Rolf Kießling / Frank Konersmann / Werner Troßbach: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg (1350-1650), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 329 S., ISBN 978-3-412-22226-0, EUR 30,00
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Reiner Prass: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650-1880), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 245 S., ISBN 978-3-412-22227-7, EUR 30,00
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Gunter Mahlerwein: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 3: Die Moderne (1880-2010), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 230 S., ISBN 978-3-412-22228-4, EUR 30,00
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Franz-Werner Kersting / Clemens Zimmermann (Hgg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015
Reinhild Kreis: Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters, Frankfurt/M.: Campus 2020
Ruud Filarski / Gijs Mom: Shaping Transport Policy. Two centuries of struggle between the public and private sector. A comparative perspective, Den Haag: SDU Uitgevers 2011
Reiner Prass / Jürgen Schlumbohm / Gérard Béaur / Christophe Duhamelle (Hgg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003
Helmut Flachenecker / Rolf Kießling (Hgg.): Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, München: Bayerische Akademie der Wissenschaften 2005
Rolf Kießling / Wolfgang Scheffknecht (Hgg.): Umweltgeschichte in der Region, Konstanz: UVK 2012
Angesichts der gravierenden Veränderungen, die die Disziplin der Agrargeschichte in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, war es überfällig, eine neue Gesamtdarstellung zur Agrargeschichte Deutschlands auf den Weg zu bringen. In dem - trotz des grundlegenden Charakters immer noch handlichen und vor allem auch bezahlbaren - dreibändigen Überblickswerk werden die letzten knapp 700 Jahre aus der Perspektive der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft Deutschlands geschildert und angesichts neuer Forschungserkenntnisse und -orientierungen neu erzählt. Ermöglicht wurde das durch die Rentenbank, die das Unternehmen förderte, einerseits, durch die Gesellschaft für Agrargeschichte, die inhaltlich, personell und strukturell das Projekt vorantrieb, andererseits.
Alle drei Bände fokussieren die Agrargeschichte mit Blick auf Deutschland, was zumindest für die Bände 1 und 2 eine Herausforderung ist, gab es doch dieses Deutschland als politische Einheit nicht oder nur in sehr anderen Grenzen als heute. Wenn auch die räumliche Abgrenzung nach außen wenig begründet und explizit gemacht wird, so zeichnen sich doch alle drei Bände dadurch aus, dass sie vor allem auf regionale Entwicklungspfade eingehen und somit die deutsche Agrargeschichte regional aufschlüsseln und als verflochtene Geschichten darstellen. Der Nordosten, der Südwesten und Westfalen werden als 'hotspots' der agrarhistorischen Forschung besonders häufig als regionale Beispiele angeführt. So wird auch deutlich: Von einer deutschen Agrargeschichte kann gar nicht die Rede sein, zu unterschiedlich und langlebig sind die regionalen Prägungen, nicht nur naturräumlicher, sondern auch rechtlicher und kultureller Art. Besonders gut eignen sich diese Regionen auch deshalb für die Darstellung regionaler Spezifika, weil ausführliche Forschungen zu ihnen vorliegen; andere Regionen werden punktuell angesprochen, sind aber schon aufgrund des lückenhaften Forschungsstandes viel schwerer in die übergreifenden Thesen einzuordnen.
Zudem ist den drei Bänden gemeinsam, dass sie sich um die Integration neuer Ansätze in die klassische Agrargeschichte bemühen. So werden in allen drei Bänden neuere umwelt- und klimageschichtliche Aspekte diskutiert; die Wissensgeschichte hat einen festen Platz, und auch die Geschlechterverhältnisse werden in Bezug auf die ländliche Sozialordnung diskutiert - mal separat, wie im ersten Band durch ein sehr lesenswertes Kapitel, das von Dorothee Rippmann beigesteuert wird, mal integriert wie im zweiten Band, in dem Reiner Prass sich um eine umfassende Analyse der ländlichen Gesellschaft bemüht.
So unterschiedlich wie die Autoren und abgedeckten Epochen, so unterschiedlich sind die Bände auch insgesamt in ihrer Anlage und Struktur. Der erste Band beschäftigt sich übergreifend mit der Frage, wie die Bevölkerungskrisen zu Beginn und zum Ende des Untersuchungszeitraums zu erklären sind [1]. Daneben werden viele Details der hochmittelalterlichen Landwirtschaft und der Transformationen im Übergang zur Frühen Neuzeit dargestellt und erläutert, von Wandlungen der Anbaumethoden bis hin zu den Veränderungen der Agrarverfassung (damit eher klassische Themen der Agrargeschichte), aber auch die Stadt-Land-Beziehungen werden ausführlich diskutiert, Protestformen beschrieben und die Rolle von Religion und Geschlechterverhältnissen für die ländliche Sozialordnung beschrieben. Nicht alle diese Details lassen sich in die abschließenden Thesen einfügen, die vor allem auf klimatische Veränderungen, regionale Ausdifferenzierung und landwirtschaftliche Innovationen abzielen, sind aber dennoch von Interesse, runden sie doch das Panorama ab.
