Henriette Harich-Schwarzbauer: Hypatia. Die spätantiken Quellen. Eingeleitet, kommentiert und interpretiert (= Sapheneia. Beiträge zur Klassischen Philologie; Bd. 16), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, XII + 385 S., ISBN 978-3-0343-0699-7, EUR 82,90
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Das Leben und die Bedeutung Hypatias haben (nicht nur) in der jüngeren Forschung vielfach Beachtung gefunden. Unterschiedliche Interessensgebiete wie die Gender-Studien, die Beschäftigung mit Bildung und Kultur in der Spätantike, Analysen des Verhältnisses von Reichsgewalt und Kirche, Untersuchungen zur Entwicklung und Eigenart verschiedener Formen des Neuplatonismus, Studien zur Gewalt oder solche zur Geschichte der Naturwissenschaften sowie historische Porträts Alexandrias haben der Forschung und Lehre dieser Philosophin und ihrer Rolle im Schülerkreis, in ihrer Heimatstadt oder auch in der Geistes-, Kultur-, Kirchen-, Politik- oder Sozialgeschichte die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet. Wer die teilweise diametral einander entgegengesetzten Thesen kennt, könnte in einer umfangreichen Studie, die im Haupttitel nur den Namen Hypatia nennt und im Untertitel ergänzt "Die spätantiken Quellen. Eingeleitet, kommentiert und interpretiert" eine kritische Bestandsaufnahme in Rückbindung an die Quellen erwarten. Doch haben bereits zahlreiche Einzelstudien von Henriette Harich-Schwarzbauer zum Thema deutlich gemacht, dass das nunmehr vorgelegte umfassende Werk eine davon recht verschiedene Zielsetzung verfolgt. Es basiert auf einer 1997 an der Universität Graz angenommenen Habilitationsschrift, deren Konzeption, Methode und Interpretationszugang "nicht wesentlich verändert" wurden, obgleich die seither erschienene Literatur "einbezogen" wurde (XI). Diese bemerkenswerte Beharrungskraft in einem höchst dynamischen Umfeld verweist auf ein besonders eigenwilliges, irritationsresistentes Forschungsdesign.
Behandelt werden Texte von Synesios von Kyrene (21-167), von den Kirchenhistorikern Sokrates (169-216) und Cassiodor/Epiphanius (217-230), aus Damaskios' Lebensbeschreibung des Philosophen Isidor (231-293), ein dem Epigrammatiker Palladas zugeschriebenes Gedicht (295-315), kurze Bemerkungen in einem Fragment der verlorenen Kirchengeschichte Philostorgs (317-322) und in einem aus Hesychios' "Onomatologos" schöpfenden Artikel in der Suda (323-334) sowie eine Notiz in Malalas' Weltchronik (335-340). Jeweils sind kurze Einleitungen vorangestellt, die Autoren und Werke weder bibliographisch noch systematisch summarisch erschließen, sondern eher wie Pasticcios wirken. Alle Texte sind originalsprachlich bequem zugänglich gemacht, wegen eines fehlenden textkritischen Apparates aber für weiterführende wissenschaftliche Arbeit unbrauchbar; ihnen sind deutsche Übersetzungen beigegeben. Im Zentrum aber stehen Kommentierungen zu einzelnen Wörtern oder längeren Ausschnitten.
Es gelingt nicht, durchgängige Problemstellungen zu erkennen: Banale Bemerkungen und triviale Einzelinformationen finden sich neben ausführlichen Stellungnahmen zu Forschungskontroversen oder eigenen Überlegungen. Die Einleitung möchte einen Forschungsstand etablieren, indem jeweils für das 18., das 19. und das 20. Jahrhundert einzelne Publikationen skizziert werden, die als "repräsentativ" bezeichnet werden (5), ohne dass man explizit erführe oder implizit erschließen könnte, worin ihre allgemeine oder spezifische Beispielhaftigkeit besteht. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist es überdies höchst verwunderlich, dass die dann im Hauptteil besprochenen Texte ohne weiteres als "Quellen" bezeichnet werden. Denn der Status jedweder Überlieferung als "Quelle" ergibt sich doch erst durch die Fragestellung(en) [1]. Diese werden nicht eigens expliziert; immerhin gibt es die programmatische Aussage, dass die Texte als Literatur analysiert werden sollen, die Wirklichkeit nicht abbilde, sondern gestalte. Dabei sei es das Ziel, "die Texte zu Hypatia in ihrem Kontext mit Hilfe der historisch-philologischen Methode unter Einbeziehung literaturwissenschaftlicher Interpretationsansätze systematisch zu erfassen. Je nach Text und Problemstellung werden intertextuelle, rezeptions- und produktionsästhetische Zugänge gewählt" (3f.).
