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Barbara Stambolis: Aufgewachsen in "eiserner Zeit". Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, Gießen: Psychosozial 2014, 160 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-8379-2358-2, EUR 19,90
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Rezension von:
Sarah Bornhorst
Berlin
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Sarah Bornhorst: Rezension von: Barbara Stambolis: Aufgewachsen in "eiserner Zeit". Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, Gießen: Psychosozial 2014, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 3 [15.03.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/03/28288.html


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Barbara Stambolis: Aufgewachsen in "eiserner Zeit"

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Schon lange widmet sich die historische Forschung nicht mehr nur militärischen und politischen Aspekten des Ersten Weltkriegs. Seit Jahrzehnten stehen auch Alltagserfahrungen unterschiedlicher Gruppen und verschiedene Deutungen des Kriegserlebnisses im Fokus der Analyse. [1] Barbara Stambolis konstatiert gleichwohl im Gedenkjahr des Kriegsausbruchs 2014 ein Forschungsdesiderat: die Kriegserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Deutschen Reich, insbesondere deren "psychisch-mentale[s] Gepäck" (7) und die damit verbundenen Prägungen des weiteren Lebens. Erklärtes Ziel von Stambolis ist es, die Fragen der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs nach möglicherweise ähnlichen Erfahrungen ihrer Eltern zu beantworten. Sie möchte "einen vorsichtigen historischen Brückenschlag zwischen Kindheits- und Jugenderfahrungen im bzw. nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg anbieten, dem hoffentlich weitere, detailliertere Untersuchungen folgen werden" (8). Das gelingt, allerdings liegt das Feld nicht ganz so brach und ist seit Jahrzehnten unbearbeitet wie von der Autorin dargestellt. [2]

Im "Jahrhundert des Kindes" (Ellen Key) sahen sich Kinder und Jugendliche von Beginn an hohen Erwartungen als Ressource künftiger, auch kriegerischer Entwicklungen gegenüber. Den Erfahrungen, die Kinder dabei machten, spürt Stambolis in sechs Kapiteln nach, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt haben, aber dennoch in chronologischer Abfolge aufeinander aufbauen. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf die Kriegszeit des Ersten Weltkriegs und die Langzeitfolgen für dessen Kindergeneration, wie der Titel nahelegt. Der Zeitrahmen geht weit darüber hinaus, und so erschließen sich den Leserinnen und Lesern Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Wandel des Erziehungsbildes in der NS-Zeit bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs.

Die kompakte und mit 160 Seiten konzentrierte Studie widmet sich diesem Thema unter Auswertung unterschiedlicher Quellengattungen. Eine wichtige Ressource sind Texte zeitgenössischer bürgerlicher Autoren mit sozialreformerischen Ansätzen und deren Blick auf Kinder. Kriegskinder selbst kommen in der Retrospektive zu Wort, und Heranwachsende des Zweiten Weltkriegs referieren die Berichte ihrer Eltern über den Ersten Weltkrieg. Literarische Selbstzeugnisse liegen von bürgerlichen Autoren, aber vereinzelt auch von Angehörigen der Arbeiterschaft vor. Ergänzt wird dieses Material durch behördliche Unterlagen aus dem Raum Münster und durch (foto-)grafische Quellen.

Die Abwesenheit der Väter sei ein zentrales Thema, so der Befund der Autorin. Und tatsächlich zieht sich die "Vaterlosigkeit" wie ein roter Faden durch den Untersuchungszeitraum. Über Jahrzehnte hinweg blieb die (scheinbare) Gefahr des vaterlosen Aufwachsens von Kindern, insbesondere von Jungen, in der Fachliteratur präsent. Stambolis plädiert deshalb für eine intensivere Beschäftigung mit "Vaterlosigkeit" als Langzeitthema im 20. Jahrhundert. [3]

Das alltägliche Leben von Kindern im Krieg (wie die anfängliche Kriegsbegeisterung auch von Jugendlichen, der kriegsbedingte Schulausfall, die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern an Sammlungen für die Kriegsführung und schließlich die massive Verschlechterung der Grundversorgung) ist bereits in anderen Darstellungen erläutert worden. [4] Dieser Teil hätte - angesichts der insgesamt knappen Abhandlung - zugunsten anderer Analyseaspekte gekürzt dargestellt werden können. Zu Recht weist Stambolis allerdings darauf hin, dass nicht von einheitlichen Erfahrungen aller Heranwachsenden gesprochen werden kann. Es müsse nach sozioökonomischen und altersmäßigen Gruppen unterschieden werden.

