Satu Lidman / Meri Heinonen / Tom Linkinen u.a. (eds.): Framing Premodern Desires. Sexual Ideas, Attitudes, and Practices in Europe (= Crossing Boundaries: Turku Medieval and Early Modern Studies), Amsterdam: Amsterdam University Press 2017, 256 S., ISBN 978-90-8964-984-3, EUR 89,00
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Die Vorträge einer Tagung zum Thema 'Premodern Desires', die 2014 an der Universität Turku stattfand, sind nun als Sammelband erschienen. Es geht um den großen Komplex von Sexualität, Lust, Liebe, Ehe und allgemein um die Einstellung zum Körper, wie sie sich vor allem in der Literatur, aber auch in juristischen Texten vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert greifen lässt. Der englische Begriff 'desire' ist freilich gar nicht so einfach ins Deutsche zu übersetzen, was auch die recht kontrastiven Ansätze und theoretischen Vorgehensweisen der individuellen Autoren zu erkennen geben. Gemeint ist sowohl physisches Verlangen als auch Liebesempfinden, sexuelle Lust und Sehnsucht nach der geliebten Person, was sich in ganz unterschiedlicher Form manifestieren kann, wodurch das vorliegende Projekt von vornherein mit großen theoretischen Schwierigkeiten belastet ist, auf die leider auch die Herausgeber einleitend nicht adäquat eingehen, hören wir doch einmal von Liebe, dann von Sexualität, schließlich von sexuellen Verbrechen und deren krimineller Verfolgung.
Insgesamt gilt, dass hier der Frage nachgegangen wird, wie sich einzelne Menschen auf ihre physischen Lustgefühle eingelassen haben und wie die Gesellschaft darauf reagierte. Damit kommt sofort der Aspekt der 'Sünde' und damit des juristischen Vergehens ins Spiel, denn Sexualität hat sich schon immer als ein schwer zu kontrollierendes Phänomen erwiesen, wie die Fülle an sexuellen Perversionen, wie man sie gemeinhin bezeichnete, oder sogar Verbrechen zeigt.
Relativ wenig haben die Beiträger die internationale Forschung beachtet, wobei gerade so wichtige Arbeiten wie Niklas Luhmanns Liebe als Passion (1982) oder Studien zum Liebesphänomen in den verschiedenen Kulturepochen fehlen. Man sucht auch vergeblich nach Namen wie Ovid, Andreas Capellanus, Marie de France, Gottfried von Straßburg, Juan Ruiz, Petrarca oder Marguerite de Navarre, denn hier zählen vor allem Foucault und Laqueur u.a., dann, darauf gestützt, Shakespeare, Spenser, historisch-juristische Quellen und eine Reihe von eher unbekannten Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich zu Liebe und Sexualität geäußert haben.
Es geht z.T. ganz konkret um Vergewaltigung, Infantizid, Inzest, Prostitution und den Wunsch nach freier Liebe, wie uns Garthine Walker in ihrem einleitenden, einen Überblick auch zur Forschungsgeschichte bietenden Essay vor Augen führt. Wieso sie aber überhaupt in Erwägung zieht, ob Vergewaltigung auch mit 'desire' in Verbindung gebracht werden kann, so als ob wir diese Form sexuellen Verbrechens sorgfältiger in ihrer jeweiligen historischen Bedingung zu kategorisieren und manchmal vielleicht sogar zu entschuldigen hätten, scheint mir doch ziemlich bedenklich zu sein (15-16). Sie behauptet aber, dass sich die Beziehung zwischen Vergewaltigung und männlicher Sexualität zwischen 1500 und 1800 erheblich geändert habe, freilich ohne Belege dafür zu liefern oder diese Behauptung adäquat zu fundieren, geschweige denn zu erklären. Was soll es denn heißen, wenn sie schlussfolgert: "What we might aim for are histories of desire and its implications that do not simply plot rape onto familiar existing narratives of premodern and modern sexualities" (17). Nützt eine solche Gedankenkette etwa hinsichtlich des 'Bestsellers' Apollonius von Tyrus oder Chaucer's Wife of Bath's Tale? [1] Dann aber warnt uns Walker wieder zu Recht davor, die Geschichte der (Homo)Sexualität anachronistisch zu betrachten, muss doch der jeweils relevante Kontext berücksichtigt werden (18). Genau dem würde ich betont zustimmen.
