Marina Stalljohann-Schemmel: Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 21), Berlin: De Gruyter 2016, XII + 493 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-050145-2, EUR 89,95
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Wie erscheint das Bild einer der wichtigsten Städte des Alten Reichs - das Bild der Stadt Frankfurt am Main - im publizistischen Diskurs der Jahre 1500 bis 1806? Marina Stalljohann-Schemme geht der Frage in einer umfangreichen Dissertation nach. Methodisch bedient sie sich bei der Rekonstruktion dieses Bildes der historischen Diskursanalyse und grenzt sich, ohne das näher zu erläutern, von der Identitäts- und Erinnerungsforschung ab. Sie will ergründen, wie und unter welchen Bedingungen bestimmte Aussagen über die Stadt erscheinen. Dafür hat die Autorin ein immenses Quellenkorpus gesichtet, das sie neben den einschlägigen Instituten in Frankfurt vor allem in Wolfenbüttel, in der Forschungsbibliothek Gotha und in der Forschungsstelle zur historischen Reisekultur an der Eutiner Landesbibliothek aufgetan hat: 40 Stadtlobgedichte, 40 handschriftliche und 18 gedruckte Chroniken, 66 Kosmografien, 13 gedruckte Stadtbeschreibungen v.a. des 18. Jahrhunderts, 26 handschriftliche und 105 gedruckte Reisebeschreibungen, 20 sogenannte Zeitungs-, Konversations- und Universallexika sowie etliche Zeitungsartikel. Eigenart und Funktion dieser literarischen Gattungen werden in der Einleitung jeweils ausführlich vorgestellt und in beeindruckendem Umfang im Quellenverzeichnis aufgelistet.
Wohl um eine Kontrastfolie zu dem publizistischen Bild zu erhalten, das die Autoren meist von außen gesehen von Frankfurt zeichnen, setzt Stalljohann-Schemme zunächst zu einem ambitionierten, mehr als 50-seitigen Parforceritt durch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadtgeschichte Frankfurts an, die unter allen politischen, wirtschaftshistorischen, gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen etc. Aspekten abgehandelt wird. Das wäre sozusagen die empirisch-wissenschaftliche Sicht auf die Stadtgeschichte, an der dann Maß genommen wird. Wie unterscheidet sich davon das Bild der frühneuzeitlichen Autoren? Damit gelangt Stalljohann-Schemme zu ihrem eigentlichen Thema: Frankfurt als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs. Sie gliedert es in drei Abschnitte: Topoi, die sich in den Äußerungen der zeitgenössischen Darstellungen über den gesamten Zeitraum kontinuierlich halten, solche, die nur in der frühen Periode vorhanden waren, dann aber verblassten, und solche, die im Lauf dieses Zeitraums ganz neu auftauchten. Naheliegend ist, dass die Handelsmesse und die Königswahl und -krönung (das Krönungsprozedere in Frankfurt erst ab 1562) ein Dauermotiv der verschiedenen Stadtbeschreibungen darstellen, wiewohl sich die Art der Darstellung im Lauf der Zeit veränderte. Im 18. Jahrhundert habe die Behandlung parallel zum politischen Bedeutungsverlust des Kaisertums nachgelassen. Doch gerade das 18. Jahrhundert brachte mit den Wahl- und Krönungs-Diarien eine Literaturgattung hervor, die in halboffiziöser Mission sich ausführlich dem turbulenten Geschehen während dieser mit großem Aufwand veranstalteten Feierlichkeiten widmete. Mit sechs Wahlen zuzüglich einer Huldigung für einen bereits gewählten (Josef I. 1705) waren es im 18. Jahrhundert mehr als in jedem früheren Säkulum. Es ist etwas bedauerlich, dass die Autorin die so interessante Gattung der Diarien ausgelassen hat. Bei den wirtschaftlichen Verhältnissen ist u.a. ihre Beobachtung von Interesse, dass die Autoren die Bedeutung der niederländischen Glaubensflüchtlinge, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts den entscheidenden Beitrag zum Wohlstand der Stadt geliefert haben, weitgehend ignoriert haben. Das ist erstaunlich, zumal die Glaubensflüchtlinge markante Spuren im Stadtbild hinterlassen haben: Die Goldene Waage, eines der stattlichsten Häuser in der Frankfurter Altstadt direkt vis-à-vis des Doms, wurde ab 1618 von dem Niederländer Abraham von Hameln erbaut. Es stand bis zu den Zerstörungen 1944, im Zuge der derzeitigen Rekonstruktion der verbrannten Altstadt ist es jetzt wiedererstanden. Es ist merkwürdig, dass die frühneuzeitlichen Schriftsteller von solchen markanten Symbolen des Emigrantenreichtums keine Notiz genommen haben.
