Hyun Jin Kim: The Huns, Rome and the Birth of Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2013, VIII + 338 S., ISBN 978-1-107-00906-6, GBP 59,99
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Um dieses Buch zu verstehen, sind zunächst einige Worte über den Verfasser notwendig. Hyun Jin Kim ist gebürtiger Südkoreaner, derzeit an der University of Melbourne tätig und einer jener ostasiatischen Forscher, die ihre Kenntnisse der Sprachen, Literatur und Geographie Asiens nutzen, um diese in den Dienst der klassischen Altertumswissenschaft zu stellen. [1]
Zum Inhalt des Buches: Kim vertritt die These, dass es sich bei den Hunnen nicht um eine unorganisierte Truppe wilder und plündernder Barbaren, sondern um ein gut organisiertes und entwickeltes Staatsgebilde gehandelt habe, das einen wesentlichen Beitrag sowohl zum Fall des weströmischen Reiches als auch zur Formung des frühmittelalterlichen Europa beigesteuert habe.
Die Einleitung (1-8) erläutert die Hauptthese und bietet eine Einleitung in die "steppe empires" (Steppenreiche), deren bekanntestes Beispiel das Mongolenreich ist. Das zweite Kapitel "Rome's Inner Asian enemies before the Huns" (9-16) wirft einen Blick auf die Parther und die "Partho-Sassanian confederacy" (Kim betont die Kontinuitäten und die fortbestehende Bedeutung der parthischen Eliten) und weist auf die Unterschiede zwischen Achaimenidenreich und Parthern sowie den Gemeinsamkeiten zwischen dem Partherreich und den Steppenreichen hin. Im dritten Kapitel "The Huns in Central Asia" (17-42) bemüht sich Kim um den Nachweis, dass die Hunnen und die frühen Xiongu (auf welche die Hunnen zurückgehen) vom China der Han-Zeit beeinflusst sind und somit auf höhere Organisationsformen zurückgreifen konnten; des Weiteren weist er hier auf den langen Bestand der Steppenreiche hin. Das vierte Kapitel "The Huns in Europe" (43-88) geht auf die Hunnen als Gegner des römischen Reiches ein. Kim arbeitet aus den Quellen die Hinweise für einen hohen Organisationsgrad und die politische Struktur der Hunnen heraus und stellt dem das römische Reich des vierten Jahrhunderts gegenüber, das die Bedrohungen des dritten Jahrhunderts erfolgreich gemeistert habe und somit nicht an seinen alten Gegnern (Germanen, Perser) gescheitert sein könne. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 sieht er als Sieg der Hunnen an, deren darauffolgender Abzug in ihrer üblichen Rückkehr in ihre Lager und nicht in einer hunnischen Niederlage bedingt sei. Ziel des fünften Kapitels "The end of the Hunnic Empire in the west" (89-136) ist der Nachweis, dass drei der vier Herrscher des Westens nach Attila (Ardarich, Edeco, Valamer) in ihrer Abstammung hunnische Adlige gewesen seien; der vierte, Orestes, war notarius Attilas. Das sechste und letzte Kapitel "The later Huns and the birth of Europe" (137-155) widmet sich den Hunnen vor allem des späten fünften und sechsten Jahrhunderts und vertritt die These, dass den Hunnen ein entscheidender Einfluss auf das frühmittelalterliche westliche Europa (etwa in Bezug auf das Herrschaftssystem oder im Rahmen kunstgeschichtlicher Aspekte) zuzuschreiben ist, welcher der Bedeutung des römischen Erbes gleichzusetzen sei. Im Schlusswort (156-158) werden die zentralen Ergebnisse nochmals zusammengefasst und auf die Bedeutung internationaler wie interdisziplinärer Zusammenarbeit in der Forschung hingewiesen. Die Anmerkungen (159-275) finden sich - ein vom Rezensenten wenig geschätztes System - geballt als Endnoten am Schluss des Textes.
