Rezension über:

Pierre Rosenberg: Le Massacre des Innocents. Poussin, Picasso, Bacon, Paris: Flammarion 2017, 192 S., 180 Abb., ISBN 978-2-0814-1237-8, EUR 45,00
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Rezension von:
Henry Keazor
Institut für Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Henry Keazor: Rezension von: Pierre Rosenberg: Le Massacre des Innocents. Poussin, Picasso, Bacon, Paris: Flammarion 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 7/8 [15.07.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/07/31802.html


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Pierre Rosenberg: Le Massacre des Innocents

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Um das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts herum verlegten sich einzelne Museen darauf, Ausstellungen zu organisieren, bei denen Meister der Frühen Neuzeit zusammen mit Malern der Moderne präsentiert wurden [1]: So kombinierte die Galleria Borghese in Rom zwischen Oktober 2009 und Januar 2010 die Caravaggio-Gemälde aus ihrem Besitz (angereichert durch ebenfalls zum Bestand gehörige einzelne Bilder Raffaels und Tizians) mit eigens ausgeliehenen Werken Francis Bacons. Ein Jahr später, zwischen Juni und September 2011, stellte die in London ansässige Dulwich Picture Gallery dann sowohl aus der eigenen Sammlung stammende wie geliehene Gemälde Nicolas Poussins den Schöpfungen Cy Twomblys gegenüber. Die entsprechenden Ausstellungen wurden jedes Mal kontrovers diskutiert und höchst unterschiedlich beurteilt. So sah eine Fraktion in solchen Zusammenstellungen nur ein auf möglichst hohe Besucherzahlen schielendes Kalkül: Jenseits des Werbe-Effekts eines "Zwei zum Preis von eins"-Angebots würden so üblicherweise nicht gerade Interessentinnen und Interessenten der Moderne anziehende Institutionen wie die Galleria Borghese oder die Dulwich Picture Gallery lediglich versuchen, sich durch solche als fragwürdig anzusehenden Projekte ein neues Publikum zu erobern. [2] Die andere Fraktion sah in solchen Projekten hingegen mutige Experimente, die dazu angetan waren, die Blicke auf die beteiligten Künstler im Aufeinanderprall von Extremen aufzufrischen, indem neben den erwartbaren Unterschieden auch überraschende Parallelen und Einsichten zutage treten würden [3] - ganz gleich, ob solche "Dialoge" nun durch belegte und bewusste Bezugnahmen der modernen Künstler (wie im Falle Twomblys) legitimiert seien oder (wie im Falle Bacons) nicht.

Die neun Jahre nach der Borghese-Schau zwischen September 2017 und Januar 2018 in der Salle du Jeu de Paume auf dem Anwesen des Schlosses von Chantilly gezeigte Ausstellung "Poussin - Le Massacre des Innocents - Picasso, Bacon", welche der hier zu besprechende Katalog begleitet, gehört nun zum ersteren Typus, denn von Pablo Picasso wie Francis Bacon ist bekannt, dass sie sich sehr reflektiert immer wieder mit den Werken Nicolas Poussins auseinandergesetzt haben. Wie es schon die Struktur des die einander entgegengesetzten Namen von "Poussin" auf der einen und "Picasso, Bacon" auf der anderen Seite durch die Brücke des Bildtitels verbindenden Ausstellungs- und Katalogtitels suggeriert, fungiert als spezifisches Tertium comparationis das von Poussin gemalte, heute im Musée Condé von Chantilly aufbewahrte Werk "Le Massacre des Innocents", auf das sich Picasso wie Bacon in je unterschiedlicher Weise bezogen: Während Picasso für seine eigenen Werke (wie insbesondere sein berühmtes Gemälde "Guernica" von 1937) immer wieder thematische und gestische Motive des "Kindermord"-Bildes adaptierte, war es für Bacon insbesondere der zum Schrei aufgerissene Mund der Mutter im Vordergrund des Gemäldes (ihm zufolge "probably the best human cry ever painted" [4]), der ihn faszinierte und den er in immer neuen Varianten (dabei angereichert durch Rekurse auf den gleichfalls schreienden Mund einer Darstellerin aus Sergei Eisensteins Film "Panzerkreuzer Potemkin" von 1925) interpretierte. In seinem Gemälde "Painting" von 1950 [Leeds, City Art Gallery] nimmt sich Bacon gleichwohl - im Katalog übersehen - auch gestische Elemente zum Vorbild. In ihrem Katalogbeitrag "Poussin, Picasso, Bacon. Sur-réalité du 'Massacre des Innocents'" zeichnet Émilie Bouvard, Konservatorin am Pariser Musée Picasso, solche Bezüge nach und verdichtet diese zusätzlich durch weitere Zusammenhänge: Nicht nur, dass sich schon der junge Bacon in seinem (später von ihm verleugneten) Frühwerk auf Picasso bezog. Zusätzlich verbinden sich die beiden modernen Künstler - jenseits ihrer Bezugnahmen auf Poussin - auch dadurch miteinander, dass sie eine Zeitlang beide dem Surrealismus nahestanden, in dessen Kontext Poussins Gemälde 1936 auch eine Rolle spielte. Die Autorin sieht darin ein Zeichen dafür, dass die Künstler des 20. Jahrhunderts in dem Werk auch durchaus moderne, "sur-reale" Züge entdeckten, die laut Bouvard bedingt seien durch die "étrangeté [...] de sa scène resserrée, l'intensité dramatique du cri, le caractère hallucinant et inouï de la bouche ouverte" (137), was zu dem Eindruck des Bildes als "dense, resserré, dramatique, paroxystique" (142) führe.