Im Abschnitt über Kinder als Kriegsopfer zeigt Stambolis deutlich die Instrumentalisierung von kindlichen Erfahrungen und kindlichem Leid für politische Zwecke: Die mangelhafte Versorgung von Kindern dienten nach Kriegsende als moralischer Vorwurf an die alliierten Sieger, die für diesen Missstand verantwortlich seien: "Indem die deutsche Zivilbevölkerung als Opfer des Krieges dargestellt wurde, ließ sich die Frage nach den tatsächlichen Kriegsursachen und nach deutscher Schuld in eine Frage nach der Leidensgeschichte unschuldiger Kinder umwandeln" (88). Linke Politiker verfuhren unter umgekehrten Vorzeichen ähnlich. Aus ihrer Perspektive waren die für den Krieg verantwortlichen Politiker Schuld an der Notsituation der Kinder. Im 'Dritten Reich' endet der Diskurs um diese Not. Nun dominieren kriegsverherrlichende Publikationen und es setzt sich ein "heroisierendes Narrativ" (119) durch. Damit einhergehend bildet nun die "eiserne Zucht" (118) das absolut dominierende Erziehungsideal.

Der Vergleich zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bezogen auf die kindliche Erfahrungsebene hätte sicherlich weiter differenziert werden können. So gab es zwar bereits im Ersten Weltkrieg militärische Kriegshandlungen auf deutschem Gebiet, die auch im Text geschilderte Bombardierung südwestdeutscher Städte. Allerdings bestehen doch wesentliche Unterschiede zwischen dem Ersten Weltkrieg, dessen nachhaltigste Erfahrung an der deutschen "Heimatfront" der Hunger war, und dem Zweiten Weltkrieg, der sich in den letzten Monaten flächendeckend auf deutschem Territorium und damit in der unmittelbaren Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen abspielte. Die Unterschiede werden dargelegt, aber analytisch nicht erschöpfend verknüpft. Dies liegt auch an der Schwierigkeit eines "psychohistorischen Vergleichs" der Erfahrungen, da hier gerade für den Ersten Weltkrieg notwendige Befunde fehlen würden. Hier hätte sich die Rezensentin ausgehend von den vorliegenden Forschungsergebnissen zum Ersten wie zum Zweiten Weltkrieg gewünscht, die Autorin hätte die eine oder andere thesenhaftere Zuspitzung zu den Auswirkungen unterschiedlicher Kriegsrealitäten gewagt.

Verdienst des Bandes ist es, das Thema Kriegskindheiten in einer deutschsprachigen Studie zusammenfassend und erweitert dargestellt zu haben. Der kompakte, gut lesbare Überblick fügt umfassend Quellen zusammen und bietet damit einen guten Einstieg. Wer sich schon mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft an der so genannten "Heimatfront" auseinandergesetzt hat, für den bietet das Buch allerdings wenig Neues.


Anmerkungen:

[1] Zur Lebenswelt von Frauen im Ersten Weltkrieg etwa siehe Ute Daniel: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 84), Göttingen 1989. Eine umfassende Gesamtschau dieser Forschungsergebnisse bietet die in mehrfacher Neuauflage von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz herausgegebene Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004 sowie auch die seit 2014 abrufbare Online-Enzyklopädie "1914-1918 online. International Encyclopedia of the First World War" der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Bayerischen Staatsbibliothek, vgl. www.1914-1918-online.net.

[2] Ein epochenübergreifender Überblick erschien 2016: Alexander Denzler / Stefan Grüner / Markus Raasch (Hgg.): Kinder und Krieg. Von der Antike bis in die Gegenwart (= Historische Zeitschrift, Beiheft Neue Folge; Nr. 68), Berlin / Boston 2016.

[3] Instruktiv für die Nachkriegszeit ab 1945 siehe Lu Seegers: "Vati blieb im Krieg". Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert - Deutschland und Polen (= Göttinger Studien zur Generationsforschung; Bd. 13), Göttingen 2013. Seegers zeigt deutlich auf, dass "Vaterlosigkeit" - neben einer realen Erfahrung - auch ein sehr starkes, sinnstiftendes Narrativ für die "Generation Kriegskinder" war.

[4] Unter anderem in der auch von Stambolis zitierten Studie von Andrew Donson: Youth in the Fatherless Land. War Pedagogy, Nationalism, and Authority in Germany 1914-1918 (= Harvard Historical Studies; Vol. 169), Cambridge, MA / London 2010, sowie beispielhaft für Freiburg, aber weit über eine Lokalgeschichte hinausreichend, Roger Chickering: The Great War and Urban Life in Germany. Freiburg, 1914-1918 (= Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare; Vol. 24), Cambridge u.a. 2007 (deutsch 2009).

Sarah Bornhorst