Kims Buch hat eine Reihe von Stärken ebenso wie manche Schwäche. Ausgesprochen positiv hervorzuheben ist die herausragende Quellenkenntnis: Verwertet werden neben den üblichen griechisch-römischen Quellen der klassischen Altertumswissenschaft auch Texte des Mittelalters sowie chinesische und mongolische Quellen. Der Bandbreite der behandelten Themen und Quellen wird auch die Literaturliste gerecht.
Die Breite der erforschten Materie hat jedoch auch unerwünschte Nebenwirkungen, da Kim an einigen Stellen Thesen vertritt, denen der klassische Altertumswissenschaftler nicht zustimmen dürfte und die sich bei einer genaueren Betrachtung des Einzelaspektes auch kaum ergeben hätten. Von einer erfolgreichen Überwindung der Bedrohung durch die Perser im vierten Jahrhundert (48) kann nur bedingt die Rede sein. Schwerwiegender ist allerdings die Rolle der Germanen, die von Kim stärker als zulässig relativiert wird. So reduziert er sie auf "disorganized Germanic tribes", deren Gegnerschaft eine "manageable situation" (16) bedeutet habe und denen er nur im Ansatz Gefahrenpotential zugesteht (47, 50-51, 70). Allerdings ist daran zu erinnern, dass die germanischen Zusammenschlüsse bereits im späten zweiten Jahrhundert eine klare Bedrohung darstellten (was 51 kurz in einem Satz abgetan wird) und die Germanen nicht nur im dritten, sondern auch im vierten Jahrhundert ernsthafte Gegner (wie auch Verbündete) stellten. Die Rolle der Hunnen, auf die Kim zu recht verweist, ist gewiss nicht zu leugnen, berechtigt aber nicht dazu, andere Faktoren ohne ausreichende Widerlegung als vernachlässigenswert abzutun.
Ein weiterer Schwachpunkt ist das sechste Kapitel über die Bedeutung der Hunnen für das frühmittelalterliche Europa. Während Kim viel Raum und Energie darauf verwendet, die Organisationsform und das militärische Potential des Hunnenreiches nachzuweisen, wird die eigentlich bedeutendere Frage nach der Nachwirkung der Hunnen verhältnismäßig knapp und oberflächlich abgetan, zumal auch nicht jede Parallele überzeugt. Zudem sollte die Behauptung, dass das hunnische Erbe in seiner Bedeutung dem römischen Erbe gleichkommt, nicht alleine mit Parallelen zwischen den germanischen und dem hunnischen Reich, sondern auch mit einem (nicht durchgeführten) Vergleich der römischen und hunnischen Einflüsse belegt werden.
Auch wenn man weiter ins Detail geht, überzeugt Kims Buch nicht immer. Vor allem die Anmerkungen machen an einigen Stellen den Eindruck, als wären sie etwas überhastet zusammengestellt worden. Einige Beispiele mögen genügen: Die Zahlenangaben zu den Kaisern des dritten Jahrhunderts (199, Anm. 59: 25 Kaiser in 47 Jahren) sind aus keiner der möglichen Perspektiven (mit oder ohne Caesares, mit oder ohne Usurpatoren) korrekt. Die Epitome de Caesaribus stammt nicht von Aurelius Victor (202, Anm. 91). Malalas wird meist nach der englischen Übersetzung von Jeffreys/Jeffreys Scott (die keinen griechischen Originaltext bietet) zitiert (etwa 251, Anm. 7 und 252, Anm. 15), gelegentlich aber auch die unzureichende Ausgabe Dindorfs von 1831 benutzt (229, Anm. 394 und 253, Anm. 25). Malchos wird meist nach Blockley zitiert, an einer Stelle plötzlich aber nach Müller (248, Anm. 263). Weitere veraltete Ausgaben finden sich für Ambrosius (212, Anm. 215, siehe auch das vollkommen abweichende Zitiersystem für Mignes PL auf derselben Seite, Anm. 229) und Johannes Antiochenus (232, Anm. 47-48). Die Angabe "Another Byzantine chronicler Nicephorus (35.1)", die offenbar aus zweiter Hand angegeben wurde, bezeichnet das Breviarium des Patriarchen Nikephoros von Konstantinopel (ed. Cyril Mango, Dumbarton Oaks 1990). Aus Émilienne Demougeot wird ein Forscher männlichen Geschlechts gemacht (265, Anm. 150: "Demougeot ... where he cites"). 229, Anm. 372 hat sich am Schluss eine Dublette aus dem vorherigen Satz eingeschlichen. Zumindest ungewöhnlich ist die Zitation "Capitolinus, Vita Antonini Pii" (199, Anm. 58). Immerhin halten sich die Druckfehler in einem sehr engen Rahmen (188, Anm. 232 "Pseudo-Styliten" statt richtig "Pseudo-Stylites"; 199, Anm. 58 "Marcommani" statt richtig "Marcomanni"; 218, Anm. 306: "Blockely" statt richtig "Blockley").
