Riccardo Bavaj / Martina Steber (Hgg.): Zivilisatorische Verortungen. Der "Westen" an der Jahrhundertwende (1880-1930) (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 26), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, 162 S., ISBN 978-3-11-052678-3, EUR 16,95
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Riccardo Bavaj / Martina Steber (eds.): Germany and 'The West'. The History of a Modern Concept, New York / Oxford: Berghahn Books 2015
Martina Steber: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Martina Steber / Bernhard Gotto (eds.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford: Oxford University Press 2014
"Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, / ist es besser, viel besser als man glaubt", sang einst Herbert Grönemeyer. Erst wenn man Bochum in der Mitte des Ruhrgebiets, also quasi im Zentrum des hier vorgestellten Westens begreift, gewinnt diese vorgeblich geografische Situierung an Sinn. Denn es ist leicht zu erkennen, dass auch Grönemeyers Westen eine Wertegemeinschaft als emotionale Heimat und idealisiertes gelobtes Land bezeichnet, dessen eigentliches normatives Zentrum eben "die Blume im Revier" ist. Jeder Versuch, diese Werthaltigkeit zu bestimmen, bleibt zwangsläufig unpräzise und appelliert eher an eine vorgestellte gemeinsame Identität als an substanzielle Realien.
Nicht viel besser ergeht es den Ideenhistorikern des Westens, deren Untersuchungsgegenstand schwer zu fassen bleibt. Zwar ist die "Westernisierung" als Prozessbegriff zeitweise forschungsprogrammatisch gewesen und die "Verwestlichung" galt als unaufhaltsamer Fortschritt, aber dieses einst fast schon hegelianische Vertrauen in die Universalisierung westlicher Werte ist mittlerweile nachhaltig erschüttert. Zuletzt hat Heinrich August Winkler eine großangelegte Geschichte des Westens vorgelegt, die er just in dem Moment abschloss, als sich die Frage nach seinem Zerfall stellte: transatlantische Zerwürfnisse, Krise der EU, Vormarsch des Populismus - diese Szenarien wecken das Bedürfnis nach westlicher Selbstvergewisserung. Was ist übrig geblieben von der atlantischen Zivilisation und der Vision einer globalisierten Verwestlichung? Diese Fragen stellen sich mit neuer Dringlichkeit, wenn das normative Projekt des Westens in Bedrängnis gerät.
Da kommt ein schmaler, aber gehaltvoller Band recht, um die formativen Diskurse zur Genese des Westens an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in den Blick zu nehmen. Die Herausgeber Riccardo Bavaj und Martina Steber betonen in ihrer instruktiven Einleitung mit guten Gründen, sich auf die semantische Ebene und auf Begriffsstrategien zu konzentrieren. Der Westen changierte von jeher "zwischen Verheißungs- und Abschottungsbegriff" (24). Nicht das, was der Westen gewesen sein könnte oder was seine vermeintlich Substanz ausmachte, steht zur Disposition, sondern die mit ihm verbunden Hoffnungen, Werte, aber auch Feindbilder sind zu historisieren. Richtig bleibt auch die Beobachtung, dass der Begriff des Westens stets in Krisenlagen auf den Plan tritt und dann zur umkämpften kulturellen Identitätsressource wird. Er braucht ein abgrenzbares Gegenüber, seien es die autoritären Mittelmächte im Ersten Weltkrieg oder der Ostblock im Kalten Krieg, dessen Dauer von mehr als vier Jahrzehnten die stabilste Phase eines westlichen Selbstentwurfs hervorbrachte.
