecken gilt. Fast unvermeidlich ist die Behandlung einer weiteren Predigtgröße: des Pariser Kanzlers und Kanonikers an Notre-Dame Jean Gerson (Estelle Doudet: Jean Gerson, prédicateur et auctor dramatique. Du sermon au théâtre scolaire, 123-146). In den Blick gerät ein Gerson zugeschriebener Text, die Moralité du Coeur et des cinq sens, in der aufbauend auf einigen seiner Predigten ein Figurenpersonal auftritt und vor einem aus den jungen Bewohnern des Collège de Navarre bestehenden Publikum zum Sprechen gebracht wurde. Aufgrund textimmanenter Hinweise und durch Vergleich mit den Predigten plädiert die Verfasserin für eine Abfassung im Jahr 1402 und sieht mehrere, in engem Kontakt mit Gerson stehende, evtl. unter seiner Anleitung arbeitende Verfasser am Werk.
Ein Beitrag von Simone de Reyff steht exemplarisch für die Analyse eines Mysterienspiels, in dem Predigten - verkündet durch den Mund eines (Laien-)Schauspielers - eine wichtige Rolle spielen (D'une leçon en Sorbonne à la prédication populaire. Le Mistere de l'Institution de l'Ordre des Freres Prescheurs (1511?), 215-227). Tatsächlich wird hier wie in weiteren im zweiten Abschnitt angeführten Beispielen die exklusive Verbindung von Klerus und Predigt aufgebrochen. Wenn Laien predigen bzw. Predigten vortragen können, was lässt sich dann daraus für das Verhältnis von Klerus und Volk ableiten? Wenn Predigten im Spiel tatsächlich theatralisiert werden, was ergibt sich daraus für den Stellenwert von Predigt überhaupt?
Aufgrund der weiter oben skizzierten methodischen Probleme - denn auch die Reaktionen des den Mysterienspielen beiwohnenden Publikums sind zumeist nicht überliefert - sind letztgültige Antworten auf diese Fragen nicht möglich. Das in diesem Band demonstrierte vorbildliche Zusammenwirken von Theaterwissenschaft und Predigtforschung scheint allerdings vielversprechend und sollte unbedingt weiter fortgeführt werden.
Anmerkungen:
[1] Zu den Predigten des Eudes de Châteauroux vgl. die Dissertation von Charansonnet: http://theses.univ.lyon2.fr/documents/lyon2/2001/charansonnet_a#p=0&a=top.
[2] Valentina Berardini: La teatralità implicita. Aspetti performativi della predicazione di Bernardino da Siena" (2011) (Betreuer: Carolyn Muessig (Bristol), Carlo Delcorno (Bologna)).
Ralf Lützelschwab