Gabriele Haug-Moritz (Hg.): Verfassungsgeschichte des Alten Reiches (= Basistexte Frühe Neuzeit; Bd. 1), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 283 S., ISBN 978-3-515-10784-6, EUR 28,00
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Zu den ergiebigsten Themenfeldern der deutschen Frühneuzeitforschung zählt seit gut vier Jahrzehnten die Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Gleichsam das Schwungrad der in viele Gegenstandsbereiche ausstrahlenden Forschungsentwicklung war der Wandel, der sich während der 1970er-Jahre in der Bewertung des Reiches vollzog - wurde die im Zeichen der Geringschätzung stehende Sicht der borussisch-kleindeutsch orientierten Forschung, deren maßgebliche Referenzgröße der nationale Machtstaat gewesen war, nach langjähriger Dominanz doch abgelöst durch Deutungen, die den Charakter des Reichsverbandes als kompliziertes System mit der beachtlichen Fähigkeit zur Bewältigung interner Konflikte offenbarten.
Angesichts der grundlegenden - in den 1970er- und 1980er-Jahren eng mit dem Namen von Volker Press verbundenen - Neubewertung muss es verwundern, dass nicht schon längst ein Reader vorgelegt wurde, der den stets auch mit veränderten geschichtspolitischen und methodologischen Prämissen einhergehenden Wandel in der Reichshistoriografie anhand repräsentativer Texte hätte dokumentieren können. Geschuldet ist dieses Defizit wahrscheinlich der Tatsache, dass die seinerzeitige Neuinterpretation kaum nennenswerten Widerstand provozierte und sich nicht im Rahmen einer Forschungskontroverse mühevoll durchsetzen musste. So war in den Reaktionen auf Karl Otmar von Aretins 1967 erschienene Habilitationsschrift, die forschungsgeschichtlich eine wichtige Trendwende markierte, ein klares Veto ebenso wenig auszumachen wie in der Resonanz, die ein 1975 von Peter Moraw und Volker Press vorgestellter und in der Folgezeit richtungsweisender Problemaufriss zur Sozial - und Verfassungsgeschichte des Reiches beim Fachpublikum fand. Der weitgehend zustimmend hingenommenen Absage an das alte kleindeutsche Narrativ der Reichsgeschichte fehlten damit die diskursiven Voraussetzungen, die anderen geschichtswissenschaftlichen Themen zu eigen waren und diese für eine Berücksichtigung in etablierten Buchreihen - man denke insbesondere an die "Wege der Forschung" - prädestinierten. Beendet wurde die Phase der Unstrittigkeit erst in den späten 1990er-Jahren durch die von Georg Schmidt angestoßene Debatte über die Staatlichkeit des frühneuzeitlichen Reiches; dabei geriet auch dessen Potential für einen neuen nationalhistorischen Diskurs in den Blick. In der hierüber entstandenen Kontroverse war es insbesondere der von Barbara Stollberg-Rilinger verfochtene, gegen modernistische Fehlauslegungen gerichtete kulturalistische Zugang, der einen deutlichen Kontrapunkt zur tendenziellen Angleichung der Reichsverfassungsgeschichte an den nationalstaatlichen "Normalfall" setzte.
Mit dem vorliegenden Band wird erstmals der Versuch unternommen, wichtige Stationen der Reichshistoriografie anhand grundlegender Schlüsselbeiträge oder - im Sinne der Reihenbezeichnung - "Basistexte" vorzustellen. Ihren Ausgang nimmt die einen Zeitraum von gut 150 Jahren abdeckende, sich in vier Kapitel gliedernde Textedition vom wirkungsgeschichtlich wohl bedeutendsten Vertreter der kleindeutschen Schule, Heinrich von Treitschke (1834-1896), und dessen 1879 publizierten Ausführungen über "Deutschland nach dem Westphälischen Frieden" (41-59). Diesem vom reichskritischen Gusto beherrschten Text ist im ersten Kapitel des Bandes ("Deutungstraditionen") eine Abhandlung des heute weitgehend vergessenen deutsch-österreichischen Historikers Onno Klopp (1822-1903) zur Seite gestellt. Seine 1863 erschienene kritische Auseinandersetzung mit der "borussisch" inspirierten Pufendorf-Interpretation des Heidelberger Staatsrechtslehrers Johann Caspar Bluntschli (61-77) macht bewusst, dass sich im 19. Jahrhundert eine weitere, jedoch klar im Schatten des kleindeutschen Geschichtsbildes stehende Deutungstradition katholisch-großdeutscher Provenienz entwickelte. Diese stand dem Alten Reich positiv gegenüber und erlangte im 20. Jahrhundert vor allem zwischen den Weltkriegen - prominent vertreten durch Heinrich von Srbik und Franz Schnabel - eine mehr als nur marginale Bedeutung. Allerdings wird in dem Band von entsprechenden zeitgenössischen Textbeispielen abgesehen. Daher bleibt es der luziden Einleitung (7-37) der Herausgeberin Gabriele Haug-Moritz vorbehalten, das Weiterwirken dieser Tradition und damit zugleich die historiografiegeschichtlichen Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte des bereits erwähnten, gleichsam ein Kernstück der Edition bildenden Forschungsprogramms von Moraw und Press (81-93) zu erhellen.
