Rezension über:

Arvid Schors: Doppelter Boden. Die SALT-Verhandlungen 1963-1979 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XXVII), Göttingen: Wallstein 2016, 530 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1814-4, EUR 46,00
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Rezension von:
Rolf Steininger
Universität Innsbruck
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Rolf Steininger: Rezension von: Arvid Schors: Doppelter Boden. Die SALT-Verhandlungen 1963-1979, Göttingen: Wallstein 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/29513.html


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Arvid Schors: Doppelter Boden

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Am 26. Mai 1972 unterzeichneten US-Präsident Richard Nixon und der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew in Moskau den SALT I-Vertrag. Am 18. Juni 1979 unterschrieben Breschnew und US-Präsident Jimmy Carter in Wien den SALT II-Vertrag. SALT steht für Strategic Arms Limitation Talks, also Gespräche zur Begrenzung strategischer Rüstung. (Das Akronym wurde Anfang 1968 von einem Mitarbeiter der amerikanischen NATO-Vertretung in Brüssel eingeführt.) (59)

Beide Vertragsunterzeichnungen wurden zwar von den Zeitgenossen als große diplomatische Ereignisse wahrgenommen, ihre eigentlichen Ziele - wenn es die denn waren -, nämlich die Begrenzung der strategischen Waffen, wurden nicht erreicht. Im Gegenteil, die Zahl der nuklearen Gefechtsköpfe vervierfachte sich im genannten Zeitraum, SALT II wurde gar nicht ratifiziert.

Arvid Schors zitiert einen Kollegen folgendermaßen, um das Problem zu verdeutlichen: "Few arms were controlled, let alone, reduced." [1] Mit den Worten von Schors: Nicht die formellen Ergebnisse von SALT, "sondern die Verhandlungen selbst waren das Entscheidende". Deren Geschichte beschreibt er hier.

Die Verhandlungen begannen am 17. November 1969 in Helsinki. US-Präsident Richard Nixon und seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger ging es dabei primär um zwei Dinge, nämlich erstens Moskau dazu zu bringen, "zur Lösung des Vietnamkonflikts Druck auf die Nordvietnamesen auszuüben" (80). Dafür war man bereit, der Sowjetunion den gewünschten Status der Gleichberechtigung zuzubilligen; Verhandlungen gleichsam auf Augenhöhe, und zweitens im nuklearen Bereich die Vormachtstellung der USA zurückzugewinnen (89). Nach dem Kubadebakel hatte die Sowjetunion nämlich massiv aufgerüstet. Sie besaß inzwischen "genug Waffen, um die ganze Welt zu zerstören". [2] Als Nixon am 12. Februar 1969 über das nukleare Kräfteverhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion informiert wurde, war seine erstaunte Reaktion "Whack! 5 to 1 [zur Zeit der Kubakrise 1962] and we're now even."(86) Als erstes wurde der Aufbau eines Raketenabwehrsystems mit offensiven Minuteman-Interkontinentalraketen beschlossen. Daraufhin waren die Sowjets zu Gesprächen bereit.

Die Entwicklung bis zum 26. Mai 1972 zeichnet Schors auf ca. 150 Seiten detailliert nach. Und da wird deutlich, warum aus seiner Sicht diese Verhandlungen - und nicht so sehr das Ergebnis - das Entscheidende waren. Erstmals gab es überhaupt sowjetisch-amerikanische Abrüstungsverhandlungen! Das war eine Sensation an sich. Détente nannte man das.

Anhand in erster Linie amerikanischer Akten und der Erinnerungen der damaligen Akteure zeigt Schors, wie sich die zwei Delegationen anfangs verhielten, nämlich "wie Hunde, die sich beschnüffelten" (181). Bei den Sowjets gab es ein chronisches Misstrauen gegenüber den Amerikanern; bei Kontakten mit ihnen trugen z.B. alle permanent Abhörgeräte am Körper (163). Erst allmählich wurde ein gewisses gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufgebaut - ohne dass man allerdings in der Sache weiterkam. Während der gesamten Verhandlungen zeigten sich die Sowjets abgeneigt, spezifische Angaben über ihre Systeme und deren Aufstellung zu machen. Lediglich wenn die Amerikaner bestimmte Angaben machten, stimmten die Sowjets zu, "und dann auch meistens nur durch Schweigen". [3]

Das Nichtwissen des sowjetischen Chefunterhändlers Wladimir Semjonow kommentierte Breschnew angeblich so: Dann könne dieser "wenigstens keine Geheimnisse verraten" (162). Während die Delegationen erfolglos verhandelten, zeigt Schors im Detail auf 100 Seiten, wie Kissingers geheime backchannel-Politik am eigenen Außenmister vorbei auch in diesem Fall funktionierte - bis zum erfolgreichen "Durchbruch" bei dessen geheimen Besuch in Moskau im April 1972, als er der Sowjetunion zu Breschnews Erstaunen mehr Raketen zubilligte als dem eigenen Land. Dabei wurden allerdings die viel zitierten MIRVs (Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles, also Mehrfachsprengköpfe - bis max. 10 - auf Atomraketen, die unabhängig voneinander ihr Ziel treffen konnten) nicht erwähnt. Nixon und Kissinger hofften, den technologischen MIRV-Vorsprung lange halten zu können.

