Jan Ole Wiechmann: Sicherheit neu denken. Die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977-1984 (= Historische Grundlagen der Moderne; 16), Baden-Baden: NOMOS 2017, 465 S., ISBN 978-3-8487-3141-1, EUR 84,00
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Seit einiger Zeit entwickelt sich die Geschichte der Sicherheit zu einem Forschungsfeld, das auch innerhalb der Zeitgeschichte verstärkt Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dieses wachsende Feld wird mittlerweile auch im Rahmen von Forschungsverbünden wie dem Sonderforschungsbereich "Dynamiken der Sicherheit" (Marburg / Gießen) konzeptionell und empirisch intensiv bearbeitet. Die am Marburger Lehrstuhl von Eckart Conze entstandene Dissertation von Jan Ole Wiechmann steht in diesem Zusammenhang. Mit ihrem Fokus auf der christlichen Friedensbewegung in der Bundesrepublik am Ende der 1970er- und in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verbindet sie die Sicherheitsgeschichte mit der historischen Erforschung neuer sozialer Bewegungen und fügt sich zugleich in die ebenfalls seit etwa einem Jahrzehnt intensiv betriebene Historisierung der Epoche "nach dem Boom" ein.
Methodisch orientiert sich die Arbeit an der "neuen Politikgeschichte", die, als eine "Kulturgeschichte des Politischen", mit einem erweiterten Politikbegriff operiert und Politik vor allem als Kommunikationsprozess versteht. Dementsprechend stehen im Mittelpunkt der Studie Konzepte, Debatten und Diskurse über Sicherheit, wie sie vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 innerhalb des christlichen Spektrums der westdeutschen Friedensbewegung zum Ausdruck kamen. Diese Debatten und Konzepte werden am Beispiel ausgewählter Organisationen, Gruppen und Zusammenschlüsse sowohl aus dem evangelischen als auch dem katholischen Raum untersucht, die, wie unter anderem die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, "Ohne Rüstung leben" oder Pax Christi, eine maßgebliche Rolle innerhalb der christlichen Friedensbewegung wie der Friedensbewegung insgesamt gespielt haben.
Nach einem Überblick über die Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses und der "neuen" Friedensbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre einschließlich ihres kirchlichen beziehungsweise christlichen Segments werden die Diskurse über Sicherheit "in traditioneller Perspektive" und "in neuen Dimensionen" innerhalb dieses Segments, die auch alternative Sicherheitsstrategien implizierten, ausführlich dargestellt, eingeordnet und interpretiert. Im Hinblick auf das Verhältnis der christlichen Friedensbewegung zur Sowjetunion und zu den Vereinigten Staaten arbeitet der Verfasser heraus, dass die Frage nach amerikanischen oder sowjetischen Feindbildern für die Akteure der christlichen Friedensbewegung nicht entscheidend war. Vielmehr stand für sie das Gefühl der atomaren Bedrohung im Vordergrund, für die beide Militärbündnisse verantwortlich gemacht wurden. Die "neuen Dimensionen" der Sicherheit, die in den Debatten und Konzepten der christlichen Friedensbewegung zum Ausdruck kamen, traten besonders in der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs hervor. Sicherheit umfasste demnach auch die Problematik der Unterentwicklung in der "Dritten Welt" oder der Rüstungsexporte sowie etwa wirtschaftliche und ökologische Sicherheit und wurde dadurch entmilitarisiert. In einem weiteren Abschnitt werden "neue Konsensformeln" der "Sicherheitspartnerschaft" und der "Gemeinsamen Sicherheit" analysiert, die auch innerhalb der Friedensbewegung als Konstruktionen dienten, um die Begriffe Frieden und Sicherheit miteinander zu verbinden und biblische Prinzipien in politisches Handeln zu übersetzen.
Die Kernthese des Buches, die im abschließenden Teil zusammenfassend erörtert wird, bezieht sich auf die Stellung der christlichen Friedensbewegung im Übergang zur "reflexiven Moderne", in der die negativen "Nebenfolgen" der Modernisierung zunehmend in den Vordergrund traten. Damit schließt die Studie an das bereits zeitgenössisch entwickelte, in den Sozial- wie auch Geschichtswissenschaften jedoch nicht unumstrittene Konzept Ulrich Becks an. In einem solchen Rahmen wird die christliche Friedensbewegung mit ihrem neuen Sicherheitsverständnis und ihrer Wissenschafts- und Technikkritik als "Manifestation eines Modernitätskonflikts", als Ausdruck und zugleich Katalysator gesamtgesellschaftlicher beziehungsweise soziokultureller Entwicklungen in den 1970er- und 1980er-Jahren gedeutet. Auf diese Weise werden die Sicherheitskonzepte und -debatten in der christlichen Friedensbewegung, die in ein breites gesellschaftliches Umfeld hineinwirkten, in den allgemeinen Kontext des gesellschaftlichen und soziokulturellen Wandels "nach dem Boom" einbezogen und diskurshistorisch verortet, worin auch ein wesentliches Verdienst der Studie besteht.
Leider findet dabei keine Anknüpfung an theoretisch-methodische Ansätze zur Erforschung neuer sozialer Bewegungen statt, die mittlerweile auch in der Geschichtswissenschaft breit diskutiert und reflektiert werden. [1] Eine solche Anknüpfung hätte eine präzisere Einordnung und Kontextualisierung des christlichen Spektrums der Friedensbewegung - gerade vor dem Hintergrund der für die neuen sozialen Bewegungen insgesamt charakteristischen Modernitätskritik und Fortschrittsskepsis - sowie der Spezifika der Friedensbewegung als einer neuen sozialen Bewegung ermöglicht. Auch die innerkirchlichen Entwicklungen und der Wandel des religiösen Feldes seit den 1970er-Jahren werden in dem Buch - bis auf den Abschnitt über das neue Verhältnis von Glaube und Politik im Kontext der "Säkularisierungskrise" - weitgehend ausgeklammert. Dadurch kann jedoch der Zusammenhang der Diskurse der christlichen Friedensbewegung mit den Transformationsprozessen des Religiösen oder dem Wandel kirchlicher Sozialformen, zu denen inzwischen ebenfalls umfangreiche Forschungsliteratur vorliegt [2], nicht hinreichend erfasst werden. Im Hinblick darauf stellte auch die innerkirchliche Stellung der untersuchten Akteure, die vielfach von massiven Konflikten - wie beispielsweise zwischen dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend oder seinen Mitgliedsverbänden und der Deutschen Bischofskonferenz - geprägt war, einen wesentlichen Faktor dar, der nicht ohne Einfluss auf das Engagement dieser Akteure in der Friedensbewegung blieb.
Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen leistet die gründlich recherchierte, detail- und kenntnisreiche, verständlich geschriebene Studie von Wiechmann einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Umbruchprozesse der 1970er- und 1980er-Jahre im Kontext der Entwicklung der neuen sozialen Bewegungen und zur Vertiefung des zeithistorischen Kenntnisstandes im Hinblick auf den mentalen, kulturellen und auch politischen Wandel in dieser Periode.
Anmerkungen:
[1] Vgl. beispielsweise Jürgen Mittag / Helke Stadtland (Hgg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen 2014.
[2] Vgl. exemplarisch Wilhelm Damberg (Hg.): Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, Essen 2011; im Zusammenhang mit neuen sozialen Bewegungen Wilhelm Damberg / Traugott Jähnichen (Hgg.): Neue Soziale Bewegungen als Herausforderung sozialkirchlichen Handelns, Stuttgart 2015.
Dimitrij Owetschkin