Rezension über:

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland. Die Stadt und das Meer (= C.H. Beck Geschichte der Antike), München: C.H.Beck 2015, 302 S., 26 s/w-Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-406-67378-8, EUR 16,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Christoph Ulf
Universität Innsbruck
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Ulf: Rezension von: Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland. Die Stadt und das Meer, München: C.H.Beck 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/27060.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland

Textgröße: A A A

Es ist keine einfache Aufgabe, eine Geschichte des archaischen Griechenland zu schreiben. Welche Probleme dem entgegenstehen, ist in der Einleitung konzise beschrieben. Da ist die Frage, wo diese Geschichte beginnt, was es heißt, wenn man von Dunklen Jahrhunderten spricht, wie das Nebeneinander von "Kulturbrüchen und Kulturkontinuität" einzuschätzen ist, wie dem Fehlen eines linearen Prozesses und damit der Möglichkeit einer chronologischen Darstellung zu begegnen ist, wie die "Mobilität über das Meer und die Entwicklung der Städte" zu beurteilen ist, wie es zur Ausbildung des Stadtstaates als einer der "kulturspezifischen Besonderheiten der antiken griechischen Welt" kam, und nicht zuletzt, oder besser: vor allem, inwieweit sich der enorme "Zuwachs an archäologischen Daten" auf die historische Aussagekraft der schriftlichen Quellen auswirkt.

Stein-Hölkeskamp gibt mit ihrer Darstellung in einer Weise Antworten auf diese Fragen, wie es bisher in deutschsprachigen Einführungen zum archaischen Griechenland noch nicht geschehen ist. Den Relikten der materiellen Kultur räumt sie "zumindest" ein "Vetorecht" in dem Sinn ein, dass sie uns sagen, "was wir nicht (oder nicht mehr) sagen dürfen". Den anderen Fragen antwortet sie mit einer Umwandlung der meist auch für das archaische Griechenland gewählten chronologischen Beschreibung in acht systematische Kapitel, in deren Mittelpunkt "Fallstudien" stehen, um die herum knappe Skizzen der "sozio-kulturellen Grundformen" gelegt sind. Dennoch schimmert eine gewisse chronologische Anordnung in der Anordnung der Kapitel durch: Am Beginn steht "Die Welt der (mykenischen) Paläste", am Ende des Buches "Die Welt der Bürger". An die Paläste schließt das Kapitel "Die Welten Homers" an und führt über "Neue und fremde Welten" zur "Welt der Polis". Parallel dazu wird dann eine Linie von der "Welt der Bauern" über die "Welt der Aristokraten" bis zur "Welt der Tyrannen" gezogen. Mit dieser Gliederung soll der Parallelität der Geschichten der Poleis als Mikrogeschichten ebenso Rechnung getragen werden wie dem die einzelnen Geschichten verbindenden "gemeingriechischen" Rahmen.

Nach einer kurzen Skizze der mykenischen Palastkultur(en) und der Phase nach deren Kollaps wird über die Beispiele von Lefkandi und Nichoria die Vorstellung der Dunklen Jahrhunderte nicht nur als modernes Konstrukt relativiert. Diesem werden "Fundamente" gegenübergestellt, "die die Katastrophe und selbst das Ende der postpalatialen Blüte" überdauert haben dürften, besonders Religion und Kult, manifestiert z.B. im Artemis-Kult in Kalapodi oder in Delphi und Olympia als Kristallisationspunkten der sich nun "konsolidierenden Einheiten und Gemeinwesen". Damit geht die Annahme einher, dass sich die neuen Gemeinschaften der geometrischen Zeit von den kleinräumigen, parallel zu den Palästen bestehenden Siedlungen herleiten. Die homerischen Epen, deren schriftliche Fixierung um 700 datiert wird, werden in den Kontext von - nach der Aufgabe der Schrift mündlich vermittelten - Mythen gestellt, durch welche die Herrscher und königlichen Familien der mykenischen Zeit lebendig geblieben seien. In den Epen werde eine deutlich in eine Elite und eine Masse (der Bauern) stratifizierte Gesellschaft gespiegelt. Ohne dass die "Elite" nach unten schon abgeschlossen wäre, steht doch (nur) diese Aristokratie in einer panhellenischen Kommunikation miteinander. Ihr Verhalten ist geprägt von einem durch adligen Code gekennzeichneten Lebensstil. Daneben erscheint jedoch auch das Bild vieler kleiner Siedlungen mit öffentlichen Räumen, heiligen Bezirken, einer Agora für Debatten, Versammlungen und Rechtsprechung, für Feste, athletische Spiele und religiöse Zeremonien, an denen die gesamte Bevölkerung teilnimmt. Angesichts dieser Leseweise der homerischen Epen stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis der panhellenische Adel zu der gleichzeitig angenommenen gesellschaftlichen Vielfalt steht und wo in den archäologisch nur nachweisbaren einfachen bzw. weilerartigen Siedlungen der geometrischen und früharchaischen Zeit eine in sich hierarchisch strukturierte Elite situiert werden kann, die zur Zeit der Epen von einer kollektiven Führungsschicht abgelöst werden konnte.