Der zweite Band ist durch eine chronologische Gliederung gekennzeichnet und widmet sich den grundlegenden Wandlungen, die die ländliche Gesellschaft zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs und dem späten 19. Jahrhundert durchmachte. In drei Perioden, der Rekonstruktionsphase bis 1750, der Zeit von Volksaufklärung und Agrarreformen bis 1820 und der Zeit des "Umbau[s] der ländlichen Gesellschaft" bis 1880 widmet sich Reiner Prass zunächst den Veränderungen des Wirtschaftens, skizziert im Anschluss regionale Entwicklungspfade, bevor er sich den kulturellen Wandlungen der ländlichen Gesellschaft zuwendet. Er verdeutlicht, dass nicht nur strukturelle Wandlungen das Antlitz der ländlichen Welt verändert haben, sondern die großen Transformationen bis in die Mentalität der Menschen auf dem Land vordrangen. Dabei fanden die Veränderungen nicht kontinuierlich, sondern durchaus schubweise und konfliktreich statt; diese Beobachtungsperspektive ist dem Fokus auf die Praktiken und Handlungsmöglichkeiten der ländlichen Akteure selbst geschuldet, die nicht nur passiv die Veränderungen auf der Makroebene erlitten, sondern durch ihr alltägliches Handeln selbst zu diesen Wandlungen beitrugen.
Den dritten Band hat der Autor Gunter Mahlerwein nach den Produktionsfaktoren der Landwirtschaft gegliedert. Es geht um Boden, Kapital, Arbeit und Wissen, um den Agrarmarkt, die Agrarpolitik und globale Verflechtungen der Landwirtschaft. Diesen Faktoren geht er jeweils chronologisch nach; separate Abschnitte sind jeweils der DDR-Landwirtschaft gewidmet, die damit gleichberechtigt neben die Agrargeschichte der Bundesrepublik tritt. Dieser zunächst sperrig wirkende Aufbau des Buchs hat den Vorteil, dass die grundlegenden Wandlungen der Landwirtschaft im "langen" 20. Jahrhundert deutlich hervortreten: das beginnt beim Einsatz von externen Energiequellen und ist mit der Veränderung der Arbeitsverhältnisse noch lange nicht beendet. Deutlich wird aber auch, dass die Veränderungen der deutschen Landwirtschaft im 20. Jahrhundert nicht unter eine einzige These zu stellen sind; zu wichtig bleiben auch hier regionale Entwicklungspfade, die in verschiedenen Regionen Deutschlands und angesichts extrem unterschiedlicher rechtlicher, kultureller und politischer Rahmenbedingungen beispielsweise unterschiedliche Besitzgrößen und -streuungen bevorzugt haben. Übergreifender Fokus der Darstellung ist laut Herausgeber Clemens Zimmermann das Konzept der ambivalenten Moderne, die als Periode mit klarer Entwicklungsrichtung, aber ohne normative Vorannahmen dargestellt werden soll. Positive und negative Effekte der Moderne auf dem Land treten gleichberechtigt nebeneinander. So wird die wachsende Möglichkeit zur Individualisierung der ländlichen Akteure ebenso deutlich wie der Zwang zum "Weichen" der kleinen Betriebe (zumindest in bestimmten Regionen); die Produktivitätszuwächse der Landwirtschaft sind ohne die ökologischen Kosten nicht zu verstehen.
Bedauerlicherweise widmet sich kein Band genauer der Forschungsgeschichte. Dass eine erschöpfende Geschichte der Agrargeschichtsschreibung hier keinen Platz hat, versteht sich von selbst; ein knapper Überblick über bisherige Ansätze, Thesen und Methoden hätte aber noch mal deutlicher machen können, welche Neuorientierung die "Grundzüge der Agrargeschichte" leisten. Am stärksten ist die Forschungsorientierung noch im zweiten Band integriert, da Prass permanent Thesen der Forschung diskutiert, ältere Thesen angemessen einordnet und neuere Thesen reflektiert. Diese Auseinandersetzung mit (und nicht nur Wiedergabe) der Forschung hätte auch den anderen beiden Bänden sehr gut getan.