Die ganze Ambivalenz des Westens als "elastisches Sinnkonstrukt" hat der Historiker Jürgen Osterhammel einmal daran festgemacht, dass der "Wilde Westen" die unzivilisierte Seite des amerikanischen Kontinents bezeichnete, während der kulturelle Westen der USA in ihrem geografischen Osten lag. [1] Der Westen war als kulturelles Konstrukt stets Bestandteil eines ganzen Ensembles von Begriffen, die einander ergänzten oder überlagerten: Europa, Moderne, Zivilisation oder Abendland zählten dazu. Die Beiträge von Christian Methfessel und Silke Mende machen deutlich, dass Gewichtsverschiebungen in der internationalen Bündnispolitik - etwa die Annäherung zwischen Großbritannien und Frankreich, verbunden mit Titulatur "westliche Mächte" - ebenso eine Rolle spielten wie die moralische Überhöhung der Kolonialpolitik als zivilisatorische Mission. Das eigentümliche Spannungsverhältnis, das aus der Missachtung eigener normativer Grundsätze im Rahmen imperialer Expansion entstand, bildet auch den Fokus der Beiträge von Jakob Lehne und Florian Wagner. Lehne situiert das Jahr 1899 als Wendepunkt der internationalen Zivilisationsrhetorik, als nicht zuletzt die sozialistischen, sozialdemokratischen und linksliberalen Gegner des Kolonialismus durch ihre Kritik an brutal geführten Kolonialkriegen in China und Südafrika Zweifel an der Überlegenheit des Westens nährten. Wagner kann hingegen plausibel nachzeichnen, dass die führenden deutschen Eliten ihre imperialen Ansprüche auch nach der Weltkriegsniederlage unter Verweis auf eine Mission des Westens artikulierten.
Die gespaltene Haltung deutscher Intellektueller im Ersten Weltkrieg führt Peter Hoeres überzeugend vor. So wollte Ernst Troeltsch abseits der Gegenüberstellung von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation die "Zurückgebliebenheit unserer politischen Entwicklung und Erziehung hinter der des Westens" aufholen (91). Überhaupt empfand man sich weiterhin als Teil des Westens, selbst wenn führende Linksliberale wie L.T. Hobhouse und John Dewey ihre geistigen Kriegsanstrengungen darauf abstellten, den Deutschen diese Zugehörigkeit zu verweigern. Einen nüchternen und desillusionierten Ton schlug der Philosoph Bertrand Russel an (und stand damit ziemlich allein): "This war is trivial, for all its vastness. No great principle is at stake, no great human purpose is involved on either side." (95)
Um die kontroverse Bezüge zum Diskurs über den Westen herauszuarbeiten, eignet sich Russland in eminenter Weise. Während das zaristische Russland selbst häufig als Gegenbild westlicher Moderne herhalten musste, waren dort die Westler langer im Aufwind. Ein breiter Konsens trug dort die Befürworter der Reformpolitik, wie Benjamin Beuerle in seiner konzisen Untersuchung zeigt. Ohne den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hätte sich der Weg zur Liberalisierung wahrscheinlich fortgesetzt. Daniel Luks Blick auf die Eurasierbewegung im russischen Exil führt hingegen noch einmal die doppelte Frontstellung antiwestlicher Intellektueller vor Augen. Neben dem Sowjetkommunismus waren es die ausgreifenden Phantasien russischer Nationalisten gegen den Westen. Sie träumten (zumeist im westlichen Ausland) von einer Ideokratie des eurasischen Imperiums. Diese russische "Konservative Revolution" der Zwischenkriegszeit erlebt bekanntlich in der Putin-Ära eine erschreckende Renaissance, und ein solches Ideen-Comeback wird mittlerweile aufgearbeitet. [2]
Der Blick auf die Blüte des Westens, den die Beiträge von Florian Greiner zu den Hoffnungen der Zwischenkriegszeit und von Katja Naumann zu den Western-Civilization-Kursen als politische Erziehung thematisieren, rundet den gelungenen Band ab.
Christian Geulens kluger Schlusskommentar wirft die Frage auf, inwiefern Historiker sich bei der Thematisierung des Westens auf Diskursgeschichte beschränken dürfen. So bleibt zu hoffen, dass die unterschiedlichen Konzepte des Westens künftig auch inhaltlich genauer analysiert werden. Zudem fehlt die globale Perspektive, insbesondere auf Asien, denn es ließe sich doch argumentieren, dass gerade in Japan Europa und der Westen schon zur vorletzten Jahrhundertwende zivilisatorische Bezugsgrößen gewesen sind. Womöglich kommt man nicht darum herum, Kapitalismus, Rechtsstaat, Demokratie und Säkularismus als Elemente westlicher Identität zu problematisieren. Es ist das Verdienst des vorliegenden Bandes, zur kritischen Reflexion über die Gegenwart und Zukunft des Westens anzuregen, ohne sich voreilig auf einen postkolonialen Standpunkt zurückzuziehen.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Osterhammel: Was war und ist der Westen? Zur Mehrdeutigkeit eines Konfrontationsbegriffs, in: Ders. (Hg.): Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017, 101-114, hier 105.
[2] Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Amerika und Europa, München 2018.
Jens Hacke