Roger Diederen / Laurence des Cars (Hgg.): Gut Wahr Schön. Meisterwerke des Pariser Salons aus dem Musée d'Orsay, München: Hirmer 2017, 275 S., 208 Farbabb., ISBN 978-3-7774-2899-4, EUR 39,90
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Zu Füßen der Schaumgeborenen prangt das verheißungsvolle Diktum "GUT WAHR SCHÖN". Die Umschlaggestaltung des Münchner Ausstellungskatalogs über die "Meisterwerke des Pariser Salons" aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führt mit dem künstlerischen Superlativ vor William Bouguereaus Venus (1879) direkt ein Schlüsselwerk der zu betrachtenden Zeit ein. Doch schon die Rückseite des Umschlags stellt dieses Motto in Frage. Dort versetzt ein weiteres Gemälde Bouguereaus die Käufer des Katalogs mit einer Darstellung viriler Gewalt im roten Schein des Höllenfeuers in Erstaunen. "Dante und Vergil" (1850) blicken entsetzt auf den mit Tollwut gestraften Erbschleicher Schicci, der den Alchimisten Capocchio anfällt. Vom Publikum wurde das Gemälde bei seiner ersten Präsentation im Salon als Grenzüberschreitung wahrgenommen und Bouguereau wandte sich daraufhin eher den weiblichen Aktfiguren zu, womit er zu einem der erfolgreichsten Künstler seiner Zeit wurde. Vorder- und Rückseite des Katalogumschlags verweisen so bereits auf das Anliegen der Autoren, die in den überaus aufschlussreichen Aufsätzen und Beiträgen über die Diversität und Diskontinuitäten innerhalb der Künste im Umfeld der École des Beaux Arts informieren.
"Nach dem Ende der Ausstellung im Januar 2018 wird dieses wunderschöne Buch, als eine der wenigen Publikationen zu dem Thema in deutscher Sprache, als Referenzwerk seine Gültigkeit behalten", heißt es im Vorwort (7). Und tatsächlich legen Diederen und des Cars mit dieser Publikation eine sicher nicht nur für den deutschsprachigen Bereich relevante Aufsatzsammlung vor, die bedeutende Erkenntnisse über die Salonkunst des 19. Jahrhunderts präsentiert. Das Thema selbst erfreute sich in den letzten Jahren weltweit wachsender Aufmerksamkeit, wie dies unter anderem durch die Publikationen des Dahesh Museum in New York [1], dessen Kurator Diederen vor seinem Wechsel nach München 2006 war, deutlich wird. Auch in München selbst wandte sich Diederen bereits der akademischen Kunst im Bereich des Orientalismus zu. [2] Zusammen mit der Direktorin des Pariser Musée d'Orsay, Laurence des Cars, die mit ihrer Monografie zu Jean-Léon Gérôme [3] ein Schlüsselwerk zur Salonkunst des 19. Jahrhunderts vorgelegt hat, präsentiert Diederen nun den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle München.
Die Publikation gliedert sich in einen Essayteil mit insgesamt vier ausführlicheren Aufsätzen zu Schwerpunktthemen der Ausstellung und einem Katalogteil, der neben den hochqualitativen Abbildungen (zum Teil mit Details auf Doppelseiten) ebenfalls kurze thematische Einführungen bereitstellt, die in loser Chronologie Geschichte und Sujets der Salonkunst des 19. Jahrhunderts vorstellen.
Den Auftakt macht Nerina Santorius mit ihrem Aufsatz "Vom Beau Idéal zum hübschen Ding" (9-17), an dessen Beginn sie konstatiert: "Der unvereinbare Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, an dem die Historienmalerei schon länger konzeptuell krankte, führte letztlich zu einer vollkommenen Orientierungslosigkeit der Künstler." (9) Santorius stellt in der Folge die Entwicklungen dar, welche aus dieser Problematisierung in der zweiten Jahrhunderthälfte hervorgehen. So verschiebe sich beispielsweise das Winckelmannsche Konzept des Idealschönen vom männlichen auf den weiblichen Akt. Wohl im Zuge dessen sei ebenfalls ein Hang zur "Stilisierung und Ornamentalisierung" (13) in der Salonkunst zu verzeichnen, wie sie sich etwa in der Rokoko-Rezeption von Cabanels "Geburt der Venus" (1863) niederschlägt. Diese Tendenz soll jedoch, so Santorius, keineswegs mit einer dekadenten "Entleerung" gleichgesetzt werden, sondern vielmehr im Kontext der staatlichen Auftragslage verstanden sein.
