Rezension über:

Eckart Conze / Martin Klimke / Jeremy Varon (eds.): Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s (= Publications of the German Historical Institute Washington D.C.), Cambridge: Cambridge University Press 2017, XVI + 370 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-1-107-13628-1, GBP 90,00
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Rezension von:
Nikolas Dörr
Universität Bremen
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Nikolas Dörr: Rezension von: Eckart Conze / Martin Klimke / Jeremy Varon (eds.): Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s, Cambridge: Cambridge University Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 7/8 [15.07.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/07/30491.html


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Eckart Conze / Martin Klimke / Jeremy Varon (eds.): Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s

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In den vergangenen zehn Jahren sind zahlreiche Publikationen über das Ende der Entspannungspolitik und den Beginn des zweiten Kalten Krieges erschienen. Der Schwerpunkt der meisten Veröffentlichungen liegt dabei einerseits auf der politischen Dimension des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, andererseits auf den Friedensbewegungen. [1] Inzwischen liegen auch Werke vor, die Spezialaspekte [2] und die Lokalgeschichte [3] thematisieren. Der hier rezensierte Sammelband will einen anderen Blickwinkel einnehmen, indem die Beiträge auf nukleare Bedrohungen und Ängste sowie deren Rückwirkungen auf Kultur, Gewohnheiten und Politik fokussieren. Die Beiträge basieren auf der Konferenz "Accidental Armageddons. The Nuclear Crisis and the Culture of the Second Cold War, 1975-1989", die 2010 am Deutschen Historischen Institut in Washington stattfand. Die Herausgeber Eckart Conze, Martin Klimke und Jeremy Varon sind mit zahlreichen Publikationen zur Geschichte der Sicherheit, der Gewalt und von Protestbewegungen als Experten für das Thema ausgewiesen.

Die 15 thematischen Beiträge sind in vier Blöcke unterteilt, die sich 1. den semantischen Konstruktionen und Entwicklungen nuklearer Bedrohungen und Ängste, 2. deren Rezeptionen in der Populärkultur, 3. lokalen und transnationalen Protestakteuren sowie 4. deren Rückwirkungen auf die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger widmen. Innovativ ist die Synthese aus Umwelt- und Sicherheitsgeschichte, die sich in dem Begriff der "nuklearen Angst" widerspiegelt. Für das Verständnis der Entstehung und Entwicklung der meisten Grassroots-Bewegungen und Grünen Parteien seit den späten 1970er Jahren ist diese doppelte nukleare Bedrohung durch Atomwaffen einerseits und Unfälle infolge der friedlichen Nutzung von Atomenergie andererseits von zentraler Bedeutung. Mit dem Reaktorunfall im Atomkraftwerk Three Mile Island, dem NATO-Doppelbeschluss bzw. der anschließenden Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Westeuropa, US-Präsident Reagans Verkündung der Strategic Defense Initiative, der NATO-Übung Able Archer 83 und dem Super-GAU von Tschernobyl wurden diese Ängste innerhalb von nur sieben Jahren (1979-1986) kontinuierlich bestärkt.

In ihrer Einleitung zeigen die Herausgeber am Beispiel des US-amerikanischen Fernsehfilms "The Day After" (1983) die Wechselwirkungen nuklearer Ängste zwischen Populärkultur, Gesellschaft und Politik auf. Knapp 100 Millionen Fernsehzuschauer führten zur "probably [the] greatest attention Americans had paid to the prospect of nuclear war since the 1962 Cuban Missile Crisis". (2f.) Für Großbritannien ließe sich Ähnliches über den Fernsehfilm "Threads" (1984) sagen. Über das Medium Film wurde die nukleare Angst Teil des Alltags für Millionen von Menschen. Auch US-Präsident Reagan zeigte sich persönlich betroffen von dem Film.

Wilfried Mausbach führt im ersten thematischen Aufsatz in das für die Entstehung der Atomängste in den frühen 1980er Jahren zentrale Konzept des "nuklearen Winters" ein. Eckart Conze analysiert anschließend Verweise auf die Geschichte des Nationalsozialismus im politischen Diskurs. Von der Friedensbewegung, aber auch ihren Gegnern, sei die NS-Geschichte um 1980 vermehrt verwendet worden, um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen und den Kontrahenten zu delegitimieren. Er zählt eindrucksvolle Beispiele wie den "nuklearen Holocaust" (85ff.), die Bezeichnung von Pershings als "fliegende Verbrennungsöfen" (88) oder von Raketenbasen als Konzentrationslager (87f.) auf. Conze plädiert überzeugend dafür, die NS-Referenzen von verschiedenen Seiten der Friedensbewegung nicht nur als Warnung vor atomarer Massenvernichtung, sondern auch als Kritik gegenüber einer technisch-industriellen Moderne zu verstehen, die Auschwitz hervorgebracht hat.