Anscheinend als selbstverständlich wird vorausgesetzt, was dann ein zu untersuchender Text sei. Nirgends wird nämlich dargelegt, wie die jeweils analysierte Einheit konstituiert ist. Aber beispielsweise zur Rekonstruktion von Synesios' Bild von Hypatia tragen doch nicht nur die Briefe bei, die an sie gerichtet sind oder ihren Namen erwähnen, sondern auch solche, in denen Aspekte beleuchtet werden, die für ein Porträt der Philosophin eine Rolle spielen. In der vorliegenden Studie sind diese oft nur indirekt durch Verweis auf die wissenschaftliche Literatur präsent, die meist aber recht zufällig herangezogen wirkt. Irritierend ist auch, dass manche Texte wie die epp. 5, 133, 137 oder "An Paionios" gerade nicht vollständig, sondern nur in Abschnitten besprochen werden, ohne dass erläutert würde, warum gerade (und nur) diese ausgewählt sind. Hätte es außerdem nicht nahe gelegen, wäre es vielleicht sogar notwendig gewesen, die Briefe in der vom Corpus gegebenen Reihenfolge zu behandeln, wenn man - eine These Hoses weiterführend [2] - der Ansicht ist, dass die Briefsammlung ihrerseits als kunstvolle Komposition zu verstehen ist? Der Empfehlung einer "seriellen Lektüre" (152) kann man in dieser Präsentation jedenfalls nicht folgen.
Unbestritten darf man in vielen der zitierten Texte mit Anspielungen und "Hypotexten" rechnen. Ob solche wirklich vorliegen, muss jeweils genauer begründet werden, als das etwa in der Besprechung eines Palladas zugeschriebenen Gedichtes auf Hypatia (AP 9,400) geschieht, wo Hypatia mit großem Respekt eingeführt wird (προσκυνῶ): "Wenn für Palladas davon auszugehen ist, dass er Hypatia als platonische Philosophin einstuft und daher einen platonischen Subtext aufruft, kann für προσκυνῶ Intertextualität mit rep. 469b geltend gemacht werden. In der Politeia (468b-469b) wird erörtert, wie derjenige zu ehren sei, der im Krieg gefallen ist. ... Indem der platonische Referenzrahmen für Palladas angenommen wird, ergibt sich, dass im Epigramm auf die tote Philosophin Bezug genommen wird und das Epigramm nach 415 entstanden ist" (307). Selbst wenn man der Voraussetzung zustimmt, bleiben sowohl die allgemeine Folgerung als auch die spezielle Behauptung unbegründet, dass das Wort προσκυνῶ genüge, einen inhaltlich völlig anderen Subtext in Platons "Staat" zu evozieren. Im konkreten Fall kommt überdies nicht in den Blick, dass eine viel näher liegende Parallele bei Damaskios vorliegt, wo es heißt, dass die ganze Stadt Hypatia "über alle Maßen geschätzt" habe (p. 79,13 Zintzen: προσεκύνει διαφερόντῶς): Harich-Schwarzbauer verweist in ihrem Kommentar dieser Stelle stattdessen auf Belege für προσκυνεῖσθαι (274f), obwohl das Verb bei Damaskios doch im Activum verwendet ist.
Solche Gedankensprünge und Blindstellen finden sich allenthalben und lassen die Studie als eine Zusammenstellung von Assoziationen erscheinen, die auch dann nicht disziplinär verankert sind, wo man ihnen gerne folgen würde.
Anmerkungen:
[1] O.G. Oexle: Was ist eine historische Quelle? in: Rechtsgeschichte 4 (2004), 165-186.
[2] M. Hose: Synesios und seine Briefe. Versuch der Analyse eines literarischen Entwurfs, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 27 (2003), 125-141. Der daran anschließende Versuch von Harich-Schwarzbauer: Zum Werkcharakter der Briefe des Synesios von Kyrene, in: H. Seng / L.M. Hoffmann (Hgg.): Synesios von Kyrene. Politik - Literatur - Philosophie, Turnhout 2013, 96-109, einen kompositionellen Rahmen von ep. 1 über den Höhepunkt ep. 101 zu ep. 154 zu erweisen, scheitert schon äußerlich daran, dass die epp. 155 und 156 als "Abgesang" sachlich ignoriert werden müssen.
Tassilo Schmitt