Rezension über:

Wolfgang Wüst (Hg.): Regionale Wirtschafts- und Industriegeschichte in kleinstädtisch-ländlicher Umgebung (= Mikro und Makro - Vergleichende Regionalstudien; Bd. 1), Stegaurach: WiKomm Verlag 2015, 238 S., ISBN 978-3-940804-07-5, EUR 24,80
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Rezension von:
Wilfried Reininghaus
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Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Wilfried Reininghaus: Rezension von: Wolfgang Wüst (Hg.): Regionale Wirtschafts- und Industriegeschichte in kleinstädtisch-ländlicher Umgebung, Stegaurach: WiKomm Verlag 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/27953.html


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Wolfgang Wüst (Hg.): Regionale Wirtschafts- und Industriegeschichte in kleinstädtisch-ländlicher Umgebung

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Der vorliegende Band eröffnet eine Reihe, die von der Universität Erlangen-Nürnberg betreut wird. Sie soll ein Publikationsforum für Tagungen mit regionalem oder lokalem Schwerpunkt sein. Trotz dieser eher gedrosselten Ambitionen beansprucht der erste Band überregionales Interesse, denn sein Gegenstand ist für die Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts von allgemeiner Bedeutung: der Verlauf der Industrialisierung außerhalb der großen Zentren. Das bedeutet in Bayern: außerhalb von Nürnberg, Augsburg, München oder Schweinfurt. Hierfür hat Klaus Tenfelde 1982 in seinen Studien zum bayerischen Bergbauort Penzberg 1982 den Begriff "punktuelle Industrialisierung" in die Forschung eingeführt. [1] Zu Recht verweist der Herausgeber in Vorwort und Einleitung darauf, dass Klein- und Mittelstädte Anteil an der Industrialisierung hatten, aber bisher kaum erforscht sind. Die Tagung, die von den Städten Roth, Schwabach und Allersberg 2014 getragen wurde, bot Anlass, nach den spezifischen Bedingungen in diesen Städten zu fragen und weitere bayerische Kleinstädte vergleichsweise heranzuziehen.

Gemeinsamer Nenner der drei Städte war die "leonische Industrie", die zuerst in Roth im 16. Jahrhundert eingeführt wurde. Hans Peuschel stellt dieses Verfahren in seinem Beitrag (27-35) in den Kontext der Drahtverarbeitung in Nürnberg. In Roth siedelte sich nach 1870 als Folgeproduktion die Herstellung von Christbaumschmuck an (hierzu Willi Riffelmacher, 37-45). Annett Haberlah-Pohl stellt am Beispiel von Roth und anderen Orten heraus, dass ein Bahnanschluss den entscheidenden Anschub zur Industrialisierung bedeutete (47-79). Freilich geschah dies zu unterschiedlichen Zeiten, in Roth nach 1850, im Hopfen- und Tabakort Rednitzhembach erst nach 1895. Wichtig (und wohl verallgemeinerungsfähig) sind ihre Bemerkungen zur Veränderung der Ortsstruktur nach dem Bau eines Bahnhofs. Ähnlich der Befund von Sabrina Grünewald zu Lauf an der Pegnitz (185-194).

Dieter Chrocziel stellt knapp die Geschichte der Unternehmerfamilie Gilardi in Allersberg vor (83-91), Kerstin Bienert die in Abenberg mit leonischem Gold- und Silberdraht "veredelten" Textilspitzen (93-111). Eine lange Perspektive wählt Jörg Ruthrof, der den Wandel des ehemaligen Königshofs Wendelstein zum industriellen Kleinzentrum mit dem Schwerpunkt der Metalldrückerei untersucht (115-131). Auch Susanne Bohn geht am Beispiel des "Industriedorfs" Sorg bis in das 13. Jahrhundert zurück. Sorg stellte im Laufe der Jahrhunderte von der Messerschmiederei auf Spiegelglasproduktion um (133-146).

Schwabach ist Gegenstand zweier Studien. Werner K. Blessing beschreibt die Einführung der Dampfmaschinen ab 1859 als Basis einer "Produzentenstadt", die um 1900 als "Stadt der Arbeit" galt (149-166). Wolfgang Dippert sieht in der landesherrlich geförderten Ansiedlung von Hugenotten in Schwabach nach 1685 entscheidende Voraussetzungen für die spätere Entwicklung (167-182).

Georg Seiderer geht der Rolle des Fremdenverkehrs in Rothenburg ob der Tauber, vor allem vor 1914, nach (195-204). Arnd Kluge untersucht die Porzellangeschichte Oberfrankens vor 1914 (205-229). Für die überregionale Gewerbegeschichte lässt ein Befund aufhorchen: "Ein Zeitpunkt, an dem aus Porzellanmanufakturen Fabriken geworden wären, lässt sich nicht bestimmen" (206). Kluge verwendet daher die Begriffe (und Betriebsformen) Manufakturen und Fabrik synonym. Wegen des Kriteriums des Dampfmaschineneinsatzes in Fabriken ist dies dem Rezensenten nicht plausibel. Auch Kluge betont die Bedeutung der Eisenbahn, um den Weltmarkt nach 1850 zu erreichen.

Die einzelnen, oft detailreichen Beiträge werden leider nicht zusammengefasst. Wünschenswert wären weitere Reflexionen über die Rolle von Kleinstädten (und Industriedörfern) im Industrialisierungsprozess gewesen. Naheliegend wäre gewesen zu resümieren, wie sich die hier untersuchten Standorte zum Zentrum Nürnberg verhielten. Sowohl zu Unternehmern als auch zu Arbeitern und Arbeiterinnen in kleineren Städten gäbe es Fragebedarf. Die Rolle der Betriebsformen (Handwerk, Verlag, Manufaktur, Fabrik) hätte problematisiert werden können, ja müssen; hier stehen sie unverbunden nebeneinander. Überhaupt stellt sich aufgrund der Beispiele von Roth, Schwabach und Sorg die Frage nach dem Vorlauf der Industrialisierung vor 1800 neu. Immerhin dürfte die zentrale Funktion der Eisenbahnanschlüsse für Standorte außerhalb der industriellen Zentren gesichert sein, doch zeigten sich Raum-Zeit-Verschiebungen zwischen 1850 und 1900, die für die industrielle Durchdringung des ländlichen Raums relevant sind.

Der Rezensent legt wegen dieser offenen Fragen den Band mit einer gewissen Enttäuschung aus der Hand. Lokale Fallstudien mögen für sich genommen nützlich sein, doch ohne Rückbindung an die allgemeine Forschung zur Industrialisierung kommen sie nicht aus, wenn der Typus Kleinstadt untersucht werden soll. So stehen die Fallstudien unverbunden nebeneinander.


Anmerkung:

[1] Klaus Tenfelde: Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900/1945, München 1982, 2f.

Wilfried Reininghaus