Jeweils für sich genommen sind die drei Bände der "Grundzüge" empfehlenswert für Neueinsteiger der Agrargeschichte ebenso wie für Spezialisten bestimmter Felder, denn sie sind detailreich, ansprechend bebildert und bieten ein gründliches Panorama des momentanen Wissensstandes der Agrargeschichte Deutschlands. Doch eine grundlegende Irritation bleibt zurück, weil eine gemeinsame Handschrift des Unternehmens nur schwer zu erkennen ist. Das beginnt bereits beim Aufbau: Alle Bände sind so unterschiedlich gegliedert, dass eine Benutzung über die hier gewählten Epochengrenzen nicht leicht fällt. Zudem haben die Bände im Grunde auch alle unterschiedliche Gegenstände: Was ist eigentlich Agrargeschichte - die Geschichte der Landwirtschaft, die des ländlichen Raums oder der ländlichen Gesellschaft, die der bäuerlichen Produzenten? Diese ungeklärte Frage hat auch zur Folge, dass das Verhältnis zwischen Agrargeschichte und allgemeiner Geschichte in jedem Band unterschiedlich aufgefasst, aber nicht insgesamt diskutiert wird. Natürlich ist die Frage auch für jede Epoche unterschiedlich zu beantworten, doch gerade für die neueren Epochen wäre es wünschenswert gewesen, dieser Frage systematischer nachzugehen. Reiner Prass fasst die ländliche Welt explizit in ihren vielfältigen Wechselverhältnissen mit städtischen Lebensverhältnissen, verknüpft systematisch Mikro- und Makroebene und zeichnet damit nicht nur ein Bild der ländlichen Gesellschaft als einem besonderen Ausschnitt, sondern ermöglicht Einblicke in eine allgemeine Gesellschaftsgeschichte der Frühmoderne. Demgegenüber ist die Agrargeschichte der Moderne, die Gunter Mahlerwein erzählt, weitestgehend die Geschichte eines in seiner Bedeutung schrumpfenden Sektors der Wirtschaft und Arbeitswelt. Dies ist zum Teil dem Narrativ des Strukturwandels geschuldet, aber doch auch der Entscheidung, die Agrargeschichte nur als Geschichte der bäuerlichen Produzenten, nicht aber als eine der ländlichen Gesellschaft oder des ländlichen Raums zu erzählen. Dadurch drängt sich der Eindruck auf, dass die Agrargeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert eine Separatgeschichte ist, die zu einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte nur wenig beizutragen hat. Aufgefangen wird dieser (falsche) Eindruck jedoch vom letzten Kapitel des Bandes, der nach der Stellung des ländlichen Raums in der Gegenwartsgesellschaft fragt und damit den Fokus auch wieder über den engeren agrarwirtschaftlichen Bereich hinaus öffnet.
Dennoch, die "Grundzüge der Agrargeschichte" sind ein Muss für jeden, der sich genauer mit der Geschichte ländlicher Gesellschaften auseinandersetzt. Zusammen mit dem beinahe schon zum Klassiker aufgestiegenen Gemeinschaftswerk von Troßbach und Zimmermann zur "Geschichte des Dorfes"[2] und den europäischen Gesamtunternehmungen der letzten Jahre [3] bilden die drei Bände der "Grundzüge" ein solides Fundament für die weitere Auseinandersetzung mit der ländlichen Gesellschaft in Deutschland. Deutlich wird vor allem, wie unterschiedlich die Forschung, auf die die Autoren jeweils zurückgreifen konnten, in den einzelnen Epochen aufgestellt ist und welche Ansätze epochenspezifisch vorherrschen. Vor allem zeugen die Bände davon, dass es sich nicht um ein abschließendes Resümee eines Forschungsfeldes handelt, sondern dass in allen hier behandelten Epochen wichtige Fragen noch auf ihre Erforschung warten.
Anmerkungen:
[1] Ausführlich diskutiert Georg Fertig die Plausibilität der Argumentation in seiner Rezension auf HSK: Georg Fertig: Rezension zu: Rolf Kießling / Frank Konersmann / Werner Troßbach: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 1. Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg (1350-1650). Mit einem Beitrag von Dorothee Rippmann, Köln 2016 ; Reiner Prass: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 2. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650-1880). Herausgegeben und eingeleitet von Stefan Brakensiek, mit einem Beitrag von Jürgen Schlumbohm, Köln 2016; Gunter Mahlerwein: Grundzüge der Agrargeschichte. Band 3. Die Moderne (1880-2010). Herausgegeben von Clemens Zimmermann, Wien 2016 , in: H-Soz-Kult, 11.01.2017, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22191 [letzter Abruf: 29.04.2017].
[2] Werner Troßbach / Clemens Zimmermann: Die Geschichte des Dorfes, Stuttgart 2006.
[3] Vor allem zwei aktuelle Publikationsreihen sind da zu nennen: Die "Rural History in Europe" [RURHE], die vom Gérard Béaur bei Brepols herausgegeben wird und inzwischen 14 Bände umfasst, sowie die "Rural economy and society in north-western Europe, 500-2000" [RES], ebenfalls bei Brepols, die von Erik Thoen herausgegeben wird und vier Bände umfasst, die sich unterschiedlichen Aspekten einer umfassenden Geschichte der ländlichen Gesellschaft in diachroner Perspektive widmen.
Anette Schlimm