Rezension über:

Reinhard Schneider: Vom Dolmetschen im Mittelalter. Sprachliche Vermittlung in weltlichen und kirchlichen Zusammenhängen (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Heft 72), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 195 S., ISBN 978-3-412-20967-4, EUR 29,90
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Rezension von:
Claudia Garnier
Fach Geschichte, Universität Vechta
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Garnier: Rezension von: Reinhard Schneider: Vom Dolmetschen im Mittelalter. Sprachliche Vermittlung in weltlichen und kirchlichen Zusammenhängen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/22688.html


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Reinhard Schneider: Vom Dolmetschen im Mittelalter

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Als der Franziskaner Wilhelm von Rubruk im Jahr 1253 mit dem Mongolenkahn Möngke verhandelte, brach die Unterredung plötzlich ab. Denn sein Dolmetscher ("interpres") hatte sich während des Gesprächsverlaufs so sehr betrunken, dass er irgendwann seine Tätigkeit einstellte. Ohne diese Unterstützung musste der Franziskaner die Konversation unvermittelt beenden. [1] Zwar stehen hier eher die Fehlleistungen als die Leistungsfähigkeit eines Dolmetschers im Mittelpunkt, doch die Episode zeigt, wie unverzichtbar seine Tätigkeit mitunter sein konnte.

Mit der vorliegenden Studie greift Reinhard Schneider einen zentralen Aspekt mittelalterlicher Kommunikation auf - eines Themas, das im Zuge des "cultural turn" in den Geschichtswissenschaften intensiv bearbeitet wurde. Obwohl nur wenige Themen in den beiden vergangenen Dekaden ein vergleichbares Interesse auf sich gezogen haben, wurden im Rahmen der mediävistischen Kommunikationsforschung "kurioserweise konkretere Sprachfragen und die Dolmetscherthematik weithin vernachlässigt" (30). Dass sich Reinhard Schneider mit seiner Studie nun anschickt, dieses Desiderat zu füllen, verdient hohe Anerkennung. Denn neben wenigen Einzelstudien kann er auf keine größeren Vorarbeiten aufbauen. Den thematischen Zugriff erschwert schließlich auch der Umstand, dass keine spezifische Textgattung für die Fragestellung herangezogen werden kann, sondern diplomatische Quellen wie narrative Texte jeglicher Art über das Phänomen informieren, und das zumeist auch nur beiläufig.

Reinhard Schneider definiert den Dolmetscher als einen Sprach(ver)mittler, der in lateinischen Texten vor allem unter dem Begriff "interpres" begegnet und dessen Aktivitäten nicht selten über die rein sprachliche Transferleistung hinausgingen. Auch entsprechende Erläuterungen und Erklärungen konnten in sein Metier fallen. Im Volkssprachlichen sind seit dem 13. Jahrhundert die dem Slavischen entlehnten Termini "tolmetsche" oder "tolke" belegt; seltener die aus dem arabischen Kulturkreis vom Institut des Dragoman abstammenden Bezeichnungen "tragemunt" oder "dragoman." Zwar versteht Schneider unter dolmetschen in erster Linie die "sprachlich vermittelnde Tätigkeit in vorwiegend oder ausschließlich mündlicher Kommunikation" (38). Er weist jedoch darauf hin, dass die in der Moderne vorgenommene Unterscheidung zwischen der Sprachvermittlung des Dolmetschers im mündlichen und der des Übersetzers im schriftlichen Bereich in den mittelalterlichen Jahrhunderten nicht mit derselben konsequenten Trennschärfe vorgenommen werden kann.

Obwohl die Vorstellung eines "lateinischen Mittelalters" einen mühelosen sprachlichen Austausch in Wort und Schrift suggeriert, gerieten diese Verständigungsmodi schnell an ihre Grenzen. Davon zeugt nicht zuletzt die Existenz von "Behelfssprachen", die im Handelsverkehr eine zumindest rudimentäre Basis der Interaktion boten. Doch selbst Kleriker konnten im mündlichen Austausch schnell an der Leistungsfähigkeit des Lateinischen scheitern, dessen Aussprache im Norden und Süden Europas offensichtlich so unterschiedlich war, dass es zu unüberwindbaren Verständnisproblemen kommen konnte. Wenn bereits das Lateinische Probleme bereiten konnte, mag es kaum verwundern, dass die Hürden im volkssprachlichen Austausch vor dem Hintergrund einer Vielzahl regionaler Dialekte und Mundarten ungleich höher waren. Der Einsatz von Dolmetschern war daher auf den unterschiedlichsten Ebenen notwendig.