Von der Einschätzung dieses "Anfangs" des archaischen Griechenlands hängt viel ab. Die Frage, wie man sich die früher fälschlich als "Kolonisation" bezeichneten Migrationen vorzustellen hat, wird so beantwortet, dass die Darstellungen der 'Gründung' der ersten 'Kolonien' als Projektionen späterer Verhältnisse anzusehen seien - ohne auf Oikisten zu verzichten, welche nach einer Anfrage in Delphi die jeweiligen Migrationen gelenkt hätten. Von der in der Klassischen Archäologie gerade stattfindenden Diskussion über das Aussehen und die Entwicklung der frühen Siedlungen im nicht-griechischen Umfeld darf man hier ebenso weiterführende Informationen erwarten wie für die Beschreibung der frühen Phasen der "Welt der Polis". Vor allem ist zu klären, wie die griechischen Stadtstaaten (vielfach nur klein und einfach strukturiert, von den bekannten Ausnahmen wie Korinth, Megara oder Athen abgesehen), die jeweils "eine in sich geschlossene souveräne und autonome soziopolitische Einheit mit einer nach außen geschlossenen Bürgerschaft" darstellten, gleichzeitig über den geographischen Raum als einem gemeinsamen "Kulturkreis" zusammengebunden gewesen sein sollen und sich dann auch noch parallel zueinander in ihrer inneren Struktur wandelten. Als Indizien für einen solchen gemeinsamen Rahmen werden gleiche Götter, Sprache, Schrift, Ordnungssysteme (Zahlen, Zeichen, Symbole), Denkweisen, Wertvorstellungen, Maßstäbe genannt. Als Zeichen für den vom 8. zum 7. Jh. sich vollziehenden Wandel wird auf große 'poliadische' Heiligtümer verwiesen, die am Rand oder an der Grenze des jeweiligen Siedlungsgebietes entstanden - als kollektive Leistung gesehen wie der gleichzeitig sich ausbildende Hoplitenkampf, die Binnenstrukturierung in Phylen und Phratrien, die Installierung der zentralen Institutionen wie Ämter, Rat, Versammlung. Mit ihnen seien die Palastgötter der mykenischen Zeit und die der einfacheren "Fürstensitze" der Dunklen Jahrhunderte abgelöst worden. Als Folge davon rivalisierten in den großen 'panhellenischen' Heiligtümern nun nicht mehr nur Aristokraten, sondern ganze Poleis miteinander um Rang und Ansehen.

Von der Polis führt die Darstellung zu den Welten der Bauern und Aristokraten. Ihre Oikoi unterschieden sich signifikant voneinander. Für die Bauern sind Hesiod bzw. dessen Ratschläge an seinen Bruder Perses als Fallbeispiel gewählt. Der bäuerliche Oikos, geprägt von einem intensiven Arbeitsethos, ist eine Residenz-, keine Verwandtschaftsgruppe, für dessen Bestand über den Tod des Besitzers hinaus alle nötigen rechtlichen Vorkehrungen etabliert wurden. Der allgemeine Bevölkerungszuwachs führte im 7. Jh. zu einer Knappheit der Weide- und Anbauflächen und damit in Verbindung mit klimatischen Störungen zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen. Diese Krise wurde von Solon in vielfachen Facetten dargestellt. Den Bauern gegenüber standen die Aristokraten, von einem ausgeprägten Wettbewerbsethos geleitet und in permanenter Konkurrenz miteinander. Ihre Welt war über die gesamte archaische Zeit durch die Elemente eines schon in der Ilias und Odyssee beschriebenen adligen Codes (Muße, Kleidung, Symposion, Sport u.ä.) gekennzeichnet. Die Aristokraten verstanden sich als unabhängige Individuen und bildeten so eine latente Gefahr für die bürgerliche Gemeinschaft. Einzelne von ihnen profitierten sogar von der bäuerlichen Krise, andere zählten zu den Verlierern. Konflikte waren die Folge, aber auch die Kritik an dem auf den Wettbewerb innerhalb der eigenen "Statusgruppe" ausgerichteten aristokratischen Verhaltens- und Wertekodex. Nutznießer des inneraristokratischen Streits waren Einzelne, wie Kypselos, Polykrates oder Peisistratos, welche die Konkurrenzsituation unter den Aristokraten in der Weise aufhoben, dass sie die Vorteile der "traditionellen Adelskultur" weitgehend für sich allein beanspruchten und so zu Tyrannen wurden. Nur dadurch, dass im Widerstand dagegen Entwürfe zur Neugestaltung der Polis formuliert wurden, gingen von ihnen indirekt Anstöße zum Wandel der Polis in Richtung auf Isonomie und Demokratie aus.

Der durch die Krise verstärkte Regelungsbedarf auf allen Gebieten führte zu einer Stärkung der zentralen Institutionen der Bürgerschaft. Und damit kommen am Ende die Bürger als eine nach außen abgegrenzte Gruppe ins Blickfeld, innerhalb derer sich der soziale Gegensatz von Bauern und Adel abschwächte. Aus den neuen Regelungen folgte verstärkte Integration, insbesondere durch die Adaptierung der schon bisher existierenden Phylen an die Notwendigkeiten eines sich aus den Bürgern konstituierenden Stadtstaates, wie in Sikyon, Kyrene und Athen. Daher wurde die Reform der Phylen zur Grundlage für die weitere Ausgestaltung der Polis in klassischer Zeit.

Das Buch bietet eine in sich klar geschlossene Argumentation, in die über die einzelnen Fallbeispiele eine Fülle an Details und deren Diskussion eingebettet ist. Wie sehr man sich von ihr leiten lässt, hängt zwar auch davon ab, wie sehr man wesentliche (prä)politische Institutionen aus der Nachpalastzeit ableitet und in welchem Ausmaß man in den schriftlichen Quellen Projektionen späterer Verhältnisse in die Zeit der frühen Archaik (und darüber hinaus) vermutet, aber insgesamt nicht weniger von der in der Einleitung deutlich gemachten entscheidenden Bedeutung der archäologischen Befunde, deren Diskussion noch im Gange ist. Wie im Vorwort festgehalten, erweist sich die griechische Archaik nach wie vor als "außerordentlich widerständig gegen abschließende Synthesen".

Christoph Ulf