Rezension über:

Pamela Geldmacher: Re-Writing Avantgarde. Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst, Bielefeld: transcript 2015, 373 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3265-1, EUR 39,99
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Rezension von:
Anja Foerschner
The Getty Research Institute, Los Angeles, CA
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
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Anja Foerschner: Rezension von: Pamela Geldmacher: Re-Writing Avantgarde. Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst, Bielefeld: transcript 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/28335.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Pamela Geldmacher: Re-Writing Avantgarde

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[Zu diesem Beitrag liegt eine
Stellungnahme von Pamela Geldmacher vor.]

Die Verortung und Historisierung von Performancekunst bleibt von größter Wichtigkeit für den kunstwissenschaftlichen, konservatorischen und musealen Bereich. Wie lassen sich Kunstformen, die sich bewusst gegen ein Greifbarmachen sperren, ja sich sogar aus dieser Weigerung generiert haben, einreihen in die Kunstgeschichte? Die Debatte um die Bedeutung der materiellen Überreste ephemerer Kunst seit den späten 1950er-Jahren, wie sie etwa von Peggy Phelan oder Amelia Jones geführt wird, ist mehr als lebendig. [1] Ein anderer Ansatz ist die Betrachtung performativer Kunstformen vor der bereits geschriebenen Kunstgeschichte selber, die Auseinandersetzung mit Aspekten der Performancekunst und deren Ableitung aus den künstlerischen Ausdrucksformen der Vergangenheit. Dies ist der Ansatz, den Pamela Geldmacher in ihrem 2015 beim transcript-Verlag erschienenen Buch "Re-Writing Avant-Garde. Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst" verfolgt. Sie verknüpft jüngste Formen der Performancekunst mit der historischen Avantgarde. Dazu wählt sie vier Konzepte, im Buchtitel präsent, welche sie sowohl in den ihrer Zeit vorausgreifenden Sparten der bildenden Kunst des europäischen frühen 20. Jahrhunderts, als auch den Performances des frühen 21. Jahrhunderts, erkennt: Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation. Anhand dieser Konzepte versucht Geldmacher eine Neubetrachtung der historischen Avantgarde zu leisten, insbesondere deren oftmals beschworenes "Scheitern" als unzutreffend zu entlarven. Gleichzeitig geht sie der Frage nach, wo die performative Kunst heute steht, wenn man sie "mit einer neu zu lesenden Avantgarde" (333) zusammendenkt. Dieses ambitionierte Projekt wird auf knapp 350 Seiten mit umfassenden, weit reichenden und viele Disziplinen umfassenden, Forschungsansätzen dargelegt. Die Idee, historische Avantgarde und zeitgenössische Performance - beide in der Kunstgeschichte gelesen als politisch motivierter, vollständiger Bruch mit existierenden ästhetischen Normen - ist spannend und neu, kommt in Geldmachers Buch jedoch nicht zur vollen Entfaltung.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Nach einem umfangreichen Überblicksteil, welcher sich einer ausführlichen Untersuchung der begrifflichen "Prolegomena" und der "Konstellationen" des Performativen und der Avantgarde widmet, folgt eine systematische Abarbeitung der vier Konzepte, entlang welcher Geldmacher ihr Thema entwickelt. Mit ihrer klugen Verhandlung, Neubetrachtung und gegebenenfalls Neudefinierung der Begriffe der "Performance" und der "Avantgarde" beweist die Autorin Weitsicht. Zu oft werden diese Begriffe, welche je eine Vielzahl von Kunstformen umfassen und kontextuellen Nuancen unterliegen, in der zeitgenössischen Kunstwissenschaft unreflektiert verwendet. Im zweiten Teil des Buches wird dann jedes Kapitel, nun erweitert um einen Zusatz (Fortschritt / Kontinuität; Utopie / Gegenwärtigkeit; Künstler / Kollektiv; Künstler / Zuschauer), mit der Beschreibung eines zeitgenössischen Performancewerkes eröffnet. Die Autorin wählt dabei lebendige, jüngere Beispiele aus dem mitteleuropäischen Bereich wie etwa SIGNA, Andreas Liebermann oder Via Negativa.