Einer der älteren Topoi, die im Lauf der Zeit verblassten und schließlich ganz verschwanden, betraf die mythischen Darstellungen der Stadtanfänge. Dazu gehörte insbesondere der Mythos, die Stadt reiche zurück bis in die Antike und habe einmal den Namen Helenopolis getragen. In den Stadtlobgedichten und Chroniken hält sich dieser Mythos noch bis ins 17. Jahrhundert. Erst im späten 18. Jahrhundert bringen Aufklärung und kritisches Denken ihn allmählich zum Verschwinden. Neben Mythen sind es auch Stereotypen, die in früher Zeit das Bild, das man sich von der Stadt gemacht hat, bestimmten, etwa die Ansichten, der Magistrat sei weise, in den Stadtlobgedichten; das entsprach offensichtlich mehr einer Wunschvorstellung als der Realität. Nicht nur in Bezug auf die Mythen bringen die individuelleren und kritischeren Darstellungen des 18. Jahrhunderts dann ein differenzierteres Bild der städtischen Herrschaft zustande. Auch in dieser Individualisierung der literarischen Darstellungen erweist sich das 18. Jahrhundert immer wieder als protomodern.
Inhaltlich tritt als neuer Topos im Lauf der Zeit dann nicht von ungefähr eine stärkere Würdigung der Kultur der Stadt hervor, darunter Gelehrsamkeit, Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Was die Autoren hier in ihren Schriften zum Ausdruck bringen, entspricht einer empirisch nachvollziehbaren Entwicklung: Die säkularisierte Kulturwelt begann sich gegenüber der hergebrachten Christenwelt Raum zu verschaffen. Auch das visuelle Stadtbild oder eine nähere Schilderung der Bewohner der Stadt wurden jetzt virulent. Diese seien es aufgrund der Messen und der Kaiserwahlen gewohnt gewesen, mit Stadtfremden umzugehen und seien deshalb gastfreundlich und offen gewesen. Von außen wurde Frankfurt wegen seiner Multikonfessionalität mitunter deutlicher als tolerante Stadt wahrgenommen als in der Binnenperspektive; Reisende aus Frankreich und Italien, die aus ihren Ländern nur ein homogen katholisches Milieu kannten, registrierten es mit Erstaunen. Dass dieses Zusammenleben der Religionen und Konfessionen auch mit Schwierigkeiten behaftet und keinesfalls auf gleicher Berechtigung beruhte, steht auf einem anderen Blatt. Deutlich sichtbar war dies am Zustand der auch räumlich im Stadtgebiet abgeschotteten Judengasse, wo im 18. Jahrhundert gut 3.000 Menschen in drangvoller Enge zusammenleben mussten. Immer wiederkehrend werden von Besuchern und Reisenden der üble Geruch in der Gasse vermerkt und die Juden in die Nähe von Ungeziefer gerückt, wiewohl man auch den partiellen Reichtum und die Bildung einzelner Bewohner bewunderte. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, kurz bevor die Gettomauern fielen, finden sich bei den Beobachtern Ansätze eines kritischen Hinterfragens der unhaltbaren Zustände.
Stalljohann-Schemme breitet geradezu eine Überfülle an Stoff aus und liefert damit einen materialreichen Beitrag zu den Methoden und Medien der Fremd- und Eigenwahrnehmung einer Stadt und ihrer Wandlungen in der Geschichte.
Andrea C. Hansert