Ein Schwerpunkt der Ausstellung wie auch des Katalogs ist das Werk William Bouguereaus, wie dies bereits durch die Umschlaggestaltung angedeutet wird. In seinem Essay über "William Bouguereau und seine Kritiker" (19-27) spricht Paul Perrin am Beispiel dieses Malers eine grundsätzliche Problematik der Kunstgeschichtsschreibung an. Entgegen der landläufigen Meinung blieben auch die akademischen Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genauso wie die "avantgardistischen" nicht von kritischen Kommentaren verschont. Kommerzieller und sozialer Erfolg schließen harsche Kritik keineswegs aus, was aus Perrins Sammlung zeitgenössischer Besprechungen eindeutig hervorgeht. So vermissen Gautier, Laforgue oder Zola bei Bouguereau Temperament und Individualität, bemängeln die kühle Glätte und Idealisierung bis hin zum Kitsch. Die Ambivalenzen in der zeitgenössischen Kunstkritik werden zwar aufgezeigt, doch ordnet Perrin die Autoren nur selten ihren ästhetischen Strömungen zu, die zumeist einem anti-akademischen Lager entspringen.
Im Anschluss informiert Alice Thomine-Berrada über das Pariser "Museum der lebenden Künstler" (29-39), das Musée du Luxembourg, welches zwischen 1818 und 1937 "darauf zielte, auf didaktische Weise die Kunst ihrer Zeit auszustellen" (30). Sie schildert dabei überaus aufschlussreich sowohl die Geschichte des Gebäudes als auch die späteren Debatten darüber, ob das Palais du Luxembourg eher ein Museum der Kunstgeschichte oder "ein Museum des Übergangs" (37) bleiben sollte. Die Autorin weist dabei gewinnbringend auf die Verwandtschaft zwischen diesem musealen Konzept, das als Mittler zwischen Salon und königlichem Museum fungierte, und Baudelaires Idee der Moderne als Ausdruck des Flüchtigen hin.
Am Ende des Essayteils verortet Pierre Vaisse die kunsthistorische Polemik zwischen Akademie und Avantgarde "im europäischen Kontext" (41-47). Er schreibt das Narrativ einer vermeintlichen Gegnerschaft exklusiv der französischen Kunstgeschichte zu und dekonstruiert damit diese und andere Polemiken als nachträglich ideologisch konstruierte Kunstgeschichten, die den vermeintlichen Kampf zwischen Moderne und Akademismus auf das gesamte 19. Jahrhundert übertragen wollen.
Im Katalogteil werden anschließend thematische Schwerpunkte gesetzt, die sich den Abläufen innerhalb der École des Beaux-Arts, der Aktmalerei, der Antikenrezeption, der Entwicklung des Salons, dem "Grand Décor", dem Naturalismus und dem Symbolismus widmen. In ausführlichen Texten werden ausgewählte Werke mit Augenmerk auf die Salongeschichte und die zeitgenössische Kritik besprochen. Daneben wird der Leser und die Leserin mit einer kurzen chronologischen Bibliografie zum jeweiligen Werk ausgestattet.
Neben den namhaften Werken aus Malerei und Skulptur präsentiert der Katalog auch Zeugnisse aus dem akademieinternen Betrieb: darunter mehrere Ölskizzen für den Wettbewerb in 'historischer Komposition' sowie Kopien nach Alten Meistern, sogenannte "Envois" oder Handzeichnungen aus den Aktsitzungen.
Sabine Cazenaves schreibt im Katalogtext zum "Naturalismus während der Dritten Republik": "Allzu oft hat man die Kunstrichtungen, die am Ende des Jahrhunderts dominierten, einander gegenübergestellt, als handle es sich dabei um eine Pendelbewegung zwischen Klassizismus und Avantgarde oder um aufeinander reagierende Schulen, die entweder gegen den Wandel oder für die Moderne waren. [...] Vielmehr zeigt der derzeitige Forschungsstand [...], dass die Wirklichkeit wesentlich komplexer war." (203-204)
"GUT WAHR SCHÖN" führt diese Komplexität erstmals einem breiten deutschsprachigen Publikum vor Augen.
Anmerkungen:
[1] Alia Nour: Academic Splendor. 101 Masterpieces from the Dahesh Museum of Art, New York 2014. Vgl. die Besprechung der Verfasserin unter: http://www.sehepunkte.de/2018/09/28324.html.
[2] Roger Diederen / Davy Depelchin: Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, München 2010. Vgl. die Besprechung von Ekaterini Kepetzis unter: http://www.sehepunkte.de/2011/07/19009.html.
[3] Laurence des Cars: Gérôme. De la peinture à l'image, Paris 2010.
Lisa Hecht