Im Anschluss an die Werkbeschreibung widmet sich die Autorin jeweils der Verortung des titelgebenden Konzeptes in Performancekunst und historischer Avantgarde und zeigt dabei Parallelen in den knapp 100 Jahre auseinanderliegenden Kunstformen. Diese Auseinandersetzung gestaltet sich sehr gründlich und bedient sich eines breiten Spektrums an Theorien aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen. Damit bewegt sich Geldmacher in der Tradition der wissenschaftlichen Erforschung von Performancekunst im westlichen Kulturkreis, in welcher Erkenntnisse aus der Sprachphilosophie, Anthropologie, Politik, der Gender-Forschung, den bildenden und darstellenden Künsten, der Sozialwissenschaft, Kulturtheorie etc. zusammenfließen. [2] Auch erhält der Leser dadurch, weit über das eigentliche kunstgeschichtliche Thema des Buches hinaus, Wissen aus den unterschiedlichsten Bereichen vermittelt. Doch liegt genau darin auch eine Schwachstelle des Buches. Statt sich auf einige wenige, aber nützliche Disziplinen und Theorien zu konzentrieren, verfolgt das Buch eine Vielzahl von Pfaden, deren Relevanz für das Argument nicht immer deutlich wird.

Eine gründliche Straffung würde der Klarheit von Geldmachers Argument helfen. So lenkt beispielsweise die über acht Seiten lange, überblicksartige Erörterung von "Utopie", die sich von Hobbes bis Gustafsson erstreckt, bevor sie sich einem Überblick der Utopie in der Kunst zuwendet, etwas vom eigentlichen Forschungsgegenstand ab. Auch ist die intensive Untersuchung des futuristischen Manifestos, welches bereits von Kunstwissenschaftlern wie RoseLee Goldberg als performativ verstanden wurde, durchaus lehrreich, aber auch etwas disruptiv zwischen zwei Kapitel über den Futurismus eingeschoben.

Eine direktere Ausdrucksweise würde Geldmachers Argument ebenfalls greifbarer machen. Sätze wie "Kunst und Nicht-Kunst werden zur Diffusionsmasse, eine avantgardistische Grundidee schreitet unentwegt weiter und lässt etwaige zeitliche Disparitäten außen vor" (92) oder: "Die in den Avantgarden entwickelten Dynamiken haben somit Verschiebungen erfahren aus denen Entwicklungen entstanden sind, die für heutige Künstler maßgeblich erscheinen, um eingedenk des Dilemmas der Institutionskritik einerseits und dem zumeist notwendigen Gebrauch eben dieser Institutionen andererseits produktiv tätig zu sein" (76) folgen zwar bekannten Formeln der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst, lesen sich allerdings nicht immer leicht.

Es bleiben einige grundsätzliche Fragen offen, wie etwa inwiefern die von der Autorin herausgegriffenen Konzepte nicht auch in anderen Kunstformen des 20. und 21. Jahrhunderts relevant sind, wie in etwa dem Action Painting, dem Happening oder der Video Art. Es wäre zudem interessant zu wissen, inwiefern die Autorin die von ihr in der Performancekunst und der historischen Avantgarde hervorgehobenen Konzepte als ausschließlich auf die genannten Performancebeispiele zutreffend sieht, oder sie sich als Grundsatz einem weiteren Kreis von Arbeiten zuordnen lassen.

Geldmachers Argument ist aber ohne Zweifel ein intelligenter Beitrag zur Performanceforschung. Es lässt sich unter anderem als eine höchst interessante Alternative etwa zu RoseLee Goldbergs linear sich fortentwickelndem, chronologischen Verständnis der Performance lesen, welche sie in den historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts verortet und bis in die heutige Zeit verfolgt. [3]


Anmerkungen:

[1] Siehe unter anderem Peggy Phelan: Unmarked: The Politics of Performance, London 1993; Amelia Jones und Adrian Heathfields Sammelband "Perform, Repeat, Record, Live Art in History", London 2012; oder Jones' "Presence in Absentia: Experiencing Performance as Documentation", in: Art Journal 56 (1997), Nr. 4.

[2] Etwa RoseLee Goldberg: Live Art since 1960, London 1998; Marvin Carlson: Performance. A Critical Introduction, London 1996; Erika Fischer-Lichtes Arbeiten wie Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004; die Bücher Richard Schechners wie Between Theater and Anthropology, Philadelphia 1985; oder Performance Theory, London 1988; oder Adrian Heathfield: Live: Art and Performance (mit Hugo Glendinnig), London 2004, um nur einige wenige zu nennen.

[3] RoseLee Goldberg: Performance. Live Art 1909 to the Present, London 1979.

Anja Foerschner