Die Beiträger betrachten verschiedene juristische Situationen vor allem in Schweden und Polen, dann das Phänomen 'desire' im Kontext der frühneuzeitlichen Literatur Englands und Frankreichs (bis zum Ende des 19. Jahrhunderts), gehen aber kaum auf die Welt des Mittelalters ein und behandeln jeweils sehr spezielle Aspekte. Ein Austausch scheint es zwischen den Autoren nicht gegeben zu haben, deren Fragestellungen sich inhaltlich auch kaum miteinander berühren, sehen wir von der globalen Thematik 'Sexualität' bzw. 'desire' ab.
Der Band gliedert sich in zwei Teile; der erste ist etwas großspurig mit "Transforming ideas and practices" betitelt, der zweite mit "Constructing passions", was relativ wenig aussagen dürfte, aber dem modernen theoretischen Jargon entspricht, wonach alle menschlichen Phänomene 'konstruiert' seien. Im ersten Teil stoßen wir auf eine Mischung von Theorie und Philologie, von Jura und Geschichte, so wenn Thomas Parry-Jones der Frage nachgeht, wie das Römische Recht die natürliche Funktion von Sex beurteilte und welche Auswirkungen dies auf die Beurteilung von monströsen Geburten haben konnte. Kathleen Smith verfolgt die Überlegung, wie wir heute, unter dem Einfluss der Theorien von Foucault, die Darstellung von sexueller Lust in spätmittelalterlichen Texten zu beurteilen hätten, wobei sie besonders das Book of Vices and Virtues (14. Jahrhundert) zu Rate zieht und auf die Problematik für die Kirche aufmerksam macht, dass die Gläubigen seit 1215 zwar mindestens einmal pro Jahr beichten mussten, dennoch oftmals wohl nicht alles gestanden haben.
Von hier springt Bonnie Clementsson in die Zeit um 1700 in Schweden, um die damals geltende sehr rigide Gesetzgebung im Bereich Inzest anhand der einschlägigen Quellen zu untersuchen. Es fällt besonders auf, dass die Gerichte bei jungen Leuten, die z.B. Trunkenheit als Rechtfertigung anführten, eher bereit waren, ein Auge zuzudrücken, während diejenigen sogar hingerichtet wurden, die schon älter waren und wiederholt sich dieses Vergehens schuldig gemacht hatten. Thomasz Wiślicz betrachtet die Situation für die Dorfjugend im frühneuzeitlichen Polen, die wesentlich stärker in ihrem moralischen Verhalten von der gesamten Gesellschaft überwacht wurde, um sexuelles Fehlverhalten generell zu unterdrücken. Allerdings stellt er ebenfalls fest, dass junge Frauen, wenn sie nicht schwanger wurden, relativ leicht Vorwürfe zurückweisen konnten und weiterhin ihre Jungfernschaft behaupten durften, obwohl sie sexuelle Kontakte gehabt hatten.
Darauf sehen wir uns mit einer stark ausgreifenden, generalisierenden Studie von Faramerz Dabhoiwala konfrontiert, die die Zeit um 1800 als den Beginn der ersten sexuellen Revolution bezeichnet, wie besonders die Situation von der ungeheuer angewachsenen Großstadt London zu bestätigen scheint. Er beobachtet einen tiefgreifenden Sinneswandel seit der Protestantischen Reformation, jedenfalls in England, wo zunehmend offen und gutheißend über Geschlechtsverkehr inner- und außerhalb der Ehe gesprochen wurde und wo sowohl Homosexualität als auch 'freie Liebe' für alle von vielen Individuen gepredigt oder gefordert wurden. Auf der anderen Seite entwickelte sich ein heftiger Diskurs über die Prostitution, die von vielen Kritikern scharf angegriffen wurde, womit das ganze Thema in ein völlig anderes Licht getaucht wird, vor allem weil Dabhoiwala gleichzeitig entdeckt, dass Homosexualität doch wieder verdammt wurde. An den von ihm herangezogenen Quellen zur sexuellen Libertinage kann man nicht rütteln, aber die große historische Entwicklungslinie vom Mittelalter bis 1900 funktioniert gar nicht gut, denn der Autor kennt sich gerade in der frühen Phase offenbar recht wenig aus und verabsolutiert die Situation in London um 1800, obwohl er sich dann selbst ziemlich widerspricht. Insgesamt leiden seine Methodik und Quellenauswahl an erheblichen Mängeln, was die globale Generalisierung nicht zu verbergen vermag.