Überschrift und Thematik von Ausstellung wie Katalog zum Trotz ist Bouvards Beitrag leider der einzige, der sich mit dem durch den Titel "Poussin - Le Massacre des Innocents - Picasso Bacon" suggerierten 'Trialog' auseinandersetzt, denn die sonstigen Artikel des Bandes behandeln fast ausschließlich Poussins Gemälde: Der frühere Direktor des Louvre und Doyen der Poussin-Forschung Pierre Rosenberg bietet zum Auftakt auf 44 Seiten eine ebenso fundierte wie erhellende monografische Studie zu den Entstehungsbedingungen, dem Aufhängungsort, den Rezeptionsbedingungen und -zeugnissen sowie zur Provenienz des Gemäldes und zu dessen visuellen Quellen. Nicole Garnier-Pelle, Konservatorin am Musée Condé, vertieft in ihrem Beitrag zu Henri d'Orléans, Herzog von Aumale, dem Begründer der auf seinem Schloss Chantilly aufbewahrten und heute ebendort im Musée Condé gezeigten Kunstsammlung, die sammlungsgeschichtlichen Kontexte von Poussins Gemälde. Natacha Pernac, Studiendirektorin an der École du Louvre und Maître de conférences an der Université Paris-Nanterre, hat eine äußerst verdienstvolle Studie zur Entwicklung des Kindermord-Themas in der Bildenden Kunst von den Anfängen bis in das 16. Jahrhundert vorgelegt. Zwischen diese Artikel geschaltet sind kurze und in ihrer (sonst im Katalog für die Bildunterschriften genutzten) Rational-Typografie an maschinengeschriebene Manuskripte erinnernde Texte, in denen Fragonards zeichnerische Auseinandersetzung mit Poussins Gemälde sowie die technischen Ergebnisse von dessen Restaurierung erörtert werden.

So gewinnbringend all dies in Bezug auf Poussins Gemälde ist, so sehr drängt es doch zugleich die so prominent im Titel firmierenden Picasso und Bacon in bloße Nebenrollen hinein. So wurde auch in der Ausstellung tatsächlich nur je ein Werk Picassos ("Le Charnier" von 1944/45) und Bacons ("Head II" von 1949) gezeigt. Breiterer Raum wurde den Arbeiten elf zeitgenössischer europäischer Künstlerinnen und Künstler gegeben, die sich dezidiert mit Poussins Bild auseinandersetzten und mit denen insbesondere die bereits erwähnte Émilie Bouvard jeweils kurze Gespräche führte. Deren Abdruck begleitet die in alphabetischer Reihenfolge der Namen angeordneten Abbildungen ihrer Werke, mit denen der Katalog schließt. [5] Es wäre angesichts dieser Konzeption vielleicht konsequenter gewesen, dem Namen und dem Werktitel Poussins nicht die beiden (zugegebenermaßen natürlich als Zugpferde sehr wirksamen) Maler Picasso und Bacon gegenüberzustellen und stattdessen eine Formulierung wie "Parti pris: Poussin - Le Massacre des Innocents et 11 artistes contemporains" zu wählen.


Anmerkungen:

[1] Zur Vorgeschichte siehe zum Beispiel Rachel Spence: "A contest between Bacon and Caravaggio", in: The Financial Times, 16.10.2009, online unter https://www.ft.com/content/e0cb4e1e-b9e3-11de-a747-00144feab49a (letzter Zugriff: 12.6.2019; kostenpflichtig).

[2] Siehe zum Beispiel Fabrizio Federici: "Caravaggio Bacon", in: Osservatore Mostre e Musei (Scuola Normale Superiore di Pisa), online unter: http://mostreemusei.sns.it/index.php?page=_layout_mostra&id=630&lang=it (letzter Zugriff: 12.6.2019); Richard Dorment: "Cy Twombly and Poussin: Arcadian Painters, Dulwich Picture Gallery, review", in: The Daily Telegraph, 19.7.2011, online unter: https://www.telegraph.co.uk/culture/art/art-reviews/8646079/Cy-Twombly-and-Poussin-Arcadian-Painters-Dulwich-Picture-Gallery-review.html (letzter Zugriff: 12.6.2019).

[3] Siehe hier zum Beispiel Eva Claussen: "Das Gesicht der menschlichen Pein", in: NZZ, 23.10.2009, online unter https://www.nzz.ch/das_gesicht_der_menschlichen_pein-1.3909897 (letzter Zugriff: 12.6.2019); Adrian Hamilton: "Twombly and Poussin: Every picture tells a story", in: The Independent, 5.7.2011, online unter https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/art/features/twombly-and-poussin-every-picture-tells-a-story-2306950.html (letzter Zugriff: 12.6.2019).

[4] Michael Peppiatt: Francis Bacon: Anatomy of an Enigma, London 2008, 42.

[5] Lediglich der während der Ausstellungsvorbereitungen verstorbene Henri Cueco ist mit einem eigenen Text vertreten; zu dem bereits 2011 verstorbenen Jacques Grinberg hat Émilie Bouvard einen kurzen Text verfasst.

Henry Keazor