Dass auch außerhalb Deutschlands im antinuklearen Protest argumentativ auf den Nationalsozialismus rekurriert wurde, zeigt sich in dem Beitrag von Natasha Zaretsky über den Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island. So schrieb eine besorgte Bürgerin an die von US-Präsident Carter eingesetzte Kemeny-Kommission zur Untersuchung des Vorfalls, dass die Amerikaner "expendable as German Jews" (73) würden, wenn sich die Nutzung der Atomenergie weiter ausbreite.

Besonders aufschlussreich ist der Beitrag von Susanne Schregel, der die Auswirkungen von Mikropolitik auf die Weltpolitik am Beispiel des Engagements lokaler Gruppen für atomwaffenfreie Zonen analysiert. Schregel zeigt auf, dass im Sinne des "Make your Town a Nuclear Free Zone" (215) der lokale Aktivismus mit globalem Denken gepaart war und transnationale Wirkung entfaltete.

Der Aktivismus an der Basis wirkte sich auch auf die höchsten politischen Stellen aus. So zeigt Lawrence S. Wittner auf, wie die Reagan-Administration auf den Druck der antinuklearen Bewegungen mit einer offensiven Gegenkampagne reagierte, um ihre "Peace-through-Strength"-Strategie zu rechtfertigen. Tim Geiger und Jan Hansen analysieren den Einfluss der Friedensbewegung auf die SPD, die sich schließlich "traumatized by the protest against the anticipated Armageddon" (309) in der Opposition und in Konkurrenz zu den Grünen neu definieren musste.

Die osteuropäische Perspektive wird bis auf den Beitrag von Thomas Goldstein über den Schriftstellerverband der DDR weitgehend ausgeblendet. Dies ist bedauerlich, da die nuklearen Ängste auch in Osteuropa prägend waren und Einfluss auf Kultur, Alltag und Politik nahmen, insbesondere wenn man bedenkt, dass die größte Nuklearkatastrophe der Geschichte 1986 im sowjetischen Tschernobyl stattfand. [4] Ähnliches ließe sich für den asiatischen Raum und Lateinamerika sagen. Für Westeuropa und die USA vermisst der Sammelband jedoch dieses weite Forschungsfeld. Einzelbeiträge setzen sich mit der Situation in Westdeutschland, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich auseinander. Weitere Aufsätze behandeln Entwicklungen in transnationaler Perspektive.

Mit der Fokussierung auf den "novel mix of atomic-age fears" (4) vor Atombomben und Atomkraftwerken bietet der Sammelband einen neuen Blickwinkel auf das Ende der Détente und den Zweiten Kalten Krieg. Alle Beiträge weisen eine hohe wissenschaftliche und sprachliche Qualität auf. Das umfassende Sach- und Personenverzeichnis sowie Literatur- und Quellenverweise machen den Sammelband auch zu einem guten Nachschlagewerk.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011; Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970-1985, Frankfurt/M. / New York 2011; Christoph Becker-Schaum u.a. (Hgg.): "Entrüstet Euch!" Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012; Leopoldo Nuti u.a. (Hgg.): The Euromissile Crisis and the End of the Cold War, Washington D.C. 2015; Andrew S. Tompkins: Better Active than Radioactive! Anti-Nuclear Protest in 1970s France and West Germany, Oxford 2016; Claudia Kemper (Hg.): Gespannte Verhältnisse. Frieden und Protest in Europa während der 1970er und 1980er Jahre, Essen 2017.

[2] Vgl. Jan Hansen: Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977-1987), Berlin / Boston 2016; Claudia Kemper: Medizin gegen den Kalten Krieg. Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre, Göttingen 2016; Jan Ole Wiechmann: Sicherheit neu denken. Die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977-1984, Baden-Baden 2017; Stephen Milder: Greening Democracy. The Anti-Nuclear Movement and Political Environmentalism in West Germany and Beyond, 1968-1983, Cambridge / New York 2017; Sebastian Kalden: Über Kreuz in der Raketenfrage. Transnationalität in der christlichen Friedensbewegung in Westeuropa 1979-1985, Baden-Baden 2017.

[3] Vgl. Burkhard Hergesell: "Petting statt Pershing!" Die Hafenblockade der Friedensbewegung in Bremerhaven 1983, Bremen 2012; Ina Metzner: Friedensbewegung in Erfurt 1978 bis 1983, Erfurt 2010; Bernd Holtwick / Nathalie Andries: Zerreißprobe Frieden. Baden-Württemberg und der NATO-Doppelbeschluss. Katalog zur Sonderausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart 2004.

[4] Vgl. Melanie Arndt (Hg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin 2016; Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Tschernobyl. Der Super-GAU und die Stasi, Berlin 2016.

Nikolas Dörr