Im zweiten Teil ruht der Schwerpunkt auf einzelnen Dichtern und Gelehrten, die sich in der Frühneuzeit mit Liebe und Passion auseinandersetzten. Carin Franzén stellt die diesbezüglichen Gedanken von François de La Rochefoucault (1613-1680), Charles de Saint-Évremond (1610-1703) und Ninon de Lenclos (1620-1705) vor, die heftig miteinander über die Beziehung zwischen Leidenschaft, Rationalität, physischer Kontrolle und Sentiments diskutierten. Karen Hollewand stellt den weniger bekannten holländischen Humanisten Hadriaan Beverland (1650-1716) vor, der sich insbesondere als Theoretiker von Sex und Pornographie betätigte, was jedoch zu seiner Verbannung und Exilierung führte, denn seine Ideen über die freie Liebe bzw. freien Sex stießen diejenigen Autoritäten vor den Kopf, denen er in seinen Schriften Engstirnigkeit vorgeworfen hatte. Juliette Lancel betrachtet die Diskussion über erotische Träume in Frankreich während des 17. und 18. Jahrhunderts, d.h. ob diese als sündig anzusehen seien oder nicht, wie dies in L'Art de se rendre heureux par les songes (1747) und in L'Art de faire des songes (1750) zur Sprache kam. Kaye McLelland geht auf das Thema ein, wie in der Renaissance Sexualität und Körperbehinderung in Verbindung miteinander gesetzt wurden, was sie insbesondere anhand von Thomas Adams Traktat und dann von Spensers Faerie Queene und Shakespeares Richard III illustriert, was insgesamt eher als problematisch in der Gesamtbetrachtung anzusehen wäre, weil es eigentlich gar nicht um Sexualität geht, sondern um die Identifizierung von Körperbehinderten mit dem lebenden Tod. Jonas Liliequist behandelt zuletzt die Situation im frühneuzeitlichen Schweden bezogen auf die männliche Einstellung zu Passion und Lust. So geht es um das Phänomen der Liebeskrankheit, die positive Bewertung von Sexualität als lebensnotwendige Naturkraft durch Carl Linnaeus (1707-1778), um die Gefahr exzessiver Lustempfindung für die physische Gesundheit, um die Problematik beim Nichtausleben von Sexualität und um Liebeswerben allgemein. Uns schwirrt geradezu der Kopf bei diesem Rundumschlag.
Zuletzt meldet sich Lois Leveen zu Wort, die im Epilog allgemein über ihre eigene Erfahrungen beim Schreiben handelt und beschreibt, von welchen Quellen (wie Boccaccio oder Shakespeare) sie beeinflusst worden ist und wie sie sich die Interaktion mit ihrem Publikum vorstellt; all dies unter der Kategorie 'desire', womit fast alles und jedes gefasst werden könnte. Der Band schließt mit biographischen Skizzen zu jedem Beiträger, obwohl am Ende jedes Aufsatzes genau die gleiche Information geboten wird, und einem zweiseitigen Index. Insgesamt erweisen sich die Arbeiten als durchaus anregend und informativ, aber das Buch ist insgesamt sehr heterogen geraten, was öfter bei der Publikation von Konferenzpräsentationen der Fall ist. Obwohl vom Titel versprochen, wird keinerlei 'Rahmen' für frühneuzeitliche Passion entworfen. Dagegen trifft es zu, so wie es im Untertitel lautet, dass sehr verschiedene Fälle sexueller Praxis, Vorstellungen über Sexualität und diesbezügliche Gesetzgebung zur Sprache kommen. Es ist und bleibt ein Sammelsurium, in dem zwar einzelne Aspekte zur frühneuzeitlichen Passion behandelt werden, wo aber gerade bei denjenigen Untersuchungen, die globalere Argumente entwickeln, wenig die einschlägige Forschung konsultiert wird.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu A. Classen: Sexual Violence and Rape in the Middle Ages, Berlin 2011; hier nicht konsultiert.
Albrecht Classen