Ebenfalls der Textsorte "Forschungsprogramme" (Kapitel 2) zugeordnet sind zwei aus den Jahren 2001 bzw. 2002 stammende Aufsätze: die auch als Reaktion auf Einwände Heinz Schillings zu verstehenden Erläuterungen Georg Schmidts zu den von ihm verfochtenen Konzepten "komplementärer Reichs-Staat" und "föderative Nation" (95-116) sowie Barbara Stollberg-Rilingers entschiedenes Plädoyer für einen kulturalistischen Ansatz in der Reichsverfassungsgeschichte (117-129). Durch diese beiden Beiträge und die instruktiven Hinweise der Herausgeberin (vor allem 25-29) erhält der Band zwar einen erfreulichen Input an Kontroversialität. Jedoch wird dieser Effekt gemindert durch Haug-Moritz' editorische Konzeption, in der den Texten von Schmidt und Stollberg-Rilinger vor allem - was beim Problemaufriss von Moraw / Press noch durchaus berechtigt erscheint - die Funktion zukommt, die in der "neuen Sicht des Alten Reiches" zu beobachtende Tendenz zur programmatischen Fundierung der Forschung zu dokumentieren (15). Eine Rubrizierung der beiden Aufsätze (denen idealerweise noch weitere Debattenbeiträge - zum Beispiel von Heinz Schilling, Johannes Burkhardt oder Wolfgang Reinhard - hätten hinzugefügt werden können) unter dem Begriff "Kontroversen" wäre der Sache womöglich angemessener gewesen.
Kapitel 3 und 4 präsentieren exemplarisch zentrale Themenfelder der neueren reichsverfassungsgeschichtlichen Forschung. Zugleich macht die Kontextualisierung der insgesamt vier Aufsätze deutlich, welches Vorverständnis von "Reichsverfassungsgeschichte" dem Band zugrunde liegt. Kennzeichnend ist dabei die - von der Herausgeberin auch in der Terminologie des akademischen Lehrangebots beobachtete - Absage an ein begrenztes, vornehmlich institutionell geprägtes Verständnis bei gleichzeitiger Hinwendung zu den in der Gesellschaft des Alten Reiches wirksamen handlungsleitenden Normen, Werten und kollektiven Sinnzuschreibungen sowie zum politischen Prozess selbst - kurz zur politischen Kultur. In diesem Sinne werden Peter Moraws wegweisender, 1980 erschienener "Versuch über die Entstehung des Reichstags" (133-170) sowie die exzellenten, sich wie eine partielle Antizipation der Erkenntnisse Stollberg-Rilingers lesenden Ausführungen von Albrecht P. Luttenberger über "gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag" von 1987 (171-203) als stimulierende Beiträge zur "Geschichte politischer Teilhabe" eingeführt. Der bis heute kontrovers beurteilten Entwicklung des Reiches nach dem Dreißigjährigen Krieg widmen sich die beiden abschließenden Aufsätze. Volker Press erörtert in seiner erstmals 1989 erschienenen und wohl gedankenreichsten Umsetzung des oben genannten eigenen Forschungsprogramms die sozialen, politischen und kommunikativen Voraussetzungen des kaiserlichen Wiederaufstiegs nach 1648 (207-236). Ergänzt werden diese Überlegungen durch einen Beitrag der Herausgeberin von 1992, in dem das Schicksal der im Westfälischen Frieden festgeschriebenen konfessionellen Pluralität des Reiches vor dem Hintergrund seiner konfliktbehafteten Verfassungswirklichkeit beleuchtet wird (237-271).
Ohne Frage wird der Band dem selbstgesteckten Ziel der Herausgeberin - nämlich die Leserinnen und Leser in unterschiedliche Deutungshorizonte einzuführen und ihnen ein vertieftes Verständnis der Reichsverfassungsgeschichte einschließlich der forschungsleitenden Prämissen zu ermöglichen - voll und ganz gerecht. Monita lassen sich lediglich im Hinblick auf einige inhaltlich-konzeptionelle Grundsatzentscheidungen anführen - so etwa das Fehlen auch jüngerer Arbeiten aus der "Jenaer" (Georg Schmidt) bzw. "Münsteraner" (Barbara Stollberg-Rilinger) Schule sowie die Absenz der neueren, lediglich über die Einleitung und die nützliche Bibliografie präsenten anglofonen Forschung. Allerdings wird die Herausgeberin diesem Hinweis mit Fug und Recht das einer Textsammlung in der Regel auferlegte Gebot der Begrenzung des Umfangs entgegenhalten können. So bleibt denn abschließend nur, dem Band eine weite Verbreitung zu wünschen - dies gerade auch vor dem Hintergrund, dass sein Erscheinen mit einer Neubelebung der Debatte über das Alte Reich durch das zweibändige Werk von Joachim Whaley koinzidiert.
Helmut Gabel