Schors schildert ausführlich das Gipfeltreffen in Moskau im Mai 1972 (283-291). Dabei hätte allerdings der unmittelbare Zusammenhang zwischen SALT-Vertrag, Ostverträgen, dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin von 1971 und dem Vietnamkrieg stärker betont werden müssen. Trotz massivster amerikanischer Luftangriffe und Verminung der nordvietnamesischen Häfen sagten die Sowjets das Gipfeltreffen ja nicht ab. Sie brauchten SALT, um damit die amerikanische Zusage für das Berlin-Abkommen zu bekommen (die erst in Moskau gegeben wurde), was wiederum Voraussetzung für die Bonner Ratifizierung des Moskauer Vertrages vom August 1970 war, der für den Kreml höchste Bedeutung hatte. Nixon brauchte das Gipfeltreffen zum einen wegen Vietnam, zum andern wegen dessen öffentlicher Wirkung im Vorfeld der Präsidentenwahl 1972. An echter Rüstungskontrolle war er nicht interessiert. Jene Mitglieder der eigenen SALT-Delegation, die daran interessiert waren, waren für ihn "assholes" (310).

Sein Nachfolger Gerald Ford sah das offensichtlich anders. Beim Treffen mit Breschnew im November 1974 in Wladiwostok fanden beide einen Modus Vivendi, "um ihre atomaren Rüstungsprogramme weiter zu reglementieren" (359). Wladiwostok war, so Schors, "der Scheitelpunkt der Entspannungspolitik" (387).

Von da an ging es allerdings bergab. Fords Nachfolger, Jimmy Carter, wurde von einem "geradezu missionarischen Eifer angetrieben, das Problem der atomaren Rüstung zu lösen" (392). Er glaubte, er könne "make lions lie down with lambs" (so sein Berater Lloyd Cutler, 403) - und scheiterte. Als er und Breschnew am 18. Juni 1979 in Wien den SALT II-Vertrag unterschrieben, attackierte Senator Henry Jackson in Washington den Vertrag als "Beschwichtigung in seiner reinsten Form" (459). Im amerikanischen öffentlichen - negativen- Bewusstsein der Wiener Zeremonie blieb der "Bruderkuss" zwischen Breschnew und Carter.

Die Entspannungspolitik war zu Ende: Die Sowjetunion betrieb eine expansive Außenpolitik in Afrika und eine massive Aufrüstung im "Graubereich" von SALT II: Stichwort SS 20 - Mittelstreckenraketen mit Dreifachsprengköpfen. Am 12. Dezember 1979 reagierte der Westen mit dem NATO Doppelbeschluss, am 27. Dezember 1979 marschierten die Sowjets in Afghanistan ein. Carter bat den Senat, die Ratifizierung von SALT II auszusetzen.

Fazit: Schors zeigt in seiner spannend geschriebenen, quellengesättigten Studie - manchmal übertreibt er es allerdings mit den englischen Originalzitaten -, wie ergebnis(los) orientiert verhandelt und das Ergebnis dann öffentlich als Erfolg "verkauft" wurde (SALT I), bis die Realität der sowjetischen Politik diese Art von Verhandlungen (SALT II) ad absurdum führte. Aber zumindest gab es diese Verhandlungen.


Anmerkungen:

[1] Avis Bohlen: The Rise and Fall of Arms Control, in: Survival 45 (2003), 7-34, hier 17.

[2] So der sowjetische Ministerpräsident Kossygin zum deutschen Botschafter in Moskau, Helmut Allardt. Vgl. Allardt an Auswärtiges Amt, 24.7.1969, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland [AAPD] 1969, München 2000, Dok. 244. (Diese Edition zieht Schors für seine Darstellung leider nicht heran.)

[3] So das amerikanische Delegationsmitglied Raymond Garthoff am 2. Juni 1972 zu den NATO-Verbündeten in Brüssel, in: AAPD 1972, München 2003, Dok. 176.

Rolf Steininger