Reinhard Schneider führt seine Leserschaft in seiner knapp 160 Textseiten umfassenden Studie auf eine Reise vom 5. bis in das 15., partiell sogar bis in das 16. Jahrhundert. Der Binnenkommunikation in den jeweiligen mitteleuropäischen Reichen gilt ebenso sein Interesse wie den Außenkontakten der weltlichen Höfe und der Kurie. Letztere werden sogar bis in den Orient verfolgt. Die Ausführungen berühren viele wichtige Aspekte des Themas, doch vieles wird aufgrund des überblickhaften Charakters des Bandes eben nur angeschnitten. An vielen Stellen ließen sich die Befunde vertiefen; an manchen Stellen wirkt die kursorische Abhandlung wichtiger Aspekte erschreckend oberflächlich - etwa wenn Fremdsprachen, deren Kenntnisse und Bedeutungen in der höfischen Kommunikation auf knapp zwei Seiten skizziert werden (113f.) Dass hingegen der Literalisierungsgrad mittelalterlicher Könige und Königinnen vergleichsweise ausführlich abgehandelt und sogar durch einen Exkurs zur eigenhändigen Unterschrift des Herrschers (57-60) ergänzt wird, entspricht der konzeptionellen Logik der Studie nur bedingt.

Vertiefte Einsichten bieten die Ausführungen zu den allgemeinen Rahmenbedingungen für Dolmetscher (Kap. VII, 119-152). Sie diskutieren wichtige Fragen nach der Methode der Sprachvermittlung, die entweder sinngemäß oder "de verbo ad verbum" erfolgen konnte; sie widmen sich den Aspekten der Zuverlässigkeit der Übersetzungen und wenden sich schließlich der Qualifikation der Dolmetscher zu (Anforderungen und Ausbildung). Schließlich richtet Reinhard Schneider seinen Blick auf die Provenienz und soziale Stellung der Dolmetscher, für die es seiner Meinung nach jedoch kein systematisches Kriterium gab: "Betonen lässt sich, dass sich eine bunte Palette ergibt von Geistlichen niederen wie höheren Ranges, von Fürsten und Herren, Bürgern und Händlern [...]" (144). Doch gerade an dieser Stelle sind weiterführende Überlegungen nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar. Denn Dolmetscher kamen in der Regel dann zum Einsatz, wenn mit auswärtigen Funktionsträgern oder an fremden Höfen kommuniziert wurde. Waren sie zudem an Verhandlungen oder der Ausfertigung wichtiger Abkommen beteiligt, rückten ihre Aktivitäten schnell in den Verantwortungsbereich von Gesandten, für die es zumindest im Früh- und Hochmittelalter ebenso wenig ein klares Anforderungs- und Sozialprofil gab. Über welche Kompetenzen verfügten die unterschiedlichen Dolmetscher? Und hier mögen ihr sozialer Status bzw. ihre Position in der kirchlichen Hierarchie sicherlich die wichtigsten Unterscheidungskriterien gewesen sein. Wo waren inhaltliche Schnittmengen zwischen dem vormodernen Gesandtschafts- und Dolmetscherwesen und wie veränderten sie sich?

Zum Abschluss sei eine letzte methodische Frage aufgeworfen: Reinhard Schneider widmet sich zentralen Akten direkter Kommunikation. Sprachliche Verständigung spielte in einer face-to-face-Situation unbestreitbar eine zentrale Rolle. Doch oftmals wurde sie ergänzt oder unterstützt durch zeichenhaftes Handeln; Gesten und Symbole konnten mitunter sprachliche Probleme überbrücken oder auch im Gegenteil provozierend wirken. Nicht ohne Grund fungierten die Dragomane am osmanischen Hof der Frühen Neuzeit eben nicht nur als Dolmetscher, sondern auch als kulturelle Vermittler im Bereich der Zeremonialpraxis. [2] Ob der von Reinhard Schneider explizit formulierte Verzicht, nonverbale Kommunikationsformen in die Analyse miteinzubeziehen (39), hier nicht wertvolles und weiterführendes Erkenntnispotential verschenkt, kann zumindest diskutiert werden - zumal der Verfasser selbst im letzten Kapitel des Buchs, in dem er einschlägige Bildzeugnisse von der Trajan-Säule über den Teppich von Bayeux bis hin zum Sachsenspiegel (Kap. VIII, 147-152) präsentiert, immer wieder auf die Gestik der Akteure und deren Bedeutung hinweist.

Obwohl sich die Qualität einer Studie selbstverständlich nicht allein am Register der Orts- und Personennamen bemessen lässt, hätte man sich im vorliegenden Fall eine größere Sorgfalt gewünscht. Nicht alle im Text erscheinenden Belegstellen sind als solche im Register verzeichnet. Ebenso stören mitunter Nachlässigkeiten bei der formalen Korrektur.

Nicht zuletzt aufgrund der ungeheuren Materialfülle, die für die Thematik gesammelt wurde, wird der Studie künftig eine breite Rezeption sicher sein.


Anmerkungen:

[1] Guillelmus de Rubruc: Itinerarium, in: Sinica Franciscana I. Itinera et relationes Fratrum Minorum saeculi XIII et XIV, hg. von Anastasius van den Wyngaert, Quaracchi / Florenz 1929, XXVIII, 18, 251.

[2] Tijana Krstić: Of translation and empire. Sixteenth-century Ottoman imperial interpreters as Renaissance go-betweens, in: The Ottoman World, hg. von Christine Woodhead, London / New York 2011, 130-142.

Claudia Garnier