Zwei Präzisierungen: Nicht (der griechisch schreibende) Priskos bezeichnet Attila als pracipuus Hunnorum rex (57), sondern Jordanes, dessen Angabe als Fragment des Priskos (Frg. 24,1 Blockley) angesehen wird. Die etwas unklare Angabe "c. 95 (Boor)" (239, Anm. 165) meint die von Carl de Boor herausgegebenen Excerpta de insidiis, aus denen dieses Fragment des Johannes Antiochenus stammt.
Alles in allem kann das Buch von Kim als gelungen angesehen werden. Die (gewiss manchmal etwas überspitzt vorgetragene) Hauptthese über die Bedeutung der Hunnen wird das Problem des Fall Roms zwar nicht lösen, aber für neue Perspektiven und Fragestellungen sorgen. Die breite Quellenbenutzung, die nicht nur weit über das Spektrum des Griechisch-Römischen hinausgeht (Erforscher des spätantiken Ägypten etwa wissen um die Bedeutung der koptischen Quellen), sondern eine dem durchschnittlichen Altertumswissenschaftler meist vollkommen fremde Quellenbasis zugänglich macht, wird zweifellos ihren Beitrag dazu leisten, dass relevante Zeugnisse auch außerhalb des gewohnten sprachlichen und geographischen Gebietes ermitteln und verwertet werden. Bei allem Anlass zur Einzelkritik handelt es sich somit um einen zu begrüßenden und originellen Beitrag zu einem vieldiskutierten Thema. [2]
Anmerkungen:
[1] Angefangen mit seiner Dissertation: Ethnicity and foreigners in Ancient Greece and China. A comparative analysis of the Histories of Herodotus and the Shiji of Sima Qian, Diss. Oxford 2007 (publiziert London 2009).
[2] In diesem Sinne urteilen auch die bisherigen Rezensenten, deren Kritikpunkte (hier in Auswahl geboten) einen guten Ausgangspunkt für die Diskussion bilden: Hugh Elton, in: Networks and neighbours 2 (2014), 109-111 (http://networksandneighbours.org/index.php/n/article/view/43/26) (die gesammelten Hinweise lassen im Vergleich mit anderen antiken Gebilden nicht den Schluss eines entwickelten Reiches zu); Deanna Forsman, in: Journal of Late Antiquity 7 (2014), 367-369 (problematische Beurteilung des merowingischen Sakralkönigtums 146-147); Gregory G. Guzman, in: Choice: Current reviews for academic libraries 51 (2014), 894; Heinrich Härke, in: Classical Review 128/N.S. 64 (2014), 260-262 (setzt eine nicht haltbare allgemeine hohe Bedeutung der Hunnen voraus); Richard Payne, in: Bryn Mawr Classical Review März 2014, Nr. 40 (http://bmcr.brynmawr.edu/2014/2014-03-40.html) (Definition von Feudalismus ist problematisch); Mark Whittow, in: Early Medieval Europe 22 (2014), 242-243 (manche Argumente bleiben an der Oberfläche und hätten stärker entwickelt werden müssen).
Raphael Brendel