Gerhard Wettig: Die Stalin-Note. Historische Kontroversen im Spiegel der Quellen (= Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert; Bd. 1), Berlin: BeBra Verlag 2015, 210 S., ISBN 978-3-95410-037-8, EUR 26,00
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Mit dem vorliegenden Band eröffnet die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland ihre neue Schriftenreihe, "Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert". Es steht zu hoffen, dass der Auftakt als programmatisches Signal für einen breiten, grenzüberschreitenden Zugriff von Institution und Herausgebern auf die Thematik zu verstehen ist.
Kaum ein Aspekt der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach 1945 ist so ausgiebig und zugleich so kontrovers diskutiert worden wie Hintergründe, Zielsetzungen und Aufnahme der Stalin-Note vom 10. März 1952 (7). Dabei war die unmittelbare Reaktion in Deutschland 1952/1953 durchaus verhalten (21-22). Die österreichische Neutralität verlieh angeblichen Alternativen im Umgang mit der Teilung Deutschlands jedoch neue Aktualität. Dabei, auch das ist festzuhalten, sprach sich nicht jeder Akteur, der Stalins Angebot Ernsthaftigkeit unterstellte, auch automatisch dafür aus, dass man es hätte prüfen und gegebenenfalls verfolgen sollen. Der Zugang erst zu Aktenbeständen der westlichen Siegermächte, dann zu Moskauer Archiven verlieh der Debatte in späteren Jahren neuen Schwung. Der Streit, ob Stalin wirklich dazu bereit gewesen war, die Einheit eines neutralen Deutschlands zu ermöglichen, wurde in den Diskussionen nicht wirklich entschieden. Mittlerweile deuten aber relevante sowjetische Dokumente darauf hin, dass es sich bei der Initiative um keinen ernsthaften, verhandlungsfähigen Vorschlag handelte. Vielmehr diente sie der Agitation gegen Adenauers West- und Wiederbewaffnungspolitik. Zugleich sollte der Schachzug der weiteren Integration der DDR in den sowjetischen Machtbereich in Europa zusätzliche Legitimität verschaffen. [1]
Gerhard Wettig hat die Diskussion über viele Jahre hinweg maßgeblich mitgeprägt. Auf Basis eigener und anderer Forschungen insbesondere in russischen Archiven präsentiert er nun eine Kombination von Forschungsbericht und Interpretation. Wettigs Analyse selbst schreibt diejenigen früheren Bewertungen fort, die hinter den sowjetischen Noten propagandistische Motive erkannten. Der Autor gründet seine Interpretation auf einer ausführlichen Beschreibung der sowjetischen Deutschlandpolitik seit 1945. Quellengesättigt und mit profunder Kenntnisse der Forschungsliteratur verfasst, entspricht diese ganz dem traditionellen Narrativ. [2] Wenn die UdSSR von Beginn an eine "kommunistische Diktatur" und dauerhafte Herrschaft anstrebte und damit eine "generell offensive Nachkriegs-Außenpolitik" verfolgte, in der die SED allein schon aus ideologischen Prinzipien heraus nicht aufgegeben werden sollte, ließen sich die Stalin-Noten a priori ohnehin nur als taktische Manöver verstehen. (51, 69, 162). Die Moskauer Außen- und Deutschlandpolitik war in der unmittelbaren Nachkriegszeit wohl weniger determiniert, als es in der Studie aufscheint. In der Gesamtdebatte spielt es dann auch wieder eine Rolle, ob nun die USA oder die UdSSR militärisch schwach waren bzw. als geschwächt wahrgenommen wurden (101, 104). Im Übrigen gab sich Stalin in den zitierten Gesprächen mit dem chinesischen Premier Zhou Enlai auch nicht so unbedingt von einem späteren Krieg der dann aufgerüsteten BRD gegen die USA überzeugt, wie es in Wettigs Darstellung anklingt. Das entsprechende Gesprächsprotokoll spricht von Möglichkeiten, nicht von Gewissheiten. [3]
In den frühen 1950er Jahren jedoch ging es Stalin im Rahmen des Kalten Kriegs tatsächlich darum, das eigene Lager zu stärken und die gegnerische Allianz zu schwächen. Einen dritten Weg außerhalb der Bündnisse hat es für Deutschland nicht gegeben.
Im Forschungsbericht zeichnet Wettig die wesentlichen Positionen aus Publizistik und Fachliteratur nach. Neben den beiden eingangs angerissenen Einschätzungen, die Wettig als "Angebotsthese" und "Propagandathese" vorstellt, wurden die Noten verschiedentlich als Disziplinierungsinstrument gedeutet, mit dem Moskau sich der anhaltenden Gefolgschaft Ost-Berlins versichern wollte. Angesichts der realen Machtverhältnisse im Einflussbereich Stalins standen derlei Motive kaum im Mittelpunkt Moskauer Überlegungen. Dies ist ein Fazit von Wettigs Analyse. Angesichts seiner Beweisführung im Hauptteil überrascht es nicht, dass er im Resümee auch der "Angebotsthese" nichts abgewinnen kann.
Im Ganzen führt der Band neben der guten Übersicht über die gängigen Forschungspositionen zur Stalin-Note vom 10. März 1952 noch einmal wesentliche Verwicklungen sowjetischer Deutschlandpolitik nach 1945 vor Augen. Man muss der angebotenen Interpretation, wie gesehen, nicht immer folgen. In der Frage der Stalin-Note indes ist, beim heutigen Forschungs- und Quellenstand, die Einschätzung Wettigs weiterhin überzeugend.
Anmerkungen:
[1] Vgl. insgesamt Jürgen Zarusky (Hg.): Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002; Peter Ruggenthaler (Hg.): Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007. Zuletzt: Peter Ruggenthaler: Neutrality for Germany or stabilization of the Eastern bloc? New evidence on the decision-making process of the Stalin Note, in: Imposing, maintaining, and tearing open the Iron Curtain. The cold war and East-Central Europe, 1945-1989, ed. by Mark Kramer / Vít Smetana, Lanham 2014, 149-169.
[2] Vgl. u.a. Gerhard Wettig: Stalin and the cold war in Europe, 1939-1953. Genesis and development of East West conflict, Lanham 2008.
[3] Protokoll Gespräch Stalin mit Zhou Enlai, 19.9.1952, in: Sovetsko-Kitajskie otnošenija, Band V,2: 1949-fevral' 1950, Moskau 2005, 330-335, hier 